Detlef Hammel

1. Todesvorstellungen im westlich-industrialisierten Kulturkreis des 20. Jahrhunderts

1.1 Vieldeutigkeit und Unverfügbarkeit als Kennzeichen von Tod und Sterben

Das Verhältnis von Menschen zu ihrem Tod und zum Tod anderer ist nicht in allen Kulturen und zu allen Zeiten gleich. Das Bewusstsein, endlich zu sein, ist nicht angeboren, sondern es entwickelt sich im Zusammenleben mit anderen: "... mag es auch den Menschen jeder bestimmten Gesellschaft als natürlich und unwandelbar erscheinen, es ist erlernt" (ELIAS 1982, 12). [Diese These wendet sich gegen die Annahme, dass das Wissen um Tod und Sterben konstitutiv dem Menschen zukommen würde. Wenn z. B. behauptet wird: "ein Mensch wüsste in irgendeiner Form und Weise, dass ihn der Tod ereilen wird, auch wenn er das einzige Lebewesen auf Erden wäre" (SCHELER 1979, 15), wird meiner Meinung nach die Angewiesenheit des Menschen auf soziale Interaktion und lebensweltliche Erfahrung beim Erkenntnisprozess missachtet (vgl. FUCHS 2. Auflage 1979, 117; YUDKIN 1970, 65 f.). Dementsprechend meint die Pädagogin Heidi LÖBSACK: "Die Schelersche Theorie von der Autonomie des Todeswissens findet durch die Resultate der modernen genetischen Psychologie, Entwicklungspsychologie, Soziologie und Ethnologie keine Anerkennung" (LÖBSACK 1984, 73)]. Neben der persönlichen Erfahrung spiegeln sich deshalb auch immer die kulturellen, religiösen, sozialen und politischen Strömungen einer Zeit in den Anschauungen über Tod und Sterben wider.

Das Verhältnis zum Tod ist nicht exakt zu definieren. "Definitionen sind Herrschaftsakte. Wer den Tod zu definieren verstünde, wäre im Begriffe, seiner Herr zu werden. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Nicht wir beherrschen den Tod, sondern der Tod beherrscht uns" (JÜNGEL 2. Auflage 1983, 11). Tod und Sterben entziehen sich einer letztgültigen Bestimmung, denn jeder Mensch hat einen anderen Erfahrungshorizont und eine andere Beziehung zum Leben. Eine Annäherung an Tod und Sterben kann deshalb nur in der Beschreibung von charakteristischen Kennzeichen erfolgen, wobei die Frage, was diese für das Leben und Sterben des einzelnen bedeuten, zunächst offen bleiben muss. Im folgenden sollen zwei Merkmale, die Vieldeutigkeit und die Unverfügbarkeit von Tod und Sterben, diskutiert werden.

Tod und Sterben sind vieldeutig. "Vieldeutig ist das Leben. Nicht weniger vieldeutig ist der Tod" (ebd. 9). Einerseits kann er die Ursache für schlimmes Leiden sein, denn wenn ein Mensch unvorhergesehen, zum Beispiel bei einem Unfall, stirbt, bedeutet das für die Angehörigen nicht selten eine lange Zeit des Trauerns. Andererseits kann der Tod für einen schwerkranken Menschen ohne Heilungsaussicht die langersehnte Erlösung von großen Schmerzen bedeuten. Die Bewertung von Tod und Sterben geschieht nicht bei allen Menschen in gleicher Weise. Sie variiert zum Beispiel mit der emotionalen Nähe zum Verstorbenen, mit seiner gesellschaftlichen bzw. familiären Bedeutung und mit den Folgen, die der Tod eines Menschen für andere mit sich bringt. So kann der Tod eines Menschen gleichzeitig widersprüchliche Reaktionen auslösen. Während er für die einen Vorteile, zum Beispiel in beruflicher oder finanzieller Hinsicht, mit sich bringen kann, stellt er für die engsten Angehörigen unter Umständen einen Verlust dar, der das eigene Fortleben bedroht. "Der Verlust eines nahen Menschen ist nicht ein Verlust innerhalb der Welt, sondern ein Verlust an Welt überhaupt und damit ein Verlust an der eignen Substanz dessen, der den Verlust erleidet" (BOLLNOW 1966, 67 f.). Es ist so, "... als wenn wirklich die Welt zusammenbricht" (KORB 1985).

