Detlef Hammel

2. Die Entwicklung von Todesvorstellungen und das Erleben des Todes bei Kindern

Vorstellungen von Tod und Sterben sind nicht bei allen Kindern gleich. Sie können von vielen Faktoren, zum Beispiel von der Einstellung der Eltern, von persönlichen Erfahrungen, von der Zugehörigkeit zur sozialen Schicht, vom Lebensalter und von der aktuellen medizinischen Situation, in der sich ein Kind befindet Gesundheit oder lebensbedrohliche Erkrankung, abhängen. Wissenschaftliche Untersuchungen, die das Erleben des Todes bei Kindern zum Thema haben, berücksichtigen die Determinanten der kindlichen Todesvorstellungen auf unterschiedliche Weise. Im Vordergrund steht die Zuordnung der Todesvorstellungen zum jeweiligen Lebensalter, wobei wie erwähnt zwischen kognitiven und emotional orientierten Sichtweisen unterschieden werden kann.

Im folgenden sollen kognitionspsychologische, psychoanalytische und psychosoziale Ansätze diskutiert werden. Dabei wird deren Relevanz für die Kommunikation und Interaktion mit sterbenden Kindern angesprochen.

2.1 Die emotionale Dimension der Entwicklung von Todeskonzepten aus psychoanalytischer Sicht

2.1.1 Todestrieb und Todesangst

Die psychoanalytische Forschung betrachtet die Todeskonzepte [Der Begriff des Todeskonzepts (vgl. WITTKOWSKI 1983, 520) soll sich in der vorliegenden Arbeit nicht nur auf kognitive Bewusstseinsinhalte beziehen, sondern er wird um seine emotionale und psychosoziale Dimension erweitert. Das Todeskonzept kennzeichnet das "ganze" Verhältnis eines Menschen zu Tod und Sterben in einem beliebigen Lebensabschnitt.] von Kindern und Jugendlichen als Resultat ihrer psychosexuellen Entwicklung. Im Laufe dieser Entwicklung verändert sich die kindliche Einstellung zu den Eltern und zur Welt. Die symbiotische Beziehung zur Mutter muss allmählich einer eigenverantwortlichen, unabhängigen Lebensposition weichen. Das bestimmende Element dieser Entwicklung sind die Triebe, die nach Sigmund FREUD als Lebenstriebe und Todestriebe einander entgegengesetzte Regungen bewirken (vgl. BÜRGIN 1978, 38). Die Lebenstriebe, die ihre Energie aus der Libido, der psychischen Form sexueller Energie (vgl. FREUD 1961, 86 ff.) beziehen, sorgen normalerweise mit den Todestrieben für eine ausgeglichene Entwicklung im Kindesalter. Die Todestriebe gewinnen dann lebensbedrohliche Züge, wenn traumatische, angsteinflößende Erlebnisse das Leben des Kindes erschüttern. Von besonderem Interesse für die Genese der Todesvorstellungen ist deshalb die Todesangst, durch die der Todestrieb das Erleben der Kinder beeinflusst.

Zur Entstehung der Todesangst gibt es unterschiedliche Hypothesen. Einerseits wird sie als genuin menschliche Angst verstanden, von der alle anderen Angstformen abgeleitet sind (vgl. KLEIN 1962, 130), während sie andererseits als Sekundärphänomen interpretiert wird (vgl. FUCHS 2. Auflage 1979, 127; STERN 1957, 106). "Freud fasst die Todesangst als Analogon der Kastrationsangst auf, weil es im Zuge der Überwindung der Ödipuskrise zur Verinnerlichung der Gebote und Verbote der Eltern in der kindlichen Psyche kommt" (LÖBSACK 2. Auflage 1984, 86 f.). Mit der Verinnerlichung der elterlichen Werte wandelt sich die Kastrationsangst, i.w.S. also die Angst vor der elterlichen Strafe, zur Gewissensangst. Die Gewissensangst repräsentiert die Angst vor der Ablehnung durch die Gesellschaft und durch Mächte, die mächtiger als die Eltern sind und das Leben regieren (vgl. FUCHS 1979, 128). Sie wandelt sich schließlich zur Angst vor dem Tod. "Damit wird Todesangst direkt verknüpft mit der Konstitution des Über-Ich, direkt verknüpft mit dem Wirkungsbeginn des Schuldgefühls und der Gewissensangst" (ebd. 128 f.)

Andere Autoren leiten die Todesangst von der Angst der frühen Kindheit ab, von der Mutter getrennt zu werden (vgl. ERIKSON 1981, 102), wobei diese Sichtweise nicht als Widerspruch zur These FREUDs verstanden werden muss. Die Psychoanalyse hat den Inhalt der Kastrationsangst später selber erweitert und die Trennungsangst hinzugerechnet (vgl. FUCHS 2. Auflage 1979, 129). Welchen Einfluss die Angst vor Tod und Sterben auf das Erleben des Todes bei Kindern haben kann, soll in der folgenden Zusammenstellung psychosexueller Entwicklungsphasen und kindlicher Sichtweisen verdeutlicht werden.

2.1.2 Psychosexuelle Entwicklung und Todeskonzept

Die orale Phase (vgl. FREUD 1961, 70) umfasst die ersten Lebensmonate und ist dadurch gekennzeichnet, dass die Säuglinge durch Mund und Lippen ihre ersten Erfahrungen mit der sozialen und gegenständlichen Umwelt machen. Dazu gehören lustvolle Begegnungen, zum Beispiel Nahrungsaufnahme, aber "... bei der Versagung von oralen Aktivitäten stellen sich auch orale Frustrationen ein" (OLBRICH 1982, 98). Auf dieser frühen Entwicklungsstufe teilt das Kind die Welt ein in gute Objekte, die essbar bzw. angenehm sind, und in böse Objekte, die das Kind ihrerseits zu verschlingen drohen (vgl. LÖBSACK 2. Auflage 1984, 93). "Wer frisst mich denn auf, wenn ich tot bin?" (ebd. 92) fragt sich zum Beispiel ein - allerdings dreijähriger - Junge, der beobachtete, wie ein Fisch im Aquarium einen anderen auffraß (nach KLINK).

Die Angst vor Vernichtung geht mit der Angst einher, von den guten Objekten, zum Beispiel der Mutterbrust, getrennt zu werden. "Tod bedeutet in diesem Moment Trennung und Verlust des Liebesobjektes" (BÜRGIN 1978, 42).

Die Trennung von der Mutter kann über kürzere Zeiträume hinweg verkraftet werden, doch ihr Fortbleiben führt auf Dauer unter Umständen zur Katastrophe. [Die Kinderpsychotherapeutin Marielene LEIST berichtet von Männern und Frauen, die als Kleinkinder ihre Eltern oder Elternteile verloren haben und die im Alter zum Teil lebensbedrohlich erkrankten. Sie sieht darin einen Zusammenhang und meint leider ohne die entsprechenden Erwartungen der Umwelt zu bedenken zu geben: "Der Tod der Mutter bei der Geburt wird bei dem betreffenden Kind unter Umständen wie eine persönliche Schuld erlebt" (LEIST 1982, 56). Anna FREUD, die von Kindern berichtet, die im Zweiten Weltkrieg von ihren Eltern getrennt wurden, schreibt: "Trennungen von der Familie werden in diesem Stadium besonders schwer empfunden" (FREUD/ BURLINGHAM 1971. 38). Sie gibt das Beispiel eines ein Jahr und sieben Monate alten Mädchens, das "... drei Tage lang mit tiefer Stimme 'Mam, Mam, Mam... ' vor sich hinsagte" (ebd. 38).] Andererseits ist die Bindung an die "eine" Mutter noch reversibel, so dass wie Adoptionen zeigen Stellvertreter/innen deren Platz ohne zwangsläufige Schäden für das Kind einnehmen können (vgl. FREUD/ BURLINGHAM 1971, 36).

In der analen Phase (vgl. FREUD 1961, 70), die das zweite und dritte Lebensjahr umfasst, lernt das Kind seine Körperfunktionen besser zu kontrollieren. "Wir können davon ausgehen, dass ein Baby körperliche Ausscheidungsvorgänge als lustbetont erlebt und gewahr wird, dass es dabei allein etwas 'produziert'" (OLBRICH 1982, 98). Dadurch, dass die Eltern die unkontrollierte Abgabe der Körperprodukte bestrafen, wird die Ausscheidung zu einem Konflikt- und Machtmittel. Das Kind kann die eigene Lust (Ausscheidung) den Wünschen der Eltern unterordnen oder sich gegen eine Bevormundung wahren.

Das Todeskonzept wird in dieser Altersstufe durch Allmachtsphantasien und gegensätzliche Gefühlsregungen bestimmt. Die Eltern werden zwar als Beschützer und als Quelle von Lust und Glück geliebt, aber "kein Kind kommt darum herum, gegenüber denjenigen Personen, die es sozialisieren, Eliminationswünsche zu empfinden" (BÜRGIN 1978, 80). Dadurch, dass die Verursacher von Frustrationen ermittelt werden können, werden Todeswünsche gegen Eltern und Geschwister wach. Der Lehrer Erich STERN berichtet zum Beispiel von einem Jungen (3 Jahre), der seiner Mutter beim Stillen der Schwester zusieht und sagt: "Ich schlage dir auf die Brust, damit du keine Milch mehr hast und das Schwesterchen verdursten muss" (STERN 1957, 78).

Der Gegensatz von "belebt" und "unbelebt" ist aber noch nicht erkannt und "Todeswünsche, die Kinder gegenüber Rivalen, zum Beispiel Geschwistern oder Mutter und Vater äußern, sind ein 'Weghabenwollen'" (RUDOLPH 1979, 12; Vgl. LEIST 3. Auflage 1982, 22; RAIMBAULT 1981, 68; STERN 1957, 95). Die meisten Kinder glauben in dieser Zeit an die magische Erfüllung all ihrer Wünsche/und es kann sein, "... dass ein Kind sich am Tod eines Menschen schuldig fühlt, zu dem es irgendwann einmal gesagt hat: 'Ich wollte, du wärst tot!'" (REED 1983, 33; Vgl. STERN 1957, 78f.; ebd. 157 f.).

Unter der Prämisse, dass Totsein in Analogie zu bekannten Phänomenen verstanden wird, "... z.B. zu Schlaf, Trennung, dem Fehlen einer bekannten Funktion oder Erfahrungen wie Einschränkung der Bewegung oder der Nahrungszufuhr" (BÜRGIN 1978, 49), lassen sich dem Todeskonzept der analen Phase vier Elemente zuordnen (vgl. LÖBSACK 1984, 97). Es dominieren die Wünsche, andere zu überwinden (die anderen sollen die Schwächeren sein) oder zu töten (die anderen sollen weg sein). Damit verbunden treten Schuldgefühle auf, die sich bis zur Todesangst steigern können (Tod als Strafe für Ungehorsam, für "böse" Wünsche oder Handlungen) und in Extremfällen psychosomatische Störungen nach sich ziehen (vgl. REED 8. Auflage 1983, 33). Gedanken an Tod und Sterben werden von Kindern dieser Altersstufe im allgemeinen mit Gewaltakten in Verbindung gebracht, denn ein natürliches Ende des Menschen ist schwer vorstellbar. "Vorschulkinder nennen als Todesursache eher nicht natürliche Ursachen wie Gewalt..., Feindseligkeit und Verstümmelung..., Tod verursacht durch Bestrafung, Vergeltung, Feindschaft, Streit oder sexuellen Impuls ..." (ZOBL 1984, 79).

Die phallische Phase, die auch frühgenitale oder ödipale genannt wird (vgl. FREUD 1961, 71), betrifft das vierte und fünfte Lebensjahr (Die Alterszuordnung richtet sich nach OLBRICH 1982, 104. Andere Autor(inn)en kennen, besonders bei den späteren Phasen der psychosexuellen Entwicklung, andere Alterszuordnungen. LÖBSACK (1984, 98) zählt z.B. die Altersstufen 3-7 zur phallischen Phase). In dieser Lebensphase findet der Abbau sexueller Spannungen erstmals auch über das eigene Genital statt. Die Psychoanalyse misst der phallischen Phase eine große Bedeutung für die kindliche Entwicklung bei, denn "ihre entscheidende Prägung erhält sie durch die Lösung des Ödipuskomplexes" (OLBRICH 1982, 98). Die ödipale Situation stellt sich bei Jungen und Mädchen unterschiedlich dar.

