Peter Tepe

Theaterzeitung des Düsseldorfer Schauspielhauses 6. Akt März

Mythos heute

Ein halb-fiktives Gespräch mit Peter Tepe

Autor Unbekannt

Herr Tepe, Sie als Mythos-Fachmann werden sicher oft danach gefragt, was uns der Mythos heute noch zu sagen hat?

Gewiß.

Und Ihre Antwort?

Ich mache zunächst darauf aufmerksam, daß es verfehlt wäre, eine „einfache“ Antwort zu erwarten, da sich hinter dieser Frage eigentlich mehrere Fragen verbergen.

Wieso? „Was hat uns der Mythos heute noch zu sagen?“ – das ist doch eine einfache Frage.

Ist sie nicht. Denn unter „Mythos“ kann ganz Unterschiedliches verstanden werden.

Was denn z.B.?

Erstens können Mythen gemeint sein, „alte“ Geschichten von Göttern und Heroen; die griechischen Mythen sind nach wie vor am bekanntesten. Zweitens kann das mythische Denken gemeint sein, eine „alte“ Form des Denkens, für die die Natur, die Psyche und das soziale Leben Schauplätze numinos-göttlichen Einflusses sind. Drittens wird der Ausdruck Mythos häufig auf „neue“ Phänomene, z.B. der Politik und der populären Kultur, bezogen. Man spricht vom Mythos Mao, bezeichnet Humphrey Bogart als Kinomythos usw. Viertens stoßen wir dabei oft auf eine kritische Verwendung des Mythosbegriffs: „Das ist doch (nur) ein Mythos“. Fünftens …

Das reicht erstmal. Und was folgern Sie daraus für die Frage „Was hat uns der Mythos heute noch zu sagen?“

Ich folgere daraus, daß diese Frage für jede der aufgeführten Bedeutungen, und die Liste ließe sich noch erheblich erweitern, gesondert gestellt und beantwortet werden müßte.

Was haben uns denn die „alten“ Geschichten, zum Beispiel die aus der Griechischen Mythologie heute noch zu sagen?

Ich würde jetzt ungern auf einzelne Mythen eingehen, in denen Gestalten wie Zeus, Athene, Prometheus, Herakles auftreten – dann würden wir nie zu einem Ende gelangen. Ich gebe nur einen Grund dafür an, weshalb diese Gestalten und diese Geschichten für uns weiterhin bedeutsam sein können.

Und der wäre?

Nun, „alte“ Geschichten können sozusagen als Projektionsflächen dienen. Wir können Mythen als Material nutzen, um unsere eigene und zeitgebundene Sicht der Dinge auszudrücken. Jede Position ist in der Lage, sich die für sie geeigneten Mythen auszuwählen und diese in einer „passenden“ Weise neu zu formen. So wird z.B. aus Prometheus hier eine Symbolfigur des Zivilisationsoptimismus, dort eine des Zivilisationspessimismus.

Und der Prometheus-Mythos hat uns so immer etwas zu sagen …

Aber das, was er uns sagt, hängt davon ab, von welcher Position aus er bearbeitet worden ist.

Was können wir heute noch mit dem mythischen Denken anfangen?

Da weichen die Einschätzungen erheblich voneinander ab. Während die „religiös“ Eingestellten von der „Wahrheit“ bestimmter Elemente dieses Denkens überzeugt sind, neigen die „profan“ Eingestellten, zu denen ich gehöre, dazu, den Erkenntniswert des mythischen Denkens grundsätzlich zu bestreiten und die zugehörigen Vorstellungen auf Projektionen zurückzuführen.

Sie behaupten also, daß mythische Vorstellungen für die Erkenntnis eher schädlich sind.

Genau. Ich meine, daß wir uns dort, wo es um Erkenntnis geht, von allen mythischen Vorstellungen trennen müssen. Auf der anderen Seite räume ich jedoch ein, daß solche Vorstellungen für die Lebenspraxis durchaus nützlich sein können.

Wie kann das, was erkenntnismäßig schädlich ist, dennoch für das Leben nützlich sein?

Ich kann das hier nicht im einzelnen ausführen und gebe nur die Richtung an: Wir können es lernen, mythische Vorstellungen sozusagen als „Symbole“ ohne Erkenntnisanspruch aufzufassen, insbesondere als sinnlichen Ausdruck unserer Wertüberzeugungen. Solche „Symbole“ können als Wert-Verstärker eine wichtige Rolle spielen.

Macht es Sinn, den Ausdruck „Mythos“ auf neue Phänomene, z.B. der Politik und der populären Kultur, zu beziehen?

In einigen Fällen kann darauf durchaus verzichtet werden. Wenn z.B. Bogart als Kinomythos bezeichnet wird, so ist häufig nur gemeint: „Bogart ist als Verkörperung eines bestimmten Männertyps ins allgemeine Bewußtsein eingegangen“.

Wenn gesagt wird, Mao oder Kennedy sei zum Mythos geworden, so scheint jedoch mehr im Spiel zu sein – oder?