Die Ambiguität zeigt sich nicht nur in der Interpretationsvielfalt des Todes durch verschiedene Personen, denn auch ein einzelner Mensch kann beim Tod eines anderen, zum Beispiel eines Familienmitgliedes, gegensätzliche Gefühle haben. Der Selbstvorwurf, nicht alles für den Sterbenden getan zu haben, kann etwa neben dem Gefühl stehen, am Tod des Menschen schuldig zu sein. Eine große Zuneigung für den Verstorbenen, der einem im Leben vielleicht viel bedeutet hat, kann mit der Wut auf ihn verbunden sein, die durch das Gefühl des Alleingelassenseins hervorgerufen worden ist.

Die Vieldeutigkeit von Tod und Sterben kann für einzelne Menschen bedrohliche Züge annehmen, denn Trauernde lassen ihre unterschiedlichen Gedanken und Gefühle keineswegs immer zu und gehen einer Auseinandersetzung damit eher aus dem Weg. In unserem Kulturkreis wird eine Kanalisierung der Empfindungen erwartet, die sich auch auf den Bereich der Trauer auswirkt. Gefühle der Betroffenheit und Selbstbeherrschung werden zum Beispiel gegenüber Wut und offener Klage präferiert, wodurch das Akzeptieren des Todes behindert wird. Das Akzeptieren des Todes ist aber die Voraussetzung für den Lernprozess, der es möglich macht, dass in Zukunft der Verlust ertragen werden kann und das Leben weitergeht. [Das Unterdrücken der Gefühle hat für den Prozess des Trauerns, der die langsame innere Lösung vom Toten und das Knüpfen neuer Beziehungen meint (vgl. KAST 1986, 71 ff.; SPIEGEL 1978, 86 ff.), fatale Folgen. "In unserer Gesellschaft ist man voller Bewunderung für Leidtragende, die Haltung bewahren, die 'den Kopf oben behalten' und sich 'vernünftig' benehmen. Wenn es auch nicht offen ausgesprochen wird, so stellt man dennoch wie selbstverständlich den Anspruch an sie, sich nicht gehen zu lassen. Diese Einstellung der Umwelt kann sich verhängnisvoll mit der eigenen Abwehr des Trauernden verbinden, und ihn erst recht jedes Trauerbedürfnis ableugnen lassen" (PINCUS 1982, 21 f.)].

Mit der Vieldeutigkeit ist die Unverfügbarkeit von Tod und Sterben verbunden. Sowohl das eigene Sterben als auch das Sterben anderer ist im Normalfall dem menschlichen Zugriff entzogen. Wenn von der Tötung anderer und der Selbsttötung abgesehen wird, dann verbleibt die Medizin als einziger Bereich, der auf das Sterben Einfluss nehmen kann. Aber auch die medizinische Technik ist beschränkt, denn sie kann den Tod nur hinausschieben und nicht verhindern. Diese Feststellung klingt banal, muss aber gleichwohl getroffen werden: denn in unserer Gesellschaft werden die Möglichkeiten der Medizin oftmals überschätzt.

Die Unverfügbarkeit des Todes wird im Sterben anderer deutlich, und sie macht Angst, denn der Tod eines Menschen erinnert an die Unausweichlichkeit des eigenen Endes. Die eigene Sterblichkeit ist im Grunde ein Paradoxon, denn obwohl sie bei jedem Tod vor Augen geführt wird, bleibt sie unbegreiflich und diffus (vgl. ARIES 1976, 70; FREUD 4. Auflage 1967, 341). "Dass wir, ein jeder selber, sterben müssen, wissen wir zwar. Aber wir glauben es nicht" (JÜNGEL 2. Auflage 1983, 13). Tod und Sterben sind Phänomene, die zwar bedacht und beschrieben werden können, die aber letztlich auf die Erfahrung des Sterbens anderer Menschen beschränkt bleiben und den eigenen Tod aussparen (vgl. BÜRGIN 1978, 35 f.; MOODY 1977, 18). "Weder meine Geburt noch mein Tod können mir erscheinen als Erfahrungen, die die meinen sind, da ich, sie also denkend, mich voraussetze als mir selber präexistent und mich selbst überlebend, um sie erleben zu können, und so dächte ich also nicht wahrhaft meine Geburt oder meinen Tod" (MERLEAU-PONTY 1966, 253).