Jungen erleben sich als Rivalen des Vaters und hegen sexuelle Wünsche gegenüber der Mutter. In dieser Zeit erleben sie ihre Väter zwiespältig. Einerseits haben sie aufgrund ihrer Todeswünsche Schuldgefühle (Angst vor Vergeltung; Angst vor Verlust des geliebten Menschen) und fürchten sich, während sie sich andererseits mit der Kraft und dem Handeln ihrer Väter identifizieren (vgl. ebd. 99). Normalerweise kommt es in der phallischen Phase allmählich zur Überwindung der ödipalen Konfliktsituation (vgl. BLOS 1978, 39).

Der ödipale Konflikt zeigt sich bei Mädchen durch eine mehrfache Umorientierung zwischen Vater und Mutter. Bei ihnen vollzieht sich zunächst eine stärkere Hinwendung zum Vater, die von der Identifikation mit ihm, letztlich dem Wunsch, ein männliches Genital zu besitzen (Penisneid), getragen ist. Die Identifikation mit dem Vater ist aber auf Dauer verhängnisvoll, denn der Geschlechtsunterschied kann nicht überwunden werden. Die Bewältigung der ödipalen Situation gelingt mit der nochmaligen Umorientierung des Liebesobjektes. durch die erneute Identifikation mit der Mutter. Jetzt stellen sich Schuldgefühle gegenüber der Mutter ein, denn durch die Rivalität um die Gunst des Vaters wird sie zur totgewünschten Nebenbuhlerin (vgl. ebd.).

Im Rahmen der Entwicklung des Todeskonzepts wandeln sich in dieser Altersstufe die Todeswünsche gegen die Eltern insgesamt in solche, "... die sich gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil richten" (LÖBSACK 2. Auflage 1984, 98): "Wenn du dann gestorben bist, dann heirate ich Mama" (3-jähriger Junge zu seinem Vater; ebd. nach RINGGER). Dadurch entstehen Schuldgefühle, die der Angst vor Strafe schlimmstenfalls vor der eigenen Vernichtung Vorschub leisten. Die Angst vor Trennung und Vernichtung geht mit der Angst, das Genital zu verlieren (Kastrationsangst), einher (vgl. KLEIN 1962, 132) oder allgemeiner mit der Angst vor Verstümmelung (vgl. KÜBLER-ROSS 1984, 99; vgl. BRAUN 1979, 34 f.).

Ein charakteristisches Kennzeichen der ödipalen Phase ist die Unfähigkeit vieler Kinder, emotional offen mit Tod und Sterben umzugehen: "... younger children have difficulty coping with death in emotional terms, and suppress or deny their affective reactions to it" (MENIG-PETERSON/MC CABE 1978, 305; Vgl. STERN 1957, 80 ff.).

Die Latenzphase liegt "... etwa zwischen dem sechsten Lebensjahr und dem Beginn der Pubertät" (OLBRICH 1982, 99) und wird als Periode der inneren Ruhe und des Abstands von den elementaren psychosexuellen Konflikten der vorherigen Phasen beschrieben. Die ödipalen Todeswünsche gegenüber den Eltern sind in den Hintergrund getreten und die selbständigere Gestaltung des eigenen Lebens drängt die Allmachtsphantasien und Schuldgefühle zurück. Die relative Unabhängigkeit von den Eltern und die verstärkte Identifikation mit ihnen führen zu einer Harmonisierung der Beziehungen.

Die Angst vor Tod und Sterben gewinnt die Qualität der Gewissensangst. Damit ist gemeint, dass sich die Kinder vielfach vor dem Übertreten der elterlichen bzw. gesellschaftlichen (z.B. Schule) Gebote fürchten, weil ihnen die Gefahr droht, nicht akzeptiert oder gar ausgeschlossen zu werden (vgl. LÖBSACK 4. Auflage 1982, 99).

Die Adoleszenz oder Pubertät, die zwischen das dreizehnte und achtzehnte Lebensjahr fällt, verläuft bei Mädchen und Jungen unterschiedlich. Die physiologischen Veränderungen und die gesteigerte Genitalität bewirken "... emotionale Wallungen, unausgewogenes, impulsives Verhalten, Konflikte und immer wieder ein deutliches Ringen um Identität und Autonomie" (OLBRICH 1982, 99). Im Zentrum der Todeskonzepte steht dabei jeweils die endgültige Lösung der ödipalen Krise und die Reaktivierung der damit verbundenen Ängste und Unsicherheiten. Die Todeswünsche gegen das gleichgeschlechtliche Elternteil müssen überwunden werden, damit eine Identifikation mit dem eigenen Geschlecht und der Rolle, die die Mutter bzw. der Vater vorleben, möglich wird. Gleichzeitig versuchen die Kinder und Jugendlichen eigene Lebenskonzepte zu verwirklichen und probieren zum Teil unterschiedliche gesellschaftliche Rollen aus.

Die Angst vor Tod und Sterben wird mit zunehmender Reife abstrakter und die Furcht vor Verletzungen von körperlichen Bedürfnissen wandelt sich stärker zur Furcht vor psychischer Verletzung. "Die Angstformen lassen sich als lebensgeschichtliche Veränderungen der Todesangst auffassen" (LÖBSACK 1984, 99). Andererseits hängt die Ausrichtung des Todeskonzepts in der Adoleszenz von denjenigen psychosexuellen Situationen der Kindheit ab, die nur ungenügend gelöst wurden. So können Trennungsangst, Kastrationsangst oder Gewissensangst eine unterschiedlich starke Bedeutung haben und das Leben der Jugendlichen bis ins Erwachsenenalter begleiten (vgl. ERIKSON 1982, 82).

2.1.3 Möglichkeiten und Grenzen einer psychoanalytischen Interpretation der Entwicklung von Todeskonzepten

Wenn die emotionale Komponente kindlicher Todeskonzepte der psychosexuellen Entwicklung zugeordnet wird, dann hat das für die Kommunikation und Interaktion mit Kindern Konsequenzen. Vorteile können sich bei der Lösung familiärer Spannungen bieten, denn die Erkenntnis, dass der Prozess der Selbständigwerdung und der Loslösung bei Kindern mit großen inneren Spannungen und zum Teil unlösbaren Konflikten verbunden ist, kann dafür sorgen, dass die Eltern ihre Kinder anders einschätzen lernen.

Psychosomatische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, die sich nicht selten als Folge ungelöster Entwicklungskrisen einstellen, können dann als Signale der kindlichen Angst wahrgenommen und thematisiert werden. "Manchmal ist die Krankheit nichts als eine äußere Erscheinung und ausschließlich seelisch bedingt und mutet eher als Bild denn als Wirklichkeit an. Mit der Darstellung der Flucht in die Krankheit hat die Psychoanalyse Aufschlüsse von größter Bedeutung gegeben" (MONTESSORI 1980, 251; Vgl. ZIMPRICH 1984, V).

Außerdem kann die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dimensionen der Todesangst helfen, die eigenen Ängste zuzulassen und sensibel für die Andeutungen und Signale der Kinder zu werden. Die Leistung der psychoanalytischen Sichtweise liegt darin, dass Krisen und Brüche in der Entwicklung nicht als Artefakte ausgeklammert werden. Die Entwicklung wird als Zusammenspiel individueller (Kind) und sozialer (Eltern) Faktoren verstanden und Krisen werden nicht auf das Kind zurückverwiesen, sondern als gemeinsam zu lösende Konflikte der Familie aufgefasst (vgl. MEYER-DRAWE 1984, 231 f.).

Andererseits ist die Reduzierung der Emotionalität auf ihre psychosexuelle Determiniertheit eine starke Einengung der Sichtweise. Sie "... verführt leicht zu einer Unterschätzung des Stellenwertes und des Ausmaßes der prägenden Kräfte, die in den psychischen, somatischen und sozialen Determinanten der Persönlichkeitsentwicklung ... wirksam werden" (ZAUNER 1986, 10). Die Entwicklung im Kindesalter kann nicht als Durchgangsstadium von einem chaotischen Anfang (Kind) zu einem harmonischen Ende (Erwachsener) verstanden werden, denn jede Zeit im Leben eines Menschen hat ihre Probleme und stellt an denjenigen, der sie durchlebt, besondere Anforderungen.

Emotionalität kann nicht als abhängige Größe vom Lebensalter begriffen werden, denn der jeweilige soziokulturelle und kognitive Kontext des kindlichen Erlebens spielt bei der Konstitution von Gefühlen und deshalb auch bei der Konstitution von Todeskonzepten eine zentrale Rolle. Die Eingrenzung des Todeskonzepts kann dazu führen, dass die kindlichen Äußerungen missverstanden werden, und dass durch die Festlegung auf eine bestimmte altersspezifische Sichtweise die persönlichen, biographischen Eigenarten des Kindes vernachlässigt werden.

Besonders deutlich wird das im Umgang mit sterbenden Kindern. Obwohl manche Autor(inn)en Entwicklungen des Todeskonzepts sterbender Kinder deren jeweiliger Altersstufe zuordnen (z.B. BÜRGIN 1978, 111 f.; LÖBSACK 1984, 153 ff.), können sie für das konkrete Zusammensein mit sterbenden Kindern und deren Familien damit nur bedingt Hinweise geben. Die extremen Anforderungen, die im Anpassungsprozeß an die Krankenhauswelt, im Ablösungsprozess von den Eltern oder in der Angst vor der Ungewissheit der eigenen Zukunft an die Kinder und Jugendlichen gestellt werden, lassen sich nicht typisieren. Sie bleiben auf die eigenen und familiären mit Einschränkung auch auf die stationären Möglichkeiten verwiesen.

Die Angst vor Tod und Sterben unterliegt, ebenso wie die Versuche ihrer Bewältigung, Einflüssen, die über eine psychosexuelle Determination hinausgehen.

2.2 Die kognitive Dimension der Entwicklung von Todeskonzepten aus psychogenetischer Sicht

Die Entwicklung der Vorstellungen von Tod und Sterben ist nach kognitionspsychologischer Auffassung von der allgemeinen geistigen Entwicklung des Menschen abhängig. Sie "... verläuft parallel zur Reifung der

intellektuellen Kapazität" (BÜRGIN 1978, 50).

Seine geistigen Fähigkeiten ermöglichen es dem Menschen, als Subjekt wahrnehmend und handelnd seine Umwelt zu strukturieren und anstehende Probleme denkend zu bewältigen. Die kognitiven Leistungen des Menschen sind von vielen Faktoren abhängig (z.B. Zeitalter, Kultur, Biographie, Lebensalter), wobei im Zentrum der entwicklungspsychologischen Forschung die altersabhängigen Veränderungen meistens beschränkt auf das Kindes- und Jugendalter stehen. Die Determinanten der geistigen Entwicklung (z.B. Umwelteinflüsse oder innere Reifung) wurden eine zeitlang kontrovers diskutiert, doch die Tendenz geht zu Erklärungsmodellen, die sowohl innere als auch äußere Faktoren berücksichtigen. Methodisch wird so vorgegangen, dass dem Alter bzw. der Altersstufe der Kinder und Jugendlichen die entsprechenden kognitiven Leistungen zugeordnet werden.

Im folgenden soll die geistige Entwicklung nach den Arbeiten des Schweizer Pädagogen und Psychologen Jean PIAGET skizziert werden, da sein Modell bei den Untersuchungen zur Entwicklung des Todeserlebens bei Kindern große Verbreitung findet.

2.2.1 Psychogenetische Entwicklung und Vorstellungen von Tod und Sterben

Die geistige Entwicklung von Kindern ist nach PIAGET durch ihre psychogenetische Determination gekennzeichnet. Eine wichtige Rolle spielen zwar die Übung und die soziale Interaktion (vgl. PIAGET/INHELDER 1977, 9), aber ohne die organischen Reifungsprozesse können die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten der Altersstufen nicht erklärt werden. "Das geistige Wachstum ist nicht zu trennen vom körperlichen Wachstum, insbesondere nicht von der Reifung des Nerven- und Hormonsystems, die etwa bis zum 16. Lebensjahr dauert" (ebd.). Daraus folgt, dass Kinder einer bestimmten Altersstufe bestimmte kognitive Leistungen vollbringen können. Der Grad der Komplexität und Differenziertheit der geistigen Operationen nimmt mit zunehmendem Alter der Kinder zu und die erwachsenengemäße Sicht der Welt stellt den Endpunkt der kognitiven Entwicklung dar.

