Peter Tepe

Süddeutsche Zeitung Nr.16 vom 20./21. Januar 1996, S.49

Die Brauchbarkeit des Mythos

Fröhliche Wissenschaft oder Infotainment? Eine theatralische Vorlesung belebt die Mythostheorie

von Solvejg Müller

Der Hörsaal liegt im Dunkeln. Dreihundert Studenten haben Platz genommen. Ein Spot leuchtet auf: Zwei Ratten springen auf die Bühne, eine Kröte und ein Igel gesellen sich dazu. Im Jahr eins nach der Katastrophe haben sich die feisten Ratten in den Besitz sämtlicher Futtersäcke gebracht. Nun zwingen sie Kröte und Igel, für Kost und Logis Geschichten zu erzählen – Scheherezade läßt grüßen. So begann vor drei Semestern eine Vorlesungsreihe zur Mythostheorie an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. Im „Interdisziplinären Studien- und Forschungsschwerpunkt Mythos/-Ideologie“ werden neue Lehrformen erprobt.

Der Professor ist die Kröte, studentische Mitarbeiter sind die Ratten, ein Musical-Autor und zahlreiche Künstlergäste bilden das Personal, das im Hörsaal erzählt, singt, tanzt, spielt, in Klanginstallationen überführt, reflektiert und schließlich sich selbst bei alledem ironisiert. Wie in der wöchentlichen Multimedia-Show fröhliche Wissenschaft betrieben wurde, läßt sich jetzt in dem Band „Mythisches, Allzumythisches“ (Melina Verlag, Ratingen 1995, 26,80 Mark) nachlesen. Die theoretischen Passagen hat der Düsseldorfer Philosophie- und Germanistikprofessor Peter Tepe verfaßt; Rahmenhandlung, Dialoge und Regie stammen von dem Kindermusical-Autor und Regisseur Helge May. Studentische Mitarbeiter haben das Projekt mitgestaltet.

Infotainment? Postmoderner Spaß? Studenten, die man nicht intellektuell überstrapazieren darf? Peter Tepes Ansatz einer „integralen Mythostheorie“ betont die Funktion der Mythen für die praktische Lebensbewältigung. Dazu werden in der Vorlesungsreihe etwa 30 Mythen aus unterschiedlichsten Bereichen inszeniert: antike Göttergeschichten, australische Legenden, Medienmythen wie Humphrey Bogart und Kennedy. Auch Wilhelm Tell, Faust, Nietzsche und der Nikolaus dürfen nicht fehlen.

Zwischen den szenischen Darbietungen werden die Studenten in die Grundlagen der Mythosforschung eingeführt. Sie erarbeiten sich Definitionen der Begriffe „Mythos“ und „Mythologie“, versuchen eine Bestimmung des mythischen Bewußtseins und verschaffen sich einen Überblick über die unterschiedlichen Mythostheorien. Nach diesem Vorspann plädiert der Professor in kritischer Auseinandersetzung mit Kurt Hübners „Die Wahrheit des Mythos“ dafür, mythische und ideologische Vorstellungen dort zu kritisieren, wo sie mit Erkenntnisanspruch auftreten. Damit wendet er sich gegen alle aktuellen Tendenzen, im „Mythos“ allerletzte Wahrheiten zu sehen. Tepe wirbt für das Projekt einer „Transformation des Mythos“, für seine teilweise Aneignung durch das profane, weltliche Bewußtsein. Er interessiert sich für die Verwandlung der als Wertprojektionen erkannten Elemente des Mythos in „Wertsymbole“, die auch gegenwärtige Wertsysteme verstärken können. Der Germanist und Philosoph ruft zum „Standhalten“ im Nichts auf, dessen Leere wir nicht mit Illusionen füllen sollten. An dieser Stelle greifen Elemente der „Als-ob-Philosophie“ im Gefolge der Ethik Kants. Tepes Als-ob-Imperativ“ lautet: „Verhalte dich der Natur gegenüber, als ob sie sinn- und zweckerfüllt wäre, obwohl du davon überzeugt bist, daß das nicht zutrifft.“

Mit dieser Voraussetzung, so das zentrale Anliegen der Vorlesung, kann nun jeder mythische oder religiöse Satz in einen „Als-ob-Satz“ und damit in einen „fiktionalen Mythos“ verwandelt und auf dessen praktische Tauglichkeit in der Gegenwart überprüft werden. Am Beispiel von Heinrich Heines Umgang mit Mythen wird deutlich, worin die Funktion der als Fiktion erkannten Mythen besteht: Der junge Heine beschwört die Rückkehr der griechischen Götter, die sinnen-froh und unbeschwert als Wertverstärker einer sensualistischen Haltung zu verstehen sind. Der Bettlägerige bedarf dann auf einmal des Gottes der Leidenden, des christlichen Gottes. Nun hat er selbst die heidnischen Götter ins Exil geschickt, um ein Symbolsystem für sein eigenes Leiden zu haben.

Ideologiekritik, ein wichtiges Thema der siebziger Jahre, gewinnt im Zusammenhang mit zahlreichen Remythisierungstendenzen der Gegenwart (wie zum Beispiel im Bereich des New Age) an Aktualität. Und das Plädoyer für einen fiktionalen Polytheismus, für ein Verwenden unterschiedlichster mythischer Motive, um den jeweiligen Existenzstil zu verdichten, ist ein Aufruf zu der Lebenskunst, „im Gleichnis zu leben, ohne ihm zu verfallen“. So ist die theatralische Vorlesungsform auch ein Gleichnis, ein witziges, ironisches, die das Düsseldorfer Team in seinen folgenden Lehrprojekten noch weiterentwickelt hat.