Vieldeutigkeit und Unverfügbarkeit können Tod und Sterben charakterisieren, doch es stellt sich die Frage, ob sie für jedes Sterben zutreffen. Wären sie allgemeingültig, dann könnte die obige These, das Verhältnis zu Tod und Sterben sei sowohl soziokulturell als auch historisch unterschiedlich, dazu im Widerspruch stehen. Einige Aspekte zur historischen Entwicklung von Todesvorstellungen sollen klären, ob das Verhältnis zu Tod und Sterben grundsätzlichen Wandlungen unterworfen ist, oder ob mit den Dimensionen der Vieldeutigkeit und Unverfügbarkeit nur jeweils anders umgegangen wird.

1.2 Historische Aspekte des Wandels von Todesvorstellungen

Von den wissenschaftlichen Arbeiten, die Vorstellungen von Tod und Sterben historisch untersuchen, soll der Ansatz des französischen Sozialhistorikers Philippe ARIES herangezogen werden. In seinen Werken "Studien zur Geschichte des Todes im Abendland" (ARIES 1976) und "Geschichte des Todes" (ARIES 2. Auflage 1985) untersucht ARIES über einen Zeitraum von fast eintausend Jahren Kontinuitäten und Brüche im Verhältnis westlicher Gesellschaften zu Tod und Sterben. ARIES Arbeit ist von besonderer Bedeutung, da er methodisch über die systematische Sammlung gleichartiger Quellen und Darstellungen hinausgeht. Er versucht, den Zeitgeist und die besondere soziokulturelle Situation der jeweiligen Epoche wahrzunehmen, indem er die in den Schriftstücken und Kunstwerken verborgenen, unbewussten Anschauungen interpretiert (vgl. ARIES 1976, 15). Sein Material ist sehr umfangreich, denn neben ikonologischen zieht er literarische, archäologische, liturgische und architektonische Dokumente heran. Trauer- und Bestattungsrituale werden ebenso wie Testamente, Gottesdienstordnungen und Friedhofsanlagen untersucht.

Die Schwierigkeit dieser Methode besteht darin, die Hauptströmungen und die Gegentendenzen einer Epoche voneinander abzugrenzen, wobei sich für ARIES dieses Problem nur durch den Vergleich des vielfältigen Materials lösen lässt (vgl. ebd.).

Aus den gefundenen Gemeinsamkeiten rekonstruiert ARIES eine Entwicklung der Vorstellungen von Tod und Sterben im westlichen Kulturkreis, die er in vier Epochen unterteilt.

In der Antike und im Frühen Mittelalter ist der Tod das selbstverständliche Ende des Menschen gewesen. Ohne aufwendige Zeremonien und ohne ein übermäßiges emotionales Engagement wurde seine Unverfügbarkeit hingenommen. Er konnte zwar als bedrohlich empfunden werden, aber durch die tägliche Begegnung mit Tod und Sterben wurde er zu einer vertrauten Erscheinung. ARIES nennt den vertrauten Umgang mit dem Tod deswegen den "gezähmten Tod" (ARIES 1976, 25).

Im 11. und 12. Jahrhundert veränderte sich das Verhältnis zu Tod und Sterben nach und nach. Es kam zu einer Individualisierung des Sterbens, denn "das Gefühl der eigenen Identität gewann die Oberhand über die Unterwerfung unter das kollektive Schicksal" (ARIES 2. Auflage 1985, 778). Der Tod wurde als persönliches Ende zur Stätte tiefer Besinnung über die eigene Lebensführung, und durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit fand bis zur zweiten Hälfte des Mittelalters eine verstärkte "... Anklammerung an Dinge und Wesen, die man im Laufe seines Lebens besessen hat" (ARIES 1976, 40l) statt. Die Unverfügbarkeit des Todes blieb zwar anerkannt, aber seine Vieldeutigkeit verschob sich zugunsten der eigenen Person. Der Tod wurde zum "eigenen Tod" (ebd. 42).