Die Mechanismen, mit deren Hilfe sich kognitive Änderungen vollziehen, nennt PIAGET "Assimilation" und "Akkommodation". Die Koordination der Prozesse, die gegenläufig wirken, geschieht nach PIAGET durch den Mechanismus der Selbstregulation, den er Äquilibration nennt. Die "Äquilibration besteht also in einer Reihe aktiver Reaktionen des Subjekts auf externe Störungen, die in unterschiedlichem Maße wirksam sein oder antizipiert werden können" (PIAGET 1981, 103). Wie wichtig die Koordination der Entwicklungseinflüsse ist, macht PIAGET am Beispiel der gegenseitigen Wirkung von Assimilation und Akkommodation auf das kindliche Denken deutlich. "Wenn die Assimilation die Akkommodation übertrifft (d.h. wenn die Merkmale des Objekts nur insoweit berücksichtigt werden, wie sie mit den gegenwärtigen Interessen des Subjekts übereinstimmen), entwickelt sich das Denken in egozentrische oder sogar autistische Richtung... Wenn umgekehrt die Akkommodation die Assimilation derart beherrscht, dass das Kind die Formen und Bewegungen der Objekte oder Personen, die gerade seine Modelle sind, wirklichkeitsgetreu reproduziert, entwickelt sich Repräsentation... in die Richtung von Nachahmung" (ebd. 46 f.). Erst das Gleichgewicht zwischen den beiden Polen "... charakterisiert einen vollständigen Intelligenzakt" (ebd.) und ermöglicht die kognitive Weiterentwicklung.

Während der kindlichen Entwicklung stellt das Gleichgewicht einen "Prozess" dar, der sich durch Störungen und deren Regulation auszeichnet, während es im Erwachsenenalter eher ein "Zustand" zu sein scheint, den es zu festigen gilt (vgl. MONTADA 1982, 416). Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass PIAGETs Entwicklungskonzept bis zum Jugendalter reicht ("... das Gleichgewicht wird mit 14-15 Jahren erreicht..."; PIAGET/INHELDER 1977, 108) und eine Weiterentwicklung des erwachsenen Menschen ausspart. Für PIAGET endet die kognitive Entwicklung auf dem Organisationsniveau des Erwachsenen (vgl. PIAGET 1981, 123).

Die Beschreibung der Entwicklung kindlicher Vorstellungen von Tod und Sterben folgt dieser Einschätzung. Die Veränderung des Todeskonzepts wird oftmals als Anpassungsprozeß verstanden, bei dem unrealistische Vorstellungen langsam durch realistischere ersetzt werden. "The older child gradually develops a more realistic appreciation of death and dying" (YUDKIN 1967, 38; Vgl. RUDOLPH 1979, 10; STERN 1957, 140). Realistische Vorstellungen sind dabei solche, die durch biologisch-medizinische Erkenntnisse begründet werden und als Grundlage der Todesvorstellungen Erwachsener angenommen werden. Einige Kennzeichen der Entwicklung der Vorstellungen von Tod und Sterben gibt Gottfried ZOBL an. Er versucht die zahlreichen empirischen Untersuchungen zur Entwicklung von Todeskonzepten zu systematisieren und nennt acht Kriterien für den Vergleich infantiler (inf.) und adulter (adl.) Vorstellungen: Dysfunktionalität, Immobilität und Insensitivität (inf.: Tote leben irgendwie weiter/adl.: Tote haben keine Lebensfunktionen mehr), Endgültigkeit (inf.: Tod ist vorübergehend/adl.: Tod ist irreversibel), Universalität, Unvermeidbarkeit (inf.: nicht jeder z.B. man selber muss sterben/adl.: jeder wird sterben), Personifikation (inf.: Tod ist eine Person/adl.: Tod ist ein Zustand) und Todesursache (inf.: Tod ist ein Gewaltakt/adl.: Tod ist m.E. ein natürliches Geschehen) (Vgl. ZOBL 1984, 77 ff.). Die Veränderung der Vorstellungen von Tod und Sterben geschieht nicht isoliert, sondern sie ist an die Entwicklung anderer kognitiver Leistungen, zum Beispiel den Spracherwerb oder die Vorstellungen von Zeit und Leben, gebunden. Im folgenden werden die Entwicklungsphasen nach PIAGET beschrieben und die entsprechenden Anschauungen von Tod und Sterben zugeordnet.

2.2.2 Entwicklungsphasen und Todeskonzept

Die erste Entwicklungsstufe ist die senso-motorische. Sie umfasst sechs Phasen und betrifft Kinder bis zum Alter von zwei Jahren (vgl. PIAGET/INHELDER 1977, 45). Die kognitive Entwicklung ist durch die Objektpermanenz, die Raum-Zeit-Beziehung und die Kausalität gekennzeichnet.

Die Objektpermanenz benennt das Phänomen, dass Kinder von fünf bis sieben Monaten begehrenswerte Gegen

stände, die zwar in ihrer unmittelbaren Nähe sind, die sie aber nicht sehen können, für verschwunden halten, während Kinder von neun bis zehn Monaten gezielt danach suchen. Sie haben verstanden, dass der Gegenstand auch dann noch existiert, wenn sie ihn nicht mehr sehen.

Die Beziehung zu Raum und Zeit ist in den ersten Lebensmonaten variabel. Es existieren "... weder ein einziger Raum noch eine zeitliche Ordnung ..." (PIAGET/INHELDER 1977, 19) und erst gegen Ende der senso-motorischen Phase bilden sich räumliche und "... natürliche objektive zeitliche Reihen aus ..." (ebd. 20).

Ebenso langsam wie die anderen kognitiven Leistungen der ersten Entwicklungsstufe "... objektiviert und verräumlicht sich die Kausalität, das heißt, die vom Subjekt erkannten Ursachen liegen nicht mehr allein im eigenen Tun, sondern in beliebigen Gegenständen..." (ebd. 21).

Die Todeskonzepte werden auf der senso-motorischen Stufe von emotionalen Determinanten bestimmt, denn "die Todesvorstellung als solche ist ... für das Kleinkind unfassbar" (STERN 1957, 140). "Es kennt den Gegensatz lebendig und tot nicht; es betrachtet alle Gegenstände als lebendig und beseelt ..." (ebd. 74 f.). Dadurch, dass das begriffliche Denken und die sprachliche Kommunikation noch nicht optimal entwickelt sind, "... lassen sich keine Kognitionen angeben, die, wie entfernt auch immer, beim Kleinkind auf den Bedeutungszusammenhang Tod verweisen ..." (FUCHS 2. Auflage 1979, 119 ).

Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren befinden sich in der zweiten Entwicklungsphase, die als präoperationale, semiotische oder symbolische Stufe bezeichnet wird. Sie ist durch kognitive Leistungen gekennzeichnet, die PIAGET unter den Stichwörtern aufgeschobene Nachahmung, symbolisches Spiel, Zeichnung, inneres Bild und Sprache diskutiert (vgl. PIAGET/ INHELDER 1977, 45 ff.).

Die aufgeschobene Nachahmung geht über die direkte Imitation der senso-motorischen Stufe hinaus. Sie ist mehr als das Kopieren einer Handlung, die gleichzeitig zum Beispiel von einem Erwachsenen vollzogen wird, denn die Handlung wird "... ein aus seinem Zusammenhang gelöster Akt, darüber hinaus aber auch Symbol, das verallgemeinert werden kann" (ebd. 48).

Das symbolische Spiel sucht ein Gleichgewicht zwischen affektiven und intellektuellen Bedürfnissen des Kindes (vgl. ebd. 49). Unverstandene Ereignisse (z. B. Todeserlebnisse) oder Wünsche können den eigenen Vorstellungen entsprechend ausgestaltet und bewältigt werden, so dass "... nicht die Anpassung an das Wirkliche, sondern im Gegenteil die Anpassung des Wirklichen an das Ich ..." (ebd.) stattfindet.

Dass das symbolische Nach-Erleben über ein gedankliches Sich-Erinnern hinausgeht, zeigt PIAGET am Beispiel der Begegnung eines kleinen Mädchens (ohne Altersangabe) mit einem toten Tier : "Tief betroffen durch den Anblick einer gerupften Ente auf dem Küchentisch, legt sich dasselbe Kind am Abend auf ein Bett, so dass man es für krank hält und mit Fragen bestürmt, auf die es zunächst keine Antwort gibt; dann mit tonloser Stimme: 'Ich bin eine tote Ente!'" (ebd. 50).

Die Zeichnungen von Kindern geben ihnen ähnlich wie das Spiel eine Gelegenheit, ihre Vorstellungen und Erlebnisse zu bearbeiten, wobei viele Bilder für Erwachsene unverständlich oder unvollständig sind. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass ein Kind im frühen Entwicklungsstadium das malt, "... was es von einer Person oder von einem Gegenstand weiß, bevor es bildlich zum Ausdruck bringt, was es davon sieht" (ebd. 53).

Mit dem Aufbau innerer Bilder ist eine Assoziationsleistung gemeint, die erlebte Wahrnehmung mit nicht erlebten Vorstellungen verknüpft. Dadurch werden bestimmten Eigenschaften Symbole zugeordnet, die, anders als die abstrakten Zeichen, wie zum Beispiel Sprache, ganz konkrete Erinnerung reproduzieren (vgl. ebd. 56).

Die Sprachentwicklung begleitet die anderen Formen präoperationalen Denkens und führt vom Nachlallen einzelner Worte auf der senso-motorischen Stufe über die Bildung kurzer einfacher Sätze zu abstrakteren, logisch aufgebauten Konstruktionen. Der passive Wortschatz der Kinder ist in dieser Zeit größer als der aktive, was PIAGET mit dem sich gegenseitigen Bedingen von Denk- und Sprachentwicklung in Beziehung setzt (vgl. ebd. 69 f.).

Die Entwicklung des Todeskonzepts ist in der semiotischen Phase von der beginnenden Auseinandersetzung mit den Begriffen Tod und Sterben gekennzeichnet. In dieser Zeit ist der Tod ein reversibler Zustand des "Schlafs" oder "Verreistseins" (LEIST 1981, 38). "Wenn man tot ist, kann man nicht mehr atmen ... Aber im Himmel wird man wieder lebendig" (Robert, 4 oder 5 Jahre; RUDOLPH 1979, 30 f.). Es ist noch nicht erkannt, "... dass der Tod unvermeidlich und endgültig ist" (LÖBSACK 2. Auflage 1984, 76). Zunächst handelt es sich beim Tod um "... etwas Graduelles (man kann mehr oder weniger tot sein) und somit um einen steigerungsfähigen Begriff" (BÜRGIN 1978, 52). "Wie das wohl wäre, wenn man tot ist und jemand tritt auf einen drauf?" (Brian, 4 oder 5 Jahre; RUDOLPH 1979, 30).

