FLORIAN BERLIN

 

Er setzte sich auf einen schmutzig roten Stuhl. Myriaden von Staubartikeln flogen durch die Luft. Der Raum war überhitzt durch die großzügige Fensterfläche, die Sonne brannte auf seinen Rücken. Tauwetter für Dicke. Schon seit Tagen war kaum Schlaf möglich. Er saß im eigenen Saft, sein Hemd klebte am Körper. Segestes fühlte sich müde, zerschlagen, schlapp und ihm war langweilig. Überaus langweilig! Auf dem Flur des Unternehmens für das er tätig ist, flogen an der geöffneten Tür bekannte, unbekannte und nicht gemochte Gesichter vorbei. Noch 4 Stunden bis zum Feierabend. Mahlende, zermalmende Stunden, die noch vor ihm lagen. Seine Gedanken machten sich auf den Weg.

Rot. Eine Signalfarbe! Warum hat der / die Verantwortliche - Gender ist wichtig - sich für diese Farbe entschieden? Rot! Schmutzig-Rot! Obwohl das Erstgenannte sich in den Folgejahren entwickeln durfte und das Zweiterwähnte verblasste, immer noch eine angenehme Farbe. Rot steht für: Guck genau hier hin! Bei attraktiven Wesen und Wesinnen schön, der Blick wird gelenkt. Vor allem wenn es sich um Signalrot handelt. Feurig, lodernd die Konturen des Körpers betonend, die Augen sind auf etwas Wesentliches gerichtet. Männer tragen weniger Signalrot. Sie verschenken es gern an ihre Partnerinnen. Warum? Segestes überlegte kurz und grinste in sich hinein. Wir haben es nicht nötig, denn Männer sind von Hause aus das schönere Geschlecht. Seine Frau hatte ihm noch keine feuerroten Strapse geschenkt, auch keine derart farbene Unterwäsche. Er ihr schon.

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Unternehmen sind eher grau. Die Damen haben sich dem Unscheinbaren auch angenähert. Am Anfang waren manche noch farbig, aber der Beruf sorgt für Beruhigung. Alltäglich, freudlos - die Tage austauschbar. Eben grau.

Warum mögen so viele Frauen Rot? Ihrer Menstruation wegen? Pfui, was für ein unpassender, typisch männlicher Gedanke! Kann nicht ganz stimmen. Er erinnerte sich an Porträts von Königen im samtenen, roten Ornat, Richtern in glänzenden Roben. Macht! Rot ist ein Symbol der Macht! Blut! Blutrot!

Geben von Leben: blutig, schmerzhaft, zukunftsgerichtet, friedlich. Die Macht der Liebe.

Nehmen eines / vieler Leben: blutig, qualvoll, hoffnungslos, zerstörend, Überlegenheit zeigend. Die Macht des Entseelens! Töte einen und du bist ein Mörder; töte hunderte und du bist ein Held. Ihm fällt spontan Karl der Große ein. Heute bekannt als einer der größten Könige des mittelalterlichen Europas, Tausende, Zehntausende starben für seine Machtansprüche oder im Namen des Kreuzes. Ein Ende fand das Gemetzel erst durch die Taufe Widukinds 785. Er bot mit seinen Sachsen lange erbitterten Widerstand. Helden, geschichtliche Persönlichkeiten brauchen fast immer Tote, um wahrgenommen zu werden.

Rot findet man in unzähligen Bannern und Landesflaggen. Albrecht der Bär wurde im 12. Jahrhundert Gründer der Mark Brandenburg. Er eroberte mit Feuer und Schwert, z.B. Berlin. Rot - Weiß - Rot mit einem Bären in der Mitte. Sollte es in der Gegend um Berlin Problembären gegeben haben? Ist Edmund Stoiber die Inkarnation eines Beraters des Markgrafen? Nö. Das Wort kommt aus dem Slawischen - berl - und bedeutet Sumpf. Die Phantasie der Menschen ist großartig. Pommes Rot Weiß. 1. FC Union Berlin. Eisern Union! Das Verbindungskabel vom Modem zum PC ist Rot!

Rot steht für etwas Machtvolles: maßgeblich für Herrschaft. Auch in der jüngeren Geschichte. Das Blut der Arbeiterklasse. Das Blut der Getöteten für ein menschenwürdiges Leben auf einem tragbaren Winkelement. Hier muss ich als Autor kurz eingreifen. Winkelement ist ein offizieller Terminus ehemals dominierender Sprachexperten der Deutschen Demokratischen Republik für Fahnen - eigentlich Fähnchen. Persönlich empfinde ich das Wort "geflügelte Jahresendfigur" für den Weihnachtsengel noch deplatzierter. Da muss eine Menge Alkohol in der Blutbahn geflossen sein.

1917 - die große sozialistische Oktoberrevolution. Das erste Land regiert durch eine sozialistisch-kommunistische Partei. Eine!! Demokratische Einparteienpolitik. Der Plural war komisch. Er schmunzelte. Plötzlich erinnerte er sich an ein Gedicht von Louis Fürnberg.

Das Lied der Partei, Louis Fürnberg, 1950 Sie hat uns alles gegeben.
Sonne und Wind und sie geizte nie.
Wo sie war, war das Leben.
Was wir sind, sind wir durch sie.
Sie hat uns niemals verlassen.
Fror auch die Welt, uns war warm.
Uns schützt die Mutter der Massen.
Uns trägt ihr mächtiger Arm.

Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!
Und, Genossen, es bleibe dabei;
Denn wer kämpft für das Recht,
Der hat immer recht.
Gegen Lüge und Ausbeuterei.
Wer das Leben beleidigt,
Ist dumm oder schlecht.
Wer die Menschheit verteidigt,
Hat immer Recht.
So, aus Leninschem Geist,
Wächst, von Stalin geschweißt,
Die Partei - die Partei - die Partei.

Was der Mensch nicht alles im Kopf behält und noch erstaunlicher Männer. Nach einer wissenschaftlichen Studie verliert der männliche Stirnlappen zwischen dem 18. und dem 45. Lebensjahr 15 Prozent seines Volumens. Deshalb habe ich wohl auch den Rest des Gedichtes vergessen, dachte Segestes.

Rot. Stalin-Rot. Diesen Massenmörder verehren immer noch Millionen. Zwar wurde er aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz neben Lenin entfernt und liegt nun profan an einer Mauer neben anderen Führern der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Er, der Millionen in den Tod schickte. Natürlich für die gute, die gerechte Sache.

Sein Nachfolger wurde 1953 Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, der die stalinistischen Verbrechen benannte, die Entstalinisierung einleitete, den