Im 16. Jahrhundert stellt ARIES eine Erotisierung des Todes fest. Tod und Sterben wurden ähnlich wie der Sexualakt als ein Bruch des Menschen mit der Welt aufgefasst, und die alte Vertrautheit hat sich "... mehr und mehr in Richtung auf jene heftige und heimtückische Wildheit entfernt, die Angst einflößt" (ARIES 2. Auflage 1985, 781). Damit verbunden ist es vom 18. Jahrhundert an zu einer Dramatisierung des Todes gekommen. Im veränderten Umgang mit der Unverfügbarkeit des Todes ist er maßlos übertrieben worden und der Mensch dieser Zeit "... möchte ihn eindrucksvoll und besitzergreifend erleben" (ARIES 1976, 43). Eine Ursache dafür ist in der Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen zu sehen. Die Beziehung des Menschen zu den nächsten Angehörigen seiner Familie hat sich intensiviert, so dass der Verlust des Anderen zu einem schmerzhaften Erlebnis geworden ist. Die Vieldeutigkeit des Todes hat sich auf die Angst vor dem Tod des Anderen konzentriert. ARIES nennt diese Phase deshalb den "Tod des Anderen" (ARIES 1985, 783).

Das Verhältnis zu Tod und Sterben im westlich-industrialisierten Kulturkreis des 20. Jahrhunderts charakterisiert ARIES mit dem Stichwort "der verbotene Tod" (ARIES 1976, 57). Seit der Mitte dieses Jahrhunderts kam es zu einer immer stärkeren Entfremdung des Menschen von seinem Tod. Ein Indiz dafür sieht ARIES in der Medikalisierung und Institutionalisierung des Todes, in der Missachtung seiner Unverfügbarkeit. Dadurch, dass das Sterben ins Krankenhaus verlagert wurde, kam es durch technische Geräte und eine funktionale Sicht des Menschen zu einer Entwürdigung des Sterbens. Dem Pflegeteam wurden die Entscheidungen zugebilligt, die früher im Familienkreis getroffen wurden, und der Sterbende selbst wurde entmündigt. Er wurde und wird weder über seinen aktuellen gesundheitlichen Zustand noch über seine Prognose aufrichtig informiert. Ein Außerkraftsetzen der Vieldeutigkeit des Todes führte dazu, dass der Sterbende selbst unwichtig wurde. Parallel dazu ist es zu einer Sinnentleerung der Trauer- und Bestattungsrituale gekommen, denen ARIES heutzutage eher eine dekorative als eine psycho-hygienische Bedeutung beimißt.

Tod und Sterben sind angesichts der gesellschaftlichen Verpflichtung "zum kollektiven Glück" (ARIES 1976, 62) zu einem Tabu geworden, über das man nicht sprechen darf: "... weder das Individuum noch die Gemeinschaft sind stark und stabil genug, den Tod anzuerkennen" (ARIES 1985, 788).

Der Überblick macht deutlich, dass im Laufe der Zeit der Umgang mit der Unverfügbarkeit und der Vieldeutigkeit von Tod und Sterben zwar Akzentverschiebungen aufweist, dass sich aber das Verhältnis zu Tod und Sterben grundsätzlich ausgenommen die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht geändert hat. In der jüngeren Vergangenheit ist nach ARIES eine grundlegende Veränderung im Verhältnis zu Tod und Sterben eingetreten, denn der Tod sei zu einem Tabuthema geworden. Eine grundlegende Veränderung müsste allerdings Vieldeutigkeit und Unverfügbarkeit, als Kennzeichen von Tod und Sterben, außer Kraft setzen. Vieldeutigkeit und Unverfügbarkeit haben aber nach wie vor ihre Gültigkeit. Das hat sowohl für die historische als auch für die aktuelle Betrachtung des Umgangs mit Tod und Sterben Konsequenzen.