Kinder dieser Entwicklungsstufe beziehen Tod und Sterben im allgemeinen noch nicht auf sich selbst. "Mutter ... alle Menschen müssen sterben. Aber irgend jemand muss ja die Urne mit der Asche des letzten Menschen irgendwo hinstellen. Kann ich das machen, ja?" [Anka, 4 Jahre; ebd. 68; Dieser Gedanke wird auch in dem Gedicht Hermann HESSEs Kleiner Knabe deutlich. In der letzten Strophe heißt es dort: "Große Leute sterben, Onkel, Großpapa, aber ich, ich bleibe immer, immer da" (HESSE, H.: Ges. Werke, Bd. 1, Frankfurt: Suhrkamp 1960 (o.S.), zit. nach PLANCK 1979, 58]. Nicht selten erscheint der Tod als Person, die Unheil bringt. "Der Tod ist sehr gefährlich. Man weiß nicht, in welchem Augenblick er kommt und einen schon mit sich nimmt. Der Tod ist wie ein Skelett. Alle seine Teile sind aus Knochen gemacht. Aber wenn es hell wird, morgens, dann bleibt keine Spur von ihm. Er ist gefährlich der Tod" [Junge, allerdings schon 9 Jahre; ROSEMEIER 1984, 300 f. nach NAGY; Der Philosoph Jean-Paul SARTRE schreibt in seiner Autobiographie: "Ich sah den Tod. Als ich fünf Jahre alt war, spähte er nach mir aus: am Abend trieb er sich auf dem Balkon herum, presste seine Schnauze ans Fenster, ich sah ihn, wagte aber nichts zu sagen. Auf dem Quai Voltaire begegneten wir ihm einmal, er war eine große, alte, schwarzgekleidete und verrückte Dame, sie murmelte, als ich vorüberging: 'Dies Kind stecke ich mir in die Handtasche'" (SARTRE 1968, 54 f.).] "Die Bilder des 'Sensemannes' oder die des 'Schwarzen Mannes' werden dabei oft von den Erwachsenen übernommen" (LÖBSACK 1984, 77). Als Todesursachen kommen neben Tötung, Unfall und Krankheit auch das Alter vor (ebd.). "Du kannst ruhig noch einmal ein Kindchen kriegen, du bist noch nicht so alt, dass du stirbst" (Thomas, 6 Jahre; LEIST 3. Auflage 1982, 19).

Die Entwicklung des Todeskonzepts erfährt im sechsten und siebten Lebensjahr eine Wende. "Die Konzepte werden einerseits mehr abstrakt, andererseits mehr persönlich" (ZOBL 1984, 90), was mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung dieser Zeit in Zusammenhang gebracht wird (vgl. MENIG-PETERSON/MC CABE 1978, 307). Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entwicklung der Sprache, des Zeitgefühls und der Vorstellung von "Leben". Leben wird jedem Ding zugesprochen, das "... irgendeine Aktivität aufweist oder irgendwie für das Kind nützlich ist" (ZOBL 1984, 70): "... z.B. eine Kerze lebt, wenn sie brennt; sie lebt nicht, wenn sie nicht brennt" (BÜRGIN 1978, 54). Leben bedeutet, dass ein Verursacher oder Schöpfer alle Dinge zu ihrem Zweck geschaffen hat, der einmal ein Ende haben wird (vgl. PIAGET 1980, 164 f.), wobei Erich STERN hervorhebt, dass ein Kind dieser Altersstufe oftmals die Vorstellungen übernimmt, "... die ihm von den Erwachsenen beigebracht werden" (STERN 1957, 84).

Die dritte Entwicklungsstufe nennt PIAGET die der konkreten Operationen. Die kognitive Entwicklung von Kindern zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr führt zu einer abstrakten Denkweise, was PIAGET an ihrer Fähigkeit aufzeigt, schwierige mathematische Probleme zu lösen.

Parallel zu den mathematischen Operationen entwickeln sich die sozialen Interaktionen und die moralische Urteilsfähigkeit. PIAGET sieht die Entwicklung der kognitiven, emotionalen und sozialen Dimensionen nicht unabhängig voneinander, aber die gesamte kindliche Entwicklung beruht für ihn auf dem gleichen Prinzip (vgl. PIAGET/INHELDER 1977, 85).

Dem entspricht die Entwicklung des Todeskonzepts auf der konkret-operationalen Stufe. Der Tod wird im allgemeinen als unvermeidbar und endgültig anerkannt (vgl. DAUT 1980, 259; KÜBLER-ROSS 1984, 102; REED 1983, 12; RUDOLPH 1979, 11.): "Alles hat einen Anfang und ein Ende. Bei Geschichten ist das so, und auch bei Menschen: Am Anfang werden sie geboren, am Ende sterben sie" (Noel, 6 Jahre; RUDOLPH 1979, 80). "Aber auch hier noch erreichen viele Kinder zwischen 8 und 11 Jahren diese Haltung nicht, sondern sehen den Tod noch als etwas Unwirkliches an" (STERN 1957, 140). Den Toten wird erst allmählich kein Leben oder Bewusstsein mehr zugeordnet, denn "... das entscheidende Kriterium ist das der Unbeweglichkeit" (ZOBL 1984, 80). Die einfache Bewegung reicht als Lebenszeichen nicht mehr aus und wird deshalb zur Eigenbewegung eines Gegenstandes spezifiziert (vgl. BÜRGIN 1978, 55). Langsam wächst die Einsicht in die biologischen Lebensfunktionen, zum Beispiel in die Bedeutung von Wachstum und Altern, und der Tod wird seltener als Gewaltakt oder als Strafe für Fehlverhalten, sondern eher als natürliches Ende des Alterungsprozesses verstanden.

Die kognitive Fähigkeit zur Generalisierung bewirkt die Einsicht in die eigene Sterblichkeit (vgl. LÖBSACK 21984, 78 f.), mit der widersprüchlich umgegangen wird. Einerseits, so behaupten Wissenschaftler(innen), "... tritt das Interesse der Kinder dieser Altersstufe an der Angstthematik zurück und kommt erst in der Pubertät wieder auf" (ebd. 791; Vgl. RUDOLPH 1979, 11), während andererseits eine "... affektive Einstellung zum Tod: u.a. Trauer, Angst" (LARBIG 1974, 253) festgestellt werden kann. Die Todesangst habe Einfluss auf die kognitive Entwicklung, denn der Gedanke an die eigene Sterblichkeit "... erscheint schon im Alter von acht bis neun Jahren so unannehmbar und unerträglich, dass die meisten Kinder dieser Altersgruppe zunehmend an eine Unsterblichkeit zu glauben beginnen ..." (BROCHER 1980, 33). "Ich möchte nicht sterben, weil der Tod nicht schön ist. Aber weil alle Menschen sterben, stelle ich mir ein Paradies vor" (Claudia, 9 Jahre, ebd. 34; Vgl. ebd. 46, 52). Das mag damit zusammenhängen, dass die Einstellungen der Kinder zum Tod verstärkt von religiösen Vorstellungen beeinflusst werden. "Ich stelle mir vor, dass ich auf einem Regenbogen in den Himmel klettere und dass der liebe Gott mich in ein Baby verwandelt und dass ich wieder zur Welt komme, und immer so weiter, dass ich immer bessere Leben habe" (Dörthe, 9 Jahre; ebd. 42; Vgl. ebd. 48; LÖBSACK 2. Auflage 1984, 78). Außerdem wächst mit der Beschäftigung mit der eigenen Sterblichkeit das Interesse am Verbleib der Toten (z.B. Trauer-, Bestattungsrituale). "Ich stelle mir vor, wenn ich tot bin und im Sarg liege, dass es ganz dunkel ist. Und ob ich schon auf einem anderen Sarg liege oder ob unter meinem Sarg nur Sand ist. Was meine Eltern machen und meine Omas machen würden. Wie lange sie trauern würden" (Andrea, 8 Jahre; ebd. 49).

Die vierte und letzte Entwicklungsstufe ist die formal-operationale. Vom zwölften bis zum fünfzehnten Lebensjahr gleichen sich die kognitiven Leistungen immer stärker an die der Erwachsenen an. Die Voraussetzung dafür ist nach PIAGET "... eine Transformation des Denkens ..., die den Umgang mit Hypothesen und das Nachdenken über Aussagen, die von der konkreten und aktuellen Feststellung losgelöst sind, möglich macht" (PIAGET/INHELDER 1977, 97). Die Entwicklung des formalen Denkens und des Kombinationsvermögens führt dazu, dass Denkoperationen unabhängig von ihren Inhalten, allein nach den Prinzipien der Logik durchgeführt werden können. Mathematische Aufgaben, wie zum Beispiel Wahrscheinlichkeitsanalysen und Proportionsvergleiche, werden ebenso wie komplizierte physikalische Erscheinungen nachvollzogen und durchschaut (vgl. ebd. 103).

Für PIAGET sind die besonderen emotionalen Aspekte der Pubertät nicht auf "... angeborene und sozusagen instinktive Mechanismen" (ebd. 109) zurückzuführen. "In Wirklichkeit spielen soziale Faktoren (im zweifachen Sinn von Sozialisierung und kultureller Übermittlung) eine viel wichtigere Rolle, und sie werden, mehr als man angenommen hatte, durch die intellektuellen Transformationen gefördert ..." (ebd.; PIAGET wendet sich gegen die psychoanalytische Interpretation der Adoleszenz als Erneuerung des Ödipuskomplexe; vgl. Kap. 2.1.2)

Für die formal-operationale Entwicklungsstufe ist eine intensive kognitive Auseinandersetzung mit Tod und Sterben festzustellen und ''Todeseinstellungen und -bewusstsein nähern sich den Auffassungen Erwachsener" (LARBIG 1974, 253). "Das realistische Wissen über die Vorgänge von Tod und Sterben löst die religiös-magischen Vorstellungen ... immer mehr ab" (LÖBSACK 2. Auflage 1984,79 f.), wobei animistische Anschauungen und Personifikationen durchaus noch vorkommen. Die Einsicht in die Irreversibilität und Universalität des Todes ist zwar vorhanden, aber der Tod ist angstbesetzt und wird oftmals verleugnet. "Der Jugendliche geht über Todesnachrichten etwa in der Zeitung hinweg, sie ziehen seine Aufmerksamkeit nicht an; liest er sie durch einen Zufall, so berühren sie ihn nicht" (STERN 1957, 145 f.). "Die Angst vor dem Tod sollte man früh genug unterdrücken, sonst lebt man ja nur noch in Angst ..." (Mädchen, 15 Jahre; BROCHER 1980, 78).

Die Todeskonzepte bei Jungen und Mädchen scheinen unterschiedlich zu sein, denn "bei Mädchen tritt diese Dimension des Todeserlebens (Todesangst, D.H.) deutlicher hervor als bei Jungen ..." (LÖBSACK 2. Auflage 1984, 80), was "... ein Hinweis auf die realistischere und emotional offenere Anschauung sein" könnte (HAMMEL u.a. 1985, 12). Geschlechtsspezifische Unterschiede sollten aber nicht überbewertet werden, denn "... eine eher sachlich-distanziertere Haltung ließ sich genauso wenig wie eine mehr emotional-betroffene einem bestimmten Geschlecht zuordnen" (ebd.; Vgl. BROCHER 1980, 78.)

Die Adoleszenz ist das Alter (15. bis 18. Lebensjahr), in dem "... sich das Individuum in die erwachsene Gesellschaft einfügt ..." (PIAGET/INHELDER 1977, 110) und aktiv mit der Planung der eigenen Zukunft beginnt. Das Denken ist erwachsenengemäß und von moralischer Autonomie gekennzeichnet.

Die Todesvorstellungen entsprechen denen von Erwachsenen. "Ich kann nicht sagen, welchen Sinn der Tod hat. Kein Mensch kann wissen, warum man sterben muss. Der Grund dafür ist, dass man den Tod nicht definieren kann, man kann ihn nicht beschreiben" (Verena, 16 Jahre; BROCHER 1980, 85).

2.2.3 Möglichkeiten und Grenzen einer psychogenetischen Interpretation der Entwicklung von Todeskonzepten

Durch PIAGETs psychogenetische Sichtweise der Entwicklung von Kindern wird deutlich, dass menschliche Vernunft nicht apriori dem Menschen zukommt, sondern ein in sozialen Bezügen sich entwickelndes Phänomen ist. "Mit seinen Untersuchungen zu einer Genealogie der Intelligenz hat er wie kein anderer dazu beigetragen, gegen statische Dogmen einer universalen Vernunft die Weisen des menschlichen Wissens als innerhalb bestimmter Entwicklungsvollzüge gebildet aufzuweisen" (MEYER-DRAWE 1984, 162). PIAGET betont, dass die biologische Reifung lediglich den Weg für mögliche Entwicklungen bahnt, und es ist "... die Sache des Subjekts, sie zu verwirklichen" (PIAGET 1981, 59). Insofern ist es falsch, "... die Abfolge dieser Stadien für das Ergebnis einer angeborenen Prädetermination zu halten" (ebd.), und altersmäßige Zuordnungen sind mit Vorsicht zu behandeln.