Sie liegen richtig. Manchmal ist gemeint: „X hat eine Überhöhung erfahren, die sachlich nicht berechtigt ist“. Auf eine überhöhende Verklärung stoßen wir übrigens bereits im Kontext des „alten“ mythischen Denkens. Die hier wirksamen Mechanismen „arbeiten“ nach wie vor, sie führen jedoch unter modernen – oder auch postmodernen – Rahmenbedingungen zu „neuen“ Ergebnissen.

Kann man denn sagen, daß einige Formen modernen Denkens mit dem mythischen Denken verwandt sind?

Das ist sogar eine meiner Hauptthesen. Stark vorurteilsgeprägte „neuere“ Denkweisen, z. B. des Nationalsozialismus, beruhen auf denselben Mechanismen der Illusionsbildung, die auch das „alte“ mythische Denken prägen. Wir können diese „Ideologien“ auch als Quasi-Mythen der Moderne bezeichnen. Jede Position kann übrigens von Quasi-Mythen „befallen“ werden, die es dann aufzudecken gilt.

Herr Tepe, der äußere Anlaß dieses Gesprächs ist die aktuelle Inszenierung von Euripides’ „Phönizierinnen“. Hier haben sich nämlich auch einige Mythos-Fragen ergeben.

Verzeihen Sie, aber es wäre vermessen, wollte ich mich gewissermaßen aus dem Stand und ohne genaue Textkenntnis über das Stück äußern. Das hätten Sie vorher sagen sollen.

Gut, gut. Aber unsere Fragen haben auch eine allgemeine Dimension, und auf diese können Sie sich ja beziehen. Zur Sache: Inwieweit sind Mythos und kritische Rationalität (bei Euripides) einander entgegengesetzt?

Wenn ich Euripides ausklammern darf, würde ich allgemein sagen, daß eine kritische Rationalität, die sich am Erfahrungswissen orientiert, die Tendenz hat, ein geglaubtes mythisches Weltbild aufzulösen und die vorgebrachten „übernatürlichen“ Erklärungen durch „natürliche“ zu ersetzen.

Kann der dem Mythos verpflichtete Chor der griechischen Tragödie als kollektives Moment einer alten Ordnung betrachtet werden, aus der sich die Individuen langsam herauszuschälen suchen?

Durchaus. Die Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides können wir insgesamt einer Entwicklungsphase zuordnen, in der sich das „alte“ und ungebrochene mythische Denken umorganisiert und teilweise auch auflöst. Für dieses „alte“ Denken ist der Mensch als Individuum eigentlich nichts – er ist Element eines numinos-göttlich durchwirkten Geschlechtsverbandes. Veränderungen des Wertsystems ziehen Konflikte zwischen Individuum und Kollektiv nach sich, und der Chor der Tragödie repräsentiert wohl in der Regel die Position der „alten Ordnung“. Weiter will ich mich nicht vorwagen, denn ich bin kein Spezialist für die griechische Tragödie.

Der letzten Frage werden Sie sicher ganz ausweichen, denn sie bezieht sich direkt auf die „Phönizierinnen“. Sehen Sie den – vom Chor begrüßten – Opfertod von Kreons Sohn „positv“ als altruistisches Verhalten oder „negativ“ als totalitäres Moment des Mythos?

Wie bereits gesagt: zum Stück möchte ich mich ohne gründliches Textstudium nicht äußern. Ich kann aber eine allgemeine Anmerkung machen. Man könnte sich natürlich an die Euripidesforschung wenden, um herauszufinden, welche Deutung des fraglichen Opfers mit den verfügbaren Informationen (z.B. auch über Euripides’ Weltauffassung) bislang am besten im Einklang steht. Für eine Inszenierung des Stücks sind solche Auskünfte jedoch nicht unbedingt maßgebend, denn es ist völlig legitim, eine pointierte Interpretation des Stücks vorzunehmen, was in der Wissenschaft fragwürdig ist.

Damit sind wir eigentlich wieder bei der ersten Frage angelangt.

In der Tat. Das, was uns Euripides’ Stück heute sagt, hängt davon ab, von welcher Position aus es bearbeitet wird. Und der Opfertod von Kreons Sohn Menoikeus erfährt – je nach Ausrichtung der aktualisierenden Umdeutung – eine „positive“ oder eine „negative“ Ausdeutung. Damit ist über die künstlerische Qualität einer solchen Lesart natürlich noch nichts gesagt.

Mit diesem Problem können wir uns heute leider nicht mehr befassen. Herr Tepe, ich danke… Ja bitte?

Es ist mir etwas peinlich, aber ich würde gern noch auf zwei Mythosbücher hinweisen, die ich zusammen mit dem Kindertheatermacher Helge May geschrieben habe und die sich an eine breitere Öffentlichkeit wenden: P. Tepe, H. May: Mythisches, Allzumythisches. Band 1: Theater um alte und neue Mythen. Band II: Abenteuer um alte und neue Mythen. Melina-Verlag 1995/96. Einzeln: 26,80 DM, zusammen: 49,90 DM.

Also, Werbung war eigentlich nicht vorgesehen.

Na, nun ist es eben passiert.