Für die "Geschichte des Todes" folgt daraus, dass in früheren Zeiten das Verhältnis zum Tod nicht weniger vieldeutig war als heute und dass das Sterben nicht in jedem Fall leichter hingenommen wurde. ARIES würde dann mit der Beschreibung epochaler Hauptströmungen und der damit verbundenen Gegenwartskritik eine bedenkliche Harmonisierung vergangener Epochen betreiben. [Der Sozialwissenschaftler Norbert ELIAS meint nach einer gründlichen Analyse des Ansatzes von ARIES: "Aber die Schwarz-Weiß-Zeichnung des Gefühls 'gute Vergangenheit, schlechte Gegenwart' richtet wenig aus" (ELIAS 1982, 28). Für ELIAS ist die Abkehr von der Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit "... ganz gewiss nicht, wie es manchmal hingestellt wird, erst eine Eigentümlichkeit des 20. Jahrhunderts. Sie ist wahrscheinlich so alt wie das Bewusstsein dieses Endes wie die Voraussicht des eigenen Sterbens selbst" (ebd. 55). Insofern wäre die "Tabuierung" des Todes nur die zeitgemäße Variante einer permanenten sowohl individuellen als auch sozialen Bestrebung, der gedanklichen Auseinandersetzung mit Tod und Sterben aus dem Weg zu gehen.] Für die aktuelle Diskussion folgt daraus, dass die These, Tod und Sterben seien heute ein Tabu geworden, modifiziert werden muss.

Im folgenden soll der Tabuierungsthese nachgegangen werden, und die Betrachtung der Todesvorstellungen im westlich-industrialisierten Kulturkreis wird durch einige soziologische Überlegungen abgeschlossen.

1.3 Soziokulturelle Aspekte des Umgangs mit Tod und Sterben im 20. Jahrhundert

Die These, Tod und Sterben seien heute zu einem Tabu geworden, mit dem man sich nicht auseinandersetzen dürfe, ist die Bilanz einer Vielzahl soziologischer und sozialpsychologischer Analysen. Durch seine Medikalisierung und Institutionalisierung sei der Tod vom natürlichen Ende des Menschen zu einem medizinisch-technischen Artefakt geworden. "Der Tod erscheint nicht mehr als eine zur Natur des Lebendigen gehörige Notwendigkeit, sondern als eine vermeidbare... Fehlleistung" (JONAS 1984, 48).

Damit verbunden sei es zu einer Privatisierung der Trauer gekommen, weil nicht nur der eigene, sondern auch der Tod des Anderen verdrängt würde. Selbst im privaten Bereich erfolge die Bearbeitung der Trauer unaufrichtig. "Nichts ist charakteristischer für die gegenwärtige Haltung zum Tode als die Scheu der Erwachsenen, Kinder mit den Fakten des Todes bekannt zu machen" (ELIAS 1982, 31). Die Unfähigkeit, mit dem Trauerschmerz umzugehen, die nicht selten auf eine neurotische Trauerverarbeitung der Familie hinweist (vgl. LÖBSACK 2. Auflage 1984, 31), beruhe letztlich darauf, dass philosophisch-theologische Erklärungsversuche von Tod und Sterben uninteressant geworden seien (vgl. ebd. 33).

Niemand würde gezielt auf die Endlichkeit des Menschen hinweisen oder versuchen, die paradoxe Einsicht in die eigene Sterblichkeit auszuhalten und fruchtbar in den Lebensvollzug einzubeziehen.

Doch die These der Tabuierung des Todes ist nicht unumstritten. Werner FUCHS zum Beispiel kritisiert die Vertreter der Tabuierungsthese als konservative Kulturkritiker und Kulturpessimisten, die sich damit gegen die Industrialisierung, die Rationalisierung und die Säkularisierung unserer Zeit wenden würden. Er hält ihnen vor, dass die von ihnen praktizierte Besinnung auf das Ende des Menschen nicht der rationalen Auseinandersetzung mit Tod und Sterben dienen würde, sondern zur Verklärung des Todes als etwas Unantastbares benutzt würde. Dadurch würde angstmachenden, magisch-archaischen Todesbildern Vorschub geleistet. Jede gesellschaftliche Veränderung könnte dann als sinnlos diffamiert werden und bestehende Ungerechtigkeiten würden stabilisiert: "... die verbindliche Durchsetzung der Erinnerung an die menschliche Sterblichkeit soll sich als Instrument gegen Charakteristika der industriellen Gesellschaft erweisen, gegen welche Kulturkritik seit ihren Anfängen sich gewendet hatte" (FUCHS 1979, 8 f.) FUCHS dagegen fordert ein "natürliches" Sterben, das es im Sinne eines friedlichen Verlöschens zu ermöglichen gelte und das nicht als Herrschaftsinstrument missbraucht werden könne.