Andererseits weist PIAGET immer wieder auf die Abhängigkeit der kognitiven Entwicklung von der organischen hin, und wenn auch Verschiebungen und Diskontinuitäten in den Phasen auftreten können, "die Reihenfolge der Stadien aber wird konstant bleiben" (ebd. 61). PIAGET erwähnt zwar die soziale Dimension der Entwicklung, "der Umwelt schreibt er aber einen passiven Part zu..."(MONTADA 1982, 423). Dadurch, dass PIAGET die Entwicklung des Denkens von einem unfertigen, egozentrischen, kindgemäßen zu einem fertigen, verständigen, erwachsenengemäßen Standpunkt sich vollziehen sieht, "... erscheint... das Wissen und das Handeln des Kindes als defizitär" (MEYER-DRAWE 1984, 163). Andererseits wird die Vieldeutigkeit und Brüchigkeit von erwachsenengemäßen Sichtweisen der Welt unzulässigerweise eingeengt und zu harmonisieren versucht (vgl. ebd. 165).

Für die Entwicklung der Vorstellungen von Tod und Sterben bedeutet eine phasenspezifische Beurteilung nach den Kriterien des logischen Denkens letztlich eine Missachtung der psychosozialen Eingebundenheit der menschlichen Entwicklung und eine Überbewertung der kognitiven Dimension. "But our relationship to death is not purely cognitive. It is not going too far to say that each of us has an organismic relationship to death" (KASTENBAUM/AISENBERG 1972, 37). Die Behauptung, Vorstellungen vom Tod besonders negative würden sich erst dann entwickeln, wenn der Begriff verstanden werden könnte (vgl. LÖBSACK 2. Auflage 1984, 74), kann nicht aufrecht erhalten werden. Vielmehr wird eine präkognitive Beziehung zu Tod und Sterben eingegangen, bevor ein Durchdenken der Phänomene möglich ist. "Das heißt also, der Tod ist für das Kind nichts Abstraktes, sondern etwas überaus Konkretes, bevor es überhaupt mit dem Begriff des Todes konfrontiert wird. Es weiß längst darüber, bevor es das Wort kennt und bevor es mit diesem Wort eine realitätsgerechte Vorstellung verbindet" (LEIST 1981, 34). Das Erfahren von Tod, sei es mittelbar oder unmittelbar, prägt nachhaltiger als eine intellektuelle Auseinandersetzung.

Eine phasengemäße Einordnung der Vorstellungen von Tod und Sterben kann bei der Klärung des Erlebens von Tod und Sterben bei einem Kind lediglich Hinweise geben (vgl. OERTER 6. Auflage 1984, 177), denn letztlich ist das Todesverständnis eines jeden Kindes von den vergangenen Erfahrungen und vom aktuellen Erleben geprägt. Es ist "... nicht das Alter als solches schon für Entwicklungsprozesse verantwortlich ... vielmehr sind es Reifungsprozesse und vor allem Art und Auemaß der im bisherigen Leben gemachten Erfahrungen..." (GEUSS 2. Auflage 1985, 298 f.). Dass sich dennoch kognitive Übereinstimmungen zeigen, mag mit den soziokulturellen Einstellungen zu Tod und Sterben zusammenhängen und gibt über die gesellschaftlich üblichen Erklärungsmuster und Umgangsformen Auskunft. Über das konkrete Erleben der Kinder sagt es nur bedingt etwas aus. (Die mangelnde empirische Analyse der soziokulturellen Bedingtheit von Todesvorstellungen bei Kindern beklagt FUCHS 1979, 119. Vgl. LÖBSACK 1984, 82; ZOBL 1984, 84 ff.).

Für die Kommunikation und Interaktion mit sterbenden Kindern würde nach PIAGET folgen, dass die kognitiven Elemente der kindlichen Todeskonzepte unvollkommen sind und die der Erwachsenen realistisch. Das ist aber nicht der Fall, denn es greifen "... viele Erwachsene selbst oder speziell im Umgang mit Kindern auf sehr fragwürdige Konzepte vom 'Tod'..." zurück (ROSEMEIER/MINSEL 1985, 367). Das mag daran liegen, '... dass Erwachsene meist ähnlich unscharfe Kognitionen haben wie Kinder, dass Erwachsene ebenso wenig wie Kinder die Wirklichkeit des Todes, des eigenen insbesondere, akzeptieren..." (FUCHS 2. Auflage 1979, 133) und dass sich Erwachsene nicht trauen, dieses Unvermögen im Umgang mit Tod und Sterben zuzugestehen (vgl. Kap. 1.3).

Eine phasengerechte Zuordnung wird angesichts des Todes zweifelhaft, denn die Entwicklung von Kindern und ihren Todesvorstellungen verläuft nach psychosozialen und nicht allein nach psychogenetischen Kriterien (vgl. DAUT 1980, 259). Eine psychogenetische Sichtweise ist für das Verständnis des Erlebens von Tod und Sterben bei Kindern eine zu einseitige Sichtweise. Hilfreicher scheint mir die gleichzeitige Berücksichtigung emotionaler, kognitiver, familiärer, kultureller und gegebenenfalls hospitaler Dimensionen zu sein. Wenn ein Kind Tod und Sterben als sinnfordernde Größen in seinen Lebensvollzug integrieren soll oder wenn es hilfreich in seinem Sterben begleitet werden soll, muss es in seiner psychosozialen Ganzheit ernstgenommen werden. Der Versuch, die pädagogische Dimension des Todes zu diskutieren, muss deshalb sowohl über eine einseitig emotionale wie auch kognitive Sichtweise hinausgehen.

2.3 Die psychosoziale Dimension von Todeskonzepten bei Kindern aus phänomenologischer Sicht

2.3.1 Phänomenologische Aspekte der menschlichen Entwicklung

Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, mit Hilfe phänomenologischer Kategorien die emotionale mit der kognitiven Dimension der Entwicklung von Todeskonzepten bei Kindern zu verbinden und zu einer psychosozialen Sichtweise auszuweiten. Unter dieser Prämisse wird Entwicklung weder als Übergangsperiode von einem chaotischen zu einem geordneten Gefühlsleben (vgl. Kap. 2.1.3) noch als Durchgangsstadium von einem defizitären zu einem idealen Auffassungsvermögen (vgl. Kap. 2.2.3) verstanden. Die Entwicklung von Kindern wird vielmehr in ihre leibseelische Verfasstheit verwiesen und als Ausschnitt eines lebenslangen, psychosomatosozialen Prozesses gesehen, der nicht durch Linearität und Teleologie, sondern durch Diskontinuität und Krisenhaftigkeit ausgezeichnet ist.

Die leibseelische Sichtweise des Menschen separiert ihn nicht in einzelne Funktionen, sondern fasst ihn auf "als doppeldeutig, als unabhängiges Naturwesen und als abhängiges Gesellschaftswesen, als radikal einsam und als radikal vergesellschaftet zugleich" (KAMPER 6. Auflage 1984, 542). Seine Identität gewinnt der Mensch im Zusammenleben mit anderen im konkreten Lebensvollzug. Er "... braucht zur Entfaltung seiner konsistenten Identität den anderen Menschen, nicht nur den Spiegel aus Glas, sondern den Spiegel eines Gesichtes" (PETZOLD 1984, 438). Die Frage, ob menschliche Entwicklung intellektuelle Progression oder Einpassung in soziale Gefüge ist, wird durch die inter-subjektive Sichtweise des Gleichzeitigen beantwortet. "Individuation und Soziation bilden ein Zugleich" (MEYER-DRAWE 1984, 222; Vgl. ebd. 255). Der Begriff der Identität wird dabei nicht als Zustand, sondern als Prozess verstanden, das sich in der Begegnung mit anderen immer wieder realisieren muss.

Das Verhaftetsein des Menschen in seinen leiblichen und geistigen Möglichkeiten bzw. Grenzen bestimmt die Unvollkommenheit und Vieldeutigkeit menschlicher Erkenntnis als ein zu dieser Erkenntnis gehöriges Moment (vgl. ebd. 157). Wenn menschliche Erkenntnis als unvollkommen, brüchig und mehrdeutig erkannt ist, dann ist ihre Hierarchisierung im Sinne von unvollkommen-ideal, chaotisch-geordnet, kindlich-erwachsen unhaltbar. Ein Erwachsener "... kann sich nicht auf übersituative Schemata berufen, sondern ist mit einer Vielzahl von Rationalitäten konfrontiert, die sich nicht hierarchisierend anordnen lassen" (ebd. 243). Menschliche Erkenntnis, die sich als nicht hierarchisierbar erweist, setzt die teleologische Interpretation menschlicher Entwicklung, die einen zu erreichenden Endpunkt (Erwachsener) postuliert, außer Kraft. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird die Entwicklung eines Menschen von einer Episode im Kindesalter zu einem lebenslangen Prozess ausgeweitet, der erst im Sterben endet (vgl. MAURER 1981a, 9).

Entwicklung als sich vollziehende Lebensgeschichte zeichnet sich durch Permanenz, Situativität und Krisenhaftigkeit aus (MAURER 1981b, 109). Permanent ist sie insofern, als sie sich ständig vollzieht und nicht durch ihr Angekommensein, ihr Da-Sein, sondern durch ihr So-Sein, durch das Dynamische ihres Vollzugs und nicht durch das Statische ihres Endes lebt. Situativ ist Entwicklung deshalb, weil sie sich in immer neuen Lebenswirklichkeiten vollzieht, weil sie nicht Regelmäßigkeit und Operatonalisierbarkeit behauptet, sondern weil sie sich Diskontinuität und Nichtplanbarkeit aussetzt. Ihre Krisenhaftigkeit zeigt sich darin, dass nichtplanbare Krisen und Konflikte nicht als vermeidbare Entwicklungsstörungen eingeordnet werden, sondern als notwendige Brüche mit dem Gewohnten. Durch sie werden neue Sichtweisen und Veränderungen des Bestehenden erst möglich (vgl. MEYER-DRAWE 1984, 226 f.).

2.3.2 Die psychosoziale Sicht des Todeserlebens bei Kindern

Das Erleben von Tod und Sterben bei Kindern kann unter psychosozialen Gesichtspunkten weder allein dem Lebensalter noch der emotionalen bzw. kognitiven Entwicklung zugeordnet werden. Die Rolle der sozialen Schicht, des Geschlechts und der Religionszugehörigkeit spielen eher eine untergeordnete Rolle (vgl. ZOBL 1984, 84 ff.). Sie sind allerdings, ähnlich wie die regionale Differenz (Stadt/Land) oder der Einfluß der Medien, nicht ausführlich genug untersucht. Anstelle dessen treten die konkrete Situation, in der sich das Erleben des Todes vollzieht, und die in ihr Agierenden als konstituierende Elemente von Erfahrung in den Blickpunkt. Im folgenden sollen unterschiedliche Situationen, in denen Kinder Tod und Sterben erleben, systematisiert und auf ihren möglichen Einfluß auf die Entwicklung von Todeskonzepten hin befragt werden. Als Unterscheidungskriterien fungieren dabei die Art des verstorbenen Lebewesens (Tier oder Mensch), die persönliche Nähe zu ihm und die Todesart.

2.3.2.1 Der Tod eines fremden Tieres

Das Auffinden eines toten Tieres, zu dem ein Kind keine persönliche Beziehung hatte, zum Beispiel ein auf der Straße verunglücktes Tier, ein aus dem Nest gefallenes Vogeljunges oder ein von anderen Tieren getötetes Tier, kann unterschiedliche Reaktionen auslösen. Nach dem jeweiligen Grad der Verunstaltung kann es zum Beispiel Ekel, Mitleid oder Neugier bewirken. Die gedankliche und emotionale Bearbeitung dieses Erlebnisses wird durch den Einfluß Erwachsener oder anderer Kinder kanalisiert. Es macht einen Unterschied, ob Erwachsene geringschätzig über den Vorfall urteilen oder mit dem Kind zusammen nachdenken (mögliches Leiden, Todesursache etc.) oder handeln (Bestattung), um das Erlebte zu bearbeiten.

Eine andere Qualität bekommt das Erlebnis, wenn das Kind zum Zeugen der Tötung wird. Ein zwei Jahre und sechs Monate altes Mädchen beobachtete mit seinen Eltern, wie eine Kuh einen Hasen, der laut dabei schrie, tottrat. Das Kind konnte sich mehrere Tage nicht beruhigen, lief immer wieder zu der Stelle am Zaun, von wo aus der Vorfall beobachtet wurde und schrie, obwohl die Eltern mit ihm sprachen und es zu beruhigen versuchten, längere Zeit nachts in seinen Träumen auf. [Dieses Ereignis fand am 18.7.1980 gegen 14.00 Uhr in Waldbröl statt. Es wurde von der Mutter (Frau H.) zehn Tage später berichtet (D.H.)].

Belastend können auch Erlebnisse sein, bei denen Kinder ungewollt für den Tod von Tieren verantwortlich werden: "... mit jungen Katzen kann eine ähnliche Erfahrung gemacht werden. Die winzigen, wenig behaarten Tiere wecken das Interesse jedes Kindes; es will eines in die Hand nehmen und schon entgleitet ihm das kleine Tier. Es fällt zu Boden und ist tot. Schon früh koppelt sich der Tod mit der Frage nach der Schuld" (LEIST 1982, 27). Die Reaktion der Erwachsenen spielt bei der Bearbeitung des Erlebnisses eine wichtige Rolle, und "man sollte weder darüber hinweggehen noch das Kind zurechtweisen, sondern es verstehen und wenn möglich trösten" (ebd.).

Situationen, in denen Kinder bewusst Tiere töten, werden in der Regel zu Recht von Erwachsenen negativ sanktioniert, wobei im allgemeinen Unterschiede zwischen Wirbellosen (Wurm, Insekt, Spinne usw.: Tod ist nicht so schlimm) und Wirbeltieren (Frosch, Vogel, Katze usw.: Tod ist schlimm) gemacht werden. Tierquälereien können unterschiedliche Ursachen haben. Sie können zum Beispiel die Anerkennung innerhalb des Freundeskreises erhöhen oder als Racheakt für erlittene Demütigungen fungieren. "Vielleicht sind aber extreme Grausamkeiten ein Versuch, mit der eigenen uneingestandenen Todesangst fertig zu werden" (ebd. 26). Auch über Tierquälereien kann mit Kindern gesprochen werden, wobei die Ursachen der Handlung im Mittelpunkt stehen sollten. Es muss deutlich werden, dass Tierquälerei als Ventil für ungelöste Konflikte ausscheiden muss.

2.3.2.2 Der Tod eines Haustieres

Wenn ein Haustier stirbt, das von Kindern versorgt und geliebt wurde, reagieren Kinder im allgemeinen mit großer Trauer: Sie haben "... die Erfahrung gemacht, dass Tod nicht nur etwas zu tun hat mit Leblosigkeit, Starre und Kälte, sondern auch mit Verlust, Trennung und Abschied auf immer" (ebd. 27). Nach dem Tod ihres Meerschweinchens wurde ein fünf Jahre und sechs Monate altes Mädchen von ihrem Vater beauftragt, die Beerdigung des Tieres zu organisieren. Das Kind bemalte und beklebte eine Kiste, pflückte Blumen und stellte nach der Bestattung ein vom Vater gefertigtes Kreuz am Grab auf. Während der Beschäftigung, die mehrere Tage andauerte und das Kind stark beanspruchte, wurde es merklich aufgeschlossener, sprach häufiger über den Verlust und konnte ihn schließlich akzeptieren. [Das Ereignis fand am 15.8.1986 in Freiburg statt. Es wurde vom Vater des Kindes (Herrn Dr. F.) sieben Tage später berichtet (D.H.)].

Trauer- und Bestattungsrituale tragen zur Bewältigung des Verlustes von Tieren bei, denn sie sind ein "... Ausdruck der Trauer, ein Versuch, noch ein letztes Liebes für das Tote zu tun und zugleich sich ein Andenken daran zu schaffen" (ebd. 28). Gespräche, in denen der Schmerz der Kinder ernst genommen und nicht belächelt wird, helfen dabei, solche Erfahrungen mit Tod und Sterben zu konstituieren, bei denen das Sterben als natürliches Lebensende hingenommen werden kann. Trauer und Schmerz lassen sich nicht umgehen, aber Kinder können lernen, mit dem Verlust zu leben.

Viele Eltern wollen ihren Kindern den Schmerz ersparen, lassen heimlich das tote Tier verschwinden und besorgen ein neues. Damit helfen sie ihren Kindern nicht, sondern sie bringen sie und sich - um die Erfahrung der gemeinsamen Trauer; denn der Tod, "das ist ein Faktum, dass das Kind akzeptieren muss und an dem wir es nicht vorbeilügen dürfen" (ebd. 27). Der Verlust von Haustieren ist zwar schmerzlich, aber er ist eine kindgemäße Möglichkeit, Tod und Sterben wahrzunehmen und den Umgang damit zu erlernen (vgl. RUDOLPH 1979, 37 ff.). "Kinder sollten auf den Tod oder eine Erfahrung mit dem Tod vorbereitet werden, lange bevor sie ihn selbst als ihren eigenen Tod oder den eines anderen Menschen erfahren müssen" (KÜBLER-ROSS 1984, 97).

2.3.2.3 Der Tod fremder Menschen

Ungleich belastender kann die Situation werden, wenn Menschen zu Tode kommen. Informationen über den Tod eines entfernten Bekannten, eines Nachbarn oder eines Unbekannten haben dabei eher eine geringere traumatische Wirkung. Sie können aber zum Gespräch und zum Nachdenken über Tod und Sterben anregen. "It ist important for children to learn that death ist something all people think about and that they are not alone in their thoughts" (SWAIN 1979, 358).

Werden die Kinder zu Zeugen eines tödlichen Unfalls, so kann sie der schreckliche Eindruck ein Leben lang verfolgen.

2.3.2.4 Der Tod der Großeltern

Mit der Nähe zum Verstorbenen steigt die emotionale Betroffenheit und die Folgen für den weiteren Lebensweg sind gravierender. Oftmals wird mit dem Tod der Großeltern früh der Erfahrungshorizont erweitert, wobei die Art, wie die Eltern des Kindes mit dem Tod der Großeltern umgehen und die Todesart, richtungsweisend sind. Ein friedliches Einschlafen des alten Menschen kann als Abschluss eines langen Lebens oder einer schweren Krankheit hingenommen werden, während ein plötzlicher Unfall unverständlicher ist. Insofern ist es "... dem Kind zu wünschen, dass es diese Erfahrung in Ruhe machen darf, dass die erste Begegnung mit dem Tod nicht als Schock kommt ..." (LEIST 3. Auflage 1982, 30).

Je offener ein Kind in das Sterben einbezogen wird, desto leichter kann es seine Ängste und seine Verständnislosigkeit thematisieren (vgl. REED 8. Auflage 1983, 10 f.). Beim Tod eines nahen Verwandten wird das Kind eine Vielzahl von Änderungen in seiner Umgebung wahrnehmen, die es zu begreifen gilt. Neben veränderter Kleidung und erhöhter emotionaler Labilität der Eltern treffen die Onkel und Tanten und u.U. entfernte Verwandte öfter zusammen und besprechen feierlich und traurig die Zukunft. Eine zeitlang wird der gewohnte Lebensrhythmus angehalten und alles dreht sich um den Sterbenden bzw. den Verstorbenen.

In der pädagogischen Dimension des Todes liegt es, Kinder mit ihren Ängsten nicht allein zu lassen. Auch dann, wenn Erwachsene zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt sind, muss den Kindern Zeit und Gelegenheit gegeben werden, über das Erlebte zu sprechen; denn "trotz der unvermeidlichen Umstellung muss das Familienleben nicht ganz zerstört werden..." (RUDOLPH 1979, 54). Das bevorstehende Sterben darf vor den Kindern nicht verheimlicht werden und die Erfahrung zeigt, dass das auch gar nicht möglich ist. Kinder sind für Veränderungen im Verhalten (Der Begriff Verhalten wird hier nicht in seiner behavioristischen Einengung verwendet.) oder in der Gemütslage sensibel und nehmen wahr, wenn die Eltern etwas bedrückt (vgl. KÜBLER-ROSS 1984, 16). Sofern die Ursache des Kummers verheimlicht wird, ängstigen sich die Kinder unnötig und verbinden mit Tod und Sterben angstbesetzte, ungeklärte Phantasien. Die Unaufrichtigkeit der Eltern blockiert die offene Kommunikation und führt dazu, dass sich die Kinder zurückziehen. Zur Erfahrung des Sterbens gehört auch, dass die Eltern, die ansonsten als mächtig und stark erlebt werden, aufrichtig ihre Ohnmacht bekennen und zu ihren Gefühlen stehen. "Im Schmerz und in der Entbehrung der Eltern lernt das Kind, seinen eigenen Schmerz zuzulassen" (LEIST 3. Auflage 1982, 31).

Sinnvoll erscheint es, wenn Kinder die Gelegenheit bekommen, sich von den Sterbenden zu verabschieden. Die Voraussetzung dafür ist aber der eigene Wunsch der Kinder, denn ein aufgezwungenes Abschiednehmen kann ebenso wie der Zwang, den Leichnam zu berühren, das Erlebnis des Todes zu einer traumatischen Erinnerung werden lassen (vgl. BROCHER 1980, 58).

Die Vorbereitungen zum Begräbnis können wie andere anfallende Entscheidungen mit den Kindern besprochen und entschieden werden. "Es hilft nicht nur den Kindern, sondern auch den Erwachsenen, wenn die Tätigkeiten und Besorgungen, die ein Todesfall mit sich bringt, gemeinsam erledigt werden" (RUDOLPH 1979, 54). Zum Begräbnis sollten Kinder grundsätzlich mitgenommen werden, und nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch kann darauf verzichtet werden (vgl. LEIST 3. Auflage 1982, 34). Die Auseinandersetzung mit der Fremdheit von Trauer- und Bestattungsritualen und der Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der damit verbundenen Gefühle (Trauer, Faszination, Unsicherheit, Feierlichkeit usw.) sind Bestandteile des Erlebens vom Tod, von denen Kinder nicht ausgeschlossen werden dürfen. "Bei jüngeren Kindern hängt die Teilnahme davon ab, ob ein dem Kinde vertrauter und geliebter Erwachsener ruhige Nähe während des Begräbnisses gewähren kann" (BROCHER 1980, 58). Die Fragen von Kindern sollten auch während der Zeremonie leise beantwortet werden und die körperliche Nähe (z.B. Hand-Halten) schafft Sicherheit. Weniger fremd und unheimlich wird die Bestattung dann, wenn Kinder den Ablauf der Zeremonie schon einmal erlebt haben zum Beispiel mit den Eltern beim Tod eines entfernt bekannten Menschen oder im Rahmen von Religions- oder kirchlichem Unterricht. "Es wäre gut, wenn unser Kind irgendwann einmal, ohne dass es einen unersetzlichen Verlust erlitten hat, Erfahrung mit dem Tod, dem Sterben und mit dem Begräbnis machen kann" (LEIST 3. Auflage 1982, 33).

2.3.2.5 Der Tod eines Freundes oder einer Freundin

Wenn der Freund oder die Freundin eines Kindes gestorben ist, sollten die Kinder von der trauernden Familie einbezogen werden und an den Vorbereitungen für das Begräbnis teilnehmen dürfen. Für eine Schulklasse oder eine Freundesclique kann die Beerdigung zu einer Gelegenheit werden, sich innerlich von der oder dem Toten zu verabschieden, und die aktive Beteiligung der Kinder oder Jugendlichen an der Zeremonie (z.B. Sarg tragen, Nachruf verlesen, Musizieren) gibt ihnen Gelegenheit zu symbolisieren, dass sie dem Freund selbst im Tod zur Seite stehen. Die Verbindung mit der Trauerfamilie sollte dabei behutsam durch die Eltern, den Lehrer oder den Pfarrer hergestellt werden, da sich viele Menschen in ihrer Trauer isolieren und die Beteiligung anderer eher als störend empfinden.