Anders als FUCHS geht Alois HAHN vor, der die Tabuierung des Todes als unzutreffende Verallgemeinerung zurückweist und statt dessen ein unrealistisches Todesverständnis feststellt. Die Personen, die mit Tod und Sterben in Berührung kommen, setzten sich verstärkt mit der Problematik auseinander, obwohl ein Tabu bei ihnen am wirksamsten sein müsste. "Es zeigte sich..., dass das Maß der Relevanz, die der Tod... für die untersuchten Personengruppen hatte, um so entschiedener sichtbar wurde, je öfter sie mit ihm konfrontiert waren. Hingegen hätte man ja erwarten sollen, dass die 'Verdrängung' des Todes dort besonders virulent sein müsste, wo er in seiner bedrohlichen Macht empfindbar war" (HAHN 1968, 33).

HAHN macht anhand seiner empirischen Studie deutlich, dass jüngere Menschen keinen Umgang mehr mit Sterbenden haben' und dass sich dieser Mangel an "Todkontakt" (ebd. 16) auf ihre Todesvorstellungen auswirkt. Ältere Menschen würden sich sehr wohl mit dem Tod beschäftigen, während er für jüngere ein "Kein Problem" (ebd. 24) sei. HAHN weist nach, dass die Begegnung mit Tod und Sterben zwar die Todesfurcht erhöht, aber auch deren Bearbeitung erleichtern kann. Er setzt sich angesichts des "... 'naiven' Nichtwissens um den Tod in der modernen Gesellschaft..." (ebd. 89) für eine realitätsnahe Todesbewältigung ein.

Die Kritik an der Tabuierungsthese soll dazu dienen, sie zu modifizieren. Insofern lässt sich der Umgang mit Tod und Sterben in unserem Kulturkreis treffen der mit dem Begriff der Verleugnung charakterisieren. (Ich stimme damit LÖBSACK zu, die den Begriff der Verdrängung für problematisch hält, da er sich eher auf Prozesse der individuellen Triebabwehr bezieht, und die statt dessen den Begriff der Verleugnung vorschlägt; Vgl. LÖBSACK 1984, 30). Allerdings muss erkennbar werden, dass die Verleugnung von Tod und Sterben nicht allgemeingültig ist. Viele Menschen scheuen die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben oder begegnen ihr unrealistisch aber nicht alle und nicht in jedem Fall. Eine Verallgemeinerung würde die Verhältnisse nur unsauber wiedergeben und die Diskussion erschweren. Für die Vieldeutigkeit bedeutet das den Versuch einer zeitweiligen Einengung, zum Beispiel in Zeiten der Trauer, und für die Unverfügbarkeit eine eingeschränkte Verleugnung zugunsten von Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit.

Zuzustimmen ist den Vertretern der Tabuierungsthese m.E. in ihrer kritischen Gegenwartsanalyse, die auf den zum Teil unmenschlichen institutionellen und individuellen Umgang mit Sterbenden hinweist und deutlich zu machen versucht, dass viele todbringende Krankheiten und Todesängste in unserer Gesellschaft durch die zum Teil verantwortungslose Lebensweise der kommerzialisierten und militarisierten Zivilisation erst produziert werden (vgl. ALTNER 1981, 119; DOST 1984; GROSSARTH-MATICEK 1979, 15; SPIEGEL-RÖSING/PETZOLD 1984, 7).

Andererseits möchte ich darauf hinweisen, dass eine einseitige Kritik der medizinisch-technischen Entwicklung nicht im Interesse der vorliegenden Arbeit ist. Auch in diesem Bereich gilt es, eine differenzierte Sichtweise zu wahren. Über den zum Teil inhumanen Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden, für die eine Intensivtherapie zur Qual werden kann, darf die lebensrettende und deshalb humane Funktion von Reanimation, Beatmung, Infusionstherapie u.a. nicht vergessen werden.

Gemeinsam ist den Anhängern der Tabuierungsthese und ihren Kritikern und das scheint mir das Wesentliche zu sein das Bestreben, durch einen veränderten Umgang mit Tod und Sterben, ein anderes, humaneres Verhältnis zum Leben und damit auch zum Sterben zu gewinnen.