Durch den Tod eines jungen Menschen wird den Gleichaltrigen deutlich die eigene Sterblichkeit vor Augen geführt. Viele Kinder können ihre Ängste nicht verbalisieren und bauen sie über ihren Körper ab (z.B. Alpträume, psychosomatische Erkrankungen). Klärende, kindgemäße Gespräche mit den eigenen Eltern und eine verständnisvolle Atmosphäre können den Kindern über die schwere Zeit hinweghelfen und sie ermuntern, ihre Gefühle und Gedanken zu äußern. "Wenn man zulässt, dass Trauer und Angst in der Kindheit ausgedrückt und mitgeteilt werden, kann man später viel Kummer vermeiden" (KÜBLER-ROSS 1984, 84).

Wird die Kommunikation durch Unaufrichtigkeiten oder ein Lächerlichmachen seitens der Eltern gestört, kann das für das Erleben des Todes schlimme Folgen haben, denn die Kinder werden in ihrer Trauerarbeit behindert. Ein Beispiel dafür ist das Zur-Schau-Tragen einer übertriebenen Gefühlskälte durch die Kinder, das nicht als bewundernswert einzuschätzen ist, sondern dazu anregen sollte, dem Kind zu helfen, sich behutsam mit seinen Gefühlen auseinander zusetzen. "Häufig ist aber die scheinbare Unangerührtheit der Kinder eine Reaktion auf die Haltung der Erwachsenen, die mit ihrer eigenen Angst und Betroffenheit nicht fertig werden und ihre Gefühle verdrängen" (LEIST 3. Auflage 1982, 38).

Die Auseinandersetzung mit den Gedanken und Gefühlen der Kinder muss sehr feinfühlig und mit äußerster Zurückhaltung eingeleitet werden, denn die Verleugnung des Todes oder das Abstreiten von Gefühlen gehören zu den Abwehrmechanismen bezüglich Tod und Sterben, die es besonders am Anfang der Trauerzeit zu respektieren gilt (vgl. ebd. 87). Sie schützen die Trauernden vor allzu großer Gefühlsverwirrung und Handlungsunfähigkeit und werden normalerweise im Laufe der Zeit abgebaut.

2.3.2.6 Der Tod von Geschwistern

Der Verlust von Geschwistern ist ein traumatisches Erlebnis, dessen Bearbeitung eine lange Zeit in Anspruch nehmen kann und die Einstellung der Kinder zu Tod und Sterben maßgeblich beeinflusst. Ein plötzlicher Tod stellt hohe psychische und physische Anforderungen an die hinterbliebene Familie und für die Eltern ist es wichtig, die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben offen mit den Geschwistern des verstorbenen Kindes zu führen und nicht zu versuchen, sich oder die Kinder von dem Leid fernzuhalten. "Die Trauer des Kindes ist aber so sehr mit der der Eltern verwoben, dass das überlebende Kind nicht trauern kann, wenn sie selbst den Toten nicht zu betrauern vermögen" (RAIMBAULT 2. Auflage 1981, 127 f.).

Bei einem Suizid sind die Eltern und Geschwister im allgemeinen derart von Schuldgefühlen beherrscht, dass nur die Intervention Dritter (Pfarrer, Arzt, Lehrer o.a.) die Trauerarbeit initiieren kann.

Wenn ein Geschwisterkind langsam an einer Krankheit stirbt, verändert sich die Lebenssituation für die ganze Familie, denn die Eltern beschäftigen sich dann vordringlich mit dem kranken Kind. Obwohl die gesunden Kinder das veränderte Engagement der Eltern kognitiv nachvollziehen können und versuchen werden, ihnen zu helfen (Haushaltsführung, Betreuung des kranken Geschwisters usw.), sind sie emotional in dieser Zeit zurückgesetzt (vgl. LEIST 3. Auflage 1982, 48; HAAS 1981, 97). In den seltensten Fällen wird es möglich sein, zusätzlich zur Betreuung des kranken Kindes mit den Geschwistern Unternehmungen zu machen, obwohl ihnen dies das Gefühl geben kann, von den Eltern geliebt zu werden, auch wenn sie im Moment nicht krank sind und eher vernachlässigt werden (vgl. KÜBLER-ROSS 1984, 19). Oftmals beneiden die gesunden Geschwister unbewusst das kranke und "viele Brüder und Schwestern haben ihr krankes Geschwisterchen tot gewünscht, nur um zum 'normalen' Leben vor Ausbruch der Krankheit zurückkehren zu können" (ebd. 85).

Wenn das erkrankte Kind in einer solchen Situation stirbt, kann das für das überlebende Geschwister lebenslange Schuldgefühle bedeuten. Die "Überlebensschuld" (LEIST 3. Auflage 1982, 53), die Vorstellung, den Tod des Geschwisters verursacht zu haben und sich für das eigene Überleben zu schämen, kann zu körperlichen Symptomen und zu Verhaltensauffälligkeiten führen (50 % der Geschwister von krebs-leukämiekranken Kindern zeigen psychosomatische und Verhaltensstörungen"; BIERMANN 1986, 294), so dass nicht selten psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen werden muss (vgl. LEIST 3. Auflage 1982, 48). Für die Eltern ist es wichtig, dass sie mit ihren gesunden Kindern ständig im Gespräch bleiben, damit die Geschwister spüren, dass sie von den Eltern auf dem schweren Weg als Stütze gebraucht werden. Die Eltern sollten die Geschwisterrivalitäten nicht verurteilen, sondern sie müssen offen mit ihren Kindern darüber sprechen und sie entlasten.

Wenn immer es möglich ist, sollten die Kinder, sofern sie das wünschen, an der Pflege des todkranken Geschwisters teilnehmen. Das Miterleben des Sterbens kann für ihr weiteres Leben eine Bereicherung sein, wenn sie spüren, dass sie dem kranken Geschwister die letzte Zeit in seinem Leben durch gemeinsame Spiele oder Gespräche verschönt haben und ihm eine Hilfe waren. "Viele kleine Brüder und Schwestern lernten, wie man dem kleinen Patienten Sauerstoff gibt oder ihn sanft absaugt, damit sie zur Pflege des Kindes einen Beitrag leisten dürfen..." (KÜBLER-ROSS 1984, 19).

Wenn die Familie stark genug ist und die entsprechenden räumlichen und personellen Möglichkeiten gegeben sind, dass das kranke Kind zu Hause sterben kann, sollte dieser Schritt gewagt werden. Viele Krankenhäuser bieten ambulante Betreuungen besonders für onkologisch und hämatologisch erkrankte Kinder an und stehen den Eltern bei medizinischen und psychologischen Problemen zur Seite. Für die gesunden Geschwister ist das langsame Abschiednehmen hilfreich und trägt dazu bei, den Tod des Geschwisters annehmen zu lernen und nicht zu verleugnen. "Deswegen ist es wichtig, dass wir Kinder, denen im Krankenhaus nicht mehr geholfen werden kann, nach Hause zurückholen, damit sie nicht nur daheim sterben können, sondern damit auch die Geschwister lernen, von ihnen Abschied zu nehmen und ihnen all die kleinen Liebesdienste zu tun, die für einen Kranken so wichtig sind" (LEIST 3. Auflage 1982, 45).

Eine Voraussetzung für einen offenen Umgang mit dem Sterben des Kindes ist eine ehrliche Information der Geschwister und des Betroffenen über seinen Zustand. Der Versuch, die Situation zu bagatellisieren, behindert den Loslösungsprozess und die innere Vorbereitung auf die Trennung. Die Familie muss sich der gemeinsamen Trauer aussetzen, wenn sie in Zukunft den Verlust ertragen und ihr Zusammenleben neu organisieren will. Eine oberflächliche Auseinandersetzung versperrt den Kindern und den Eltern den emotional offenen Umgang mit zukünftigen Todesfällen, so dass das Erleben von Tod und Sterben zu einer unüberwindbaren Belastung wird. Um den Schmerz zu überwinden, muss man sich ihm stellen, ihn zulassen und durch ihn hindurchgehen, anstatt ihm auszuweichen" (KÜBLER-ROSS 1984, 20).

Die Eltern sollten sich davor hüten, ihr totes Kind zu idealisieren und die anderen Geschwister an ihm zu messen: "Das hätte dein Bruder oder deine Schwester nie getan..." (LEIST 1982, 49). Der Vergleich des toten Kindes mit den Geschwistern behindert die Trauerarbeit, denn ein Geschwister kann nicht in die Rolle des anderen schlüpfen, sondern jedes Kind muss seinen eigenen Weg finden. "Kinder können ein anderes nicht ersetzen" (ebd.). Selbst wenn die Eltern nicht bewusst ihr totes Kind idealisieren, kommt es vor, dass die überlebenden Geschwister sich derart mit dem verstorbenen identifizieren (vgl. HALLIER 1980), dass sie sich seine Vorlieben zu eigen machen, seine Hobbys übernehmen und so zu leben bzw. zu leiden versuchen, wie der andere oder die andere vorher gelebt hat. "Zu den regressiven Abwehrmechanismen vernachlässigter Schattenkinder in der Familie gehören u.a. in einer Identifizierung mit dem Kranken (bzw. Verstorbenen, D.H.) die Übernahme von dessen Krankheitssymptomen..." (BIERMANN 1986, 294).

Eltern müssen für solche Veränderungen ihrer Kinder sensibel werden und die Zeichen, die oftmals nonverbal geäußert werden, verstehen lernen. Eine offene Kommunikation kann manchmal unterdrückte Ängste freilegen und Schwierigkeiten im Trauerprozess aufdecken, die unbewusst ein Annehmen des Todes verhindern. Wenn die Eltern sich dazu nicht im Stande fühlen, sollten sie sich nicht scheuen, mit der Familie eine psychotherapeutische Beratungsstelle aufzusuchen.

Dass der Trauerprozess eine Familie belastet und dass sich die Familienmitglieder gegenseitig beeinflussen, macht die Reaktion der gesunden Geschwister auf das Sterben eines Kindes deutlich. Für die Entwicklung des Todeskonzepts, für das Erfahren und Nach-Denken des Todeserlebens gilt deshalb, "... dass man die Erkrankung des Kindes nie als Einzelfall sehen kann. Betroffen sind immer die ganze Familie, die Eltern und die Geschwister" (HAAS 1981, 106).

2.3.2.7 Der Tod der Eltern oder eines Elternteils

Der Tod der Eltern oder eines Elternteils ist für Kinder eine der schlimmsten Erfahrungen, die sie mit Tod und Sterben machen können. Das Zerbrechen der Familienstruktur löst widersprüchliche Gefühle aus und verändert die bisherige Sicht der Welt.

Beim völlig unvorbereiteten Unfall steht die Unglaublichkeit des Ereignisses im Vordergrund: "Ich war, als meine Eltern starben, etwa zwölf Jahre alt. Mein erstes und stärkstes Gefühl war Unglaube, dass es geschehen sein könnte" (RUDOLPH 1979, 59). Für Kinder ist die plötzliche Trennung nur sehr schwer zu verkraften und eine gut gemeinte Abschirmung von allen Trauer- und Bestattungszeremonien behindert die Auseinandersetzung mit dem Tod und hat für das spätere Leben oftmals katastrophale Folgen: "Zurückschauend muss ich sagen, dass das Geschehene sicher weniger schmerzlich und weniger schwer zu ertragen gewesen wäre, wenn ich beim Begräbnis hätte dabei sein dürfen; wenn ich meine Gefühle jemandem hätte mitteilen können, anstatt um jeden Preis zu versuchen, die Fassung zu bewahren" (ebd. 60).

Neben der Unfassbarkeit des Todes steht die Ambivalenz der Gefühle. Einerseits wird der Tote vermisst und unermesslich geliebt, während er andererseits dafür gehasst wird, dass er das Kind alleine gelassen hat. Die sich einstellenden Schuldgefühle müssen thematisiert werden, wenn die Kinder nicht daran erkranken sollen. Parallel zur Verurteilung des Toten erfolgt oftmals seine Idealisierung, indem das Kind versucht, dem toten Elternteil nur positive Eigenschaften zuzusprechen (vgl. RAIMBAULT 2. Auflage 1981, 149). Dadurch kann es vermeiden, von der Zwiespältigkeit der Gefühle zerrissen zu werden und die Gefühlsverwirrung kann langsam geordnet werden. Im günstigsten Fall kann sich das Verhältnis zum Toten im Laufe der Zeit normalisieren, so dass der Verstorbene als Mensch mit Schwächen und Stärken erinnert werden kann. Wenn die Beziehung nicht überarbeitet wird, können krankmachende Situationen entstehen, und die Welt der Kinder bleibt auch im Erwachsenenalter verrückt [Marielene LEIST berichtet von einem Mädchen (Ines), das mit neun Jahren die Mutter verliert. Sie identifiziert sich mit der Mutter und kann den Trauerprozess nicht durchleben. Fünf Jahre später stirbt der Vater, von dessen Tod sie zwar schmerzlich berührt ist, den sie aber ebenfalls nicht bewältigt: "Wie wenig Ines auch in späteren Jahren gelernt hat, einen Verlust zu akzeptieren und durch Trauerarbeit zu bewältigen, wird deutlich, als sie selbst in die Lage kommt, ihren inzwischen erwachsenen Sohn für Studium und Heirat freizugeben. Es ist ihr nicht möglich, noch einmal einen Verlust zu erleiden. Sie erkrankt lebensgefährlich an Brustkrebs" (LEIST 1982, 57).]

Wenn beide Eltern ums Leben kommen, sind die Kinder großen Belastungen ausgesetzt. Wenn sich Verwandte mit gleichaltrigen Kindern um die Waisen kümmern, kann das eine Lösung sein, aber letztlich muss den Kindern die Wahl ihres neuen Zuhauses überlassen bleiben. Geschwister sollten nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin getrennt werden, denn das ist eine zusätzliche Belastung, die das Gefühl des Verlassenseins erhöht (vgl. LEIST 3. Auflage 1982, 91). Es ist zu begrüßen, wenn die Kinder zunächst in ihrem Elternhaus wohnen bleiben und die neuen Betreuer zu ihnen ziehen. Das hat den Vorteil, dass die Kinder nicht aus ihrer gesamten Lebenswelt gerissen werden, sondern dass wenigstens die äußere Form des Vertrauten konstant bleibt und Orientierung bietet. So lassen viele "... Nöte der Kinder sich nicht nur direkt aus dem Verlust der Eltern herleiten, sondern vor allem aus der dadurch bedingten, tiefgreifenden Veränderung des Gewohnten" (RUDOLPH 1979, 61).

Bei der Selbsttötung von Elternteilen stehen Selbstvorwürfe im Vordergrund. Die verbliebenen Familienmitglieder sollten versuchen, ihren Schmerz gemeinsam zu bewältigen und fremde Hilfe nicht abschlagen. Den Kindern sollte Gelegenheit gegeben werden, ihre Ängste auszudrücken und Hassgefühle gegen den Toten dürfen nicht bestraft werden. Wenn die Kinder zu Zeugen der Selbsttötung werden, kann das Erlebnis derart traumatische Wirkung haben, dass der Schock niemals überwunden wird: "Als Josef (4 Jahre) aus dem Kindergarten nach Hause kommt, findet er seine Mutter nicht in der Küche und nicht im Wohnzimmer vor. Nach langem Suchen entdeckt er sie erhängt an einem Wasserrohr im Keller" (LEIST 3. Auflage 1982, 58). Die Familie ist bei der Trauerbegleitung vor eine für sie unlösbare Aufgabe gestellt und die Kinder werden das Erlebte alleine nicht verkraften. "Diese Schuldgefühle sind von einem Kind alleine nicht aufzuarbeiten. Es bedarf dazu einer therapeutischen Unterstützung ..." (ebd. 58 f.).

Wenn ein Elternteil nach einer langen Krankheit stirbt, kann das für die Kinder unterschiedliche Folgen haben. Sind die Kinder nicht über das bevorstehende Sterben informiert, können sie sich innerlich nicht auf eine Loslösung vorbereiten und werden ähnlich überraschend wie beim Unfalltod mit der Trennung konfrontiert.

Um der Familie das Abschiednehmen zu erleichtern, sollten die Kinder eingeweiht werden und offen über ihren Kummer sprechen dürfen. Aggressionen gegen den Sterbenden, der die Kinder verlässt, dürfen nicht unterdrückt werden, sondern müssen ausgehalten und verziehen werden. Wenn Kinder sich mit Tod und Sterben auseinandersetzen, dann geschieht das "mit Leib und Seele", d.h. auf dem emotionalen, körperlichen und kognitiven Weg. Eine Einengung der Trauer oder der antizipatorischen Trauer [Antizipatorische Trauer meint die Auseinandersetzung mit dem Verlust, noch bevor er eingetreten ist (vgl. SPIEGEL-RÖSING 1984, 150)] zum Beispiel dadurch, dass nur die kognitive Bewältigung gefördert wird, bringt die Kinder in große Konflikte. Als Folge der gestörten Trauerarbeit stellen sich Entwicklungs- und Verhaltensstörungen ein, die als Signale der Kinder aufgegriffen und schonend zur Sprache gebracht werden müssen (vgl. SPIEGEL 1973, 83 ff.).

Die Trauer über den Verlust eines Elternteils wird dadurch erschwert, dass der Witwer oder die Witwe unbewusst ein Kind die Stelle des Verstorbenen einnehmen lässt. Ein Vater, der seine Tochter als Frau-Ersatz annimmt und das symbolisch dokumentiert, indem er sie zum Beispiel im Ehebett schlafen lässt, provoziert bei seinem Kind die Behinderung der Trauer und der Identitätsfindung: "Dadurch wird er ihre Phantasien fördern und sie zugleich daran hindern, um ihre Mutter zu trauern..." (PINCUS 1982, 242).

Für die Hinterbliebenen ist es schwer einzusehen, dass es unterschiedlich lange dauert, bis die einzelnen Familienmitglieder dem Toten seinen Abschied verziehen haben und ihn innerlich loslassen können: "Wenn eine Familie eines ihrer Mitglieder verliert, ist es für jeden Überlebenden überaus schwierig, den Unterschied in dem erlittenen Verlust anzuerkennen. Jeder sieht den Verlust so, jeder denkt über den Verlust so, wie er ihn selbst erlebt. Eine Differenz im Kummer wird verneint" (RAIMBAULT 31981, 149 f.). Besonders tragisch wirkt sich die unterschiedliche Trauerzeit dann aus, wenn die Witwen oder Witwer auch im Hinblick auf die Kinder sich neu binden und die Kinder noch befangen sind. Die Stiefmutter oder der Stiefvater hat die schwere Aufgabe, den Kummer der Kinder aufzufangen und ihnen neue Lebensperspektiven zu eröffnen. Dass das in vielen Fällen eine Überbelastung ist, zeigt sich daran, dass häufig keine herzlichen Familienbeziehungen entstehen und die Trauer nicht bewältigt wird.

Die Unfähigkeit zu trauern, die sich in Verleugnung, Identifikation, Idealisierung, Psychosomatosen oder auch in der Rückkehr zu früheren Verhaltensweisen (Regression) äußern kann, muss und darin liegt eine pädagogische Dimension des Todes überwunden werden, wenn das Leben auf die Zukunft hin wieder offen werden soll.

2.3.3 Möglichkeiten und Grenzen einer psychosozialen Interpretation des Erlebens von Tod und Sterben bei Kindern

Die psychosoziale Sicht des Todeserlebens bei Kindern korrespondiert mit der Vieldeutigkeit und der Unverfügbarkeit von Tod und Sterben. Das Erleben des Todes bei Kindern ist nicht im Voraus zu berechnen. Es entzieht sich sowohl einer letztgültigen kognitiven als auch emotionalen Interpretation, was durchaus als Nachteil empfunden werden kann.

Wenn die Verarbeitung der Eindrücke verstanden werden soll, müssen individuelle (qualitative) Verfahren angewendet werden. Eine allgemeine (quantitative) Deutung hat bei der Interpretation der Entwicklung des Todeskonzepts eines Kindes nur geringen Wert. "So zeigte mein Versuch, Determinanten des Todeskonzeptes in quantitative Abstufungen zu bringen, die misslungene Sichtweise" (ZOBL 1984, 150). Die Entwicklung von Todeskonzepten muss Tod und Sterben als nichtplanbare, krisenhafte Phänomene im Leben eines Kindes berücksichtigen. Die Reaktion der Kinder darauf, die Bearbeitung des Erlebten zu Erfahrung ist nicht berechenbar, sondern offen und individuell verschieden. Die Begleitung trauernder Kinder ist ein Wagnis, das den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder folgen muss, und dessen Ge- oder Misslingen nicht mit Bestimmtheit prognostiziert werden kann (vgl. SPIEGEL 1973, 80).

Die pädagogische Dimension des Todes liegt darin, das Erleben der Kinder von Tod und Sterben als unverfügbar kenntlich zu machen und vor Versuchen, die Todeskonzepte eindeutig erklären wollen, zu warnen. Insofern ist die psychosoziale Sichtweise vorteilhaft, denn sie berücksichtigt die Unzulänglichkeit anderer Modelle und führt zu einer ganzheitlichen Interpretation.

Die ganzheitliche Sichtweise des Erlebens von Tod und Sterben bei Kindern weist auf ihre Vieldeutigkeit hin. Der Versuch, Todeserlebnisse und ihre Determinanten zu benennen, kann nur in einer Beschreibung der Phänomene erfolgen. Dadurch, dass nicht ein ganz bestimmter Ausschnitt der Entwicklung, zum Beispiel kognitive Determinanten, untersucht wird, sondern der gesamte Einflussbereich, erweist sich die Komplexität des Erlebens als ein Nachteil, weil ein vollständiges Erfassen unmöglich ist.

Die Vieldeutigkeit und das ist ein Vorteil führt zu einer Individualisierung von Todeskonzepten und macht deutlich, dass es "das" Todeserleben "des" Kindes nicht gibt. Jedes Kind hat seine eigene, unverwechselbare Lebensgeschichte und erlebt, auch wenn sich die Vorerfahrungen ähneln, Tod und Sterben anders. Ein psychosozialer Ansatz kann die Entwicklung der Todeskonzepte bei Kindern nicht festlegen, aber er kann versuchen, das Erleben der Kinder von Tod und Sterben, ausgehend von der konkreten Lebenssituation, nachzuzeichnen und im Rahmen der Familienstruktur zu verstehen.

Dementsprechend versuchen die Thanatologen Robert KASTENBAUM und Ruth AISENBERG (KASTENBAUM/AISENBERG 1972) die Entwicklung der Todeskonzepte bei Kindern thesenartig zu beschreiben:

a. "The concept of death is a1ways re1ative" (ebd. 5), denn es ist vom jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes abhängig. Mit dem Entwicklungsstand sind die individuelle Lebensgeschichte und die Gesamtheit der bisherigen Erfahrungen mit Tod und Sterben gemeint, und nicht die Altersstufe.

b. "The concept of death is exceedingly comp1ex" (ebd.). Es ist von einer Vielzahl kognitiver, emotionaler, leiblicher, sozialer, situativer, biographischer etc. Einflüsse abhängig und lässt sich nicht vereinheitlichen.

c. "Concepts of death change" (ebd.). Sie beschreiben immer nur einen bestimmten Zeitpunkt im Leben der Kinder und ihre Weiterentwicklung endet erst mit dem eigenen Sterben.

d. "The developmental 'goa1' of death concepts is obscure, ambiguous, or still being evo1ved " (ebd.). Eine Hierarchisierung von Todeskonzepten (Kind - Erwachsener) ist deshalb unmöglich, denn ein "realistisches" oder "ideales" Todeskonzept gibt es nicht.

e. "Death concepts are influenced by the situational context" (ebd.). Das Erleben von Tod und Sterben bei Kindern ist von den äußeren Umständen (Zeit, Ort, Beteiligte, Familie, Todesart etc.) abhängig und deshalb nicht zu berechnen. Es zeichnet sich durch Nichtplanbarkeit und Krisenhaftigkeit aus.

f. "Death concepts are related to behavior" (ebd. 6). Beim Erleben von Tod und Sterben verändert sich die Selbst- und Fremdwahrnehmung, das Handeln und die Gefühlswelt eines Kindes. Sein Verhalten, wie im übrigen auch sein Körper, spiegelt deshalb seine ganz bestimmte Sichtweise und seine ganz bestimmte Bearbeitung des Erlebten wider.