Die Diskussion hat gezeigt, dass Vieldeutigkeit und Unverfügbarkeit als Kennzeichen von Tod und Sterben im westlich-industrialisierten Kulturkreis des 20. Jahrhunderts durchaus ihre Berechtigung haben, dass aber der Umgang damit in vielen Bereichen problematisch ist. Eine veränderte Sichtweise von Tod und Sterben kann nur dann gelingen, wenn versucht wird, den vieldeutigen Zugang zu Tod und Sterben nicht einzuengen und die Unverfügbarkeit von Tod und Sterben auszuhalten und nicht zu verleugnen.

Der Versuch, mit Tod und Sterben anders umzugehen, der zum Teil heute schon bei der Aus- und Weiterbildung von medizinischem bzw. Krankenpflegepersonal berücksichtigt wird [Vgl. ABERMETH 3. Auflage 1983, 130 ff; EKERT/EKERT 1983, 108 ff.; KOCH/SCHMELING 1982; KRIMSAM u.a. 1982, 123 f.; REMSCHMIDT 1984, 303 ff.; SÖNTGERATH 1981, 101 ff.; WILLIG 1985, 118 ff. Die Thanatopsychologen HUCK/ PETZOLD (1984) geben einen ausführlichen Überblick über die gebräuchlichsten deutsch- und englischsprachigen Weiterbildungscurricula zum Thema Tod und Sterben.], darf aber nicht dazu führen, dass sich nur noch eine kleine Gruppe von Spezialisten mit Tod und Sterben befasst. Zugleich muss der Vorwurf an die Thanatopsychologie, sie wolle die Sterbenden lediglich zu einer besseren Anpassung an die stationären Anforderungen von Klinik und Altenheim anhalten und sie damit zu pflegeleichten Patienten machen, kritisch überprüft werden.

Wenn die Veränderung im Umgang mit Tod und Sterben zu einem bewussteren und verantwortungsvolleren Gestalten des eigenen Lebensweges beitragen soll, muss sich die Diskussion auf alle politischen und sozialen Bereiche des täglichen Lebens auswirken.

Ein pädagogischer Beitrag könnte darin bestehen, die Vieldeutigkeit des Sterbens von ihrer Einengung durch technokratische und einseitige wissenschaftlich-rationale Sichtweisen zu befreien und wieder erlebbar zu machen. Eine annehmbare Einstellung zu Tod und Sterben im Erwachsenenalter kann nur dann gelingen, wenn nicht versucht wird, Tod und Sterben aus dem Erfahrungshorizont junger Menschen künstlich auszugrenzen. Nur dann, wenn Kinder und Jugendliche mit Tod und Sterben konfrontiert werden und wenn Erwachsene bereit sind, sich auf die kindlichen Vorstellungen und Fragen einzulassen und die eigene Unwissenheit oder Unfähigkeit im Umgang mit Tod und Sterben zuzugestehen, wird es möglich, gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Konfrontation heißt nicht, dass künstliche Situationen geschaffen werden sollen, um den Kindern Erfahrungen vom Tod zu vermitteln. Vielmehr sollen Kinder dort, wo ihnen Tod und Sterben in ihrer Lebenswelt begegnet, darüber sprechen können, um zu lernen, sich konstruktiv mit Tod und Sterben auseinander zusetzen; denn "Kinder, die beim Tod von Angehörigen isoliert und sich selbst überlassen werden, sind in den meisten Fällen verwirrt und unfähig, das Leid, das, wie sie genau fühlen, die Familie betroffen hat, zu verkraften" (RUDOLPH 1979, 53).

In der gemeinsamen Aufgabe, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben und es auf diesem Weg fruchtbar für den weiteren Lebensvollzug werden zu lassen (vgl. LOCH 1979, 101), liegt die pädagogische Dimension des Todes. "Ein Leben ist nur erträglich, so unerträglich es auch sein mag, wenn es einen Sinn hat, wenn es einen zusammenfassenden Sinn haben kann. Der Un-Sinn, der Un-Fall, ein getrennter Lebensabschnitt müssen immer wieder in ein Gesamtbild des Lebens eingefügt werden ein Bild unseres Lebens, das vielleicht eine andere Form der Integrität unseres Körperbildes ist" (RAIMBAULT 2. Auflage 1981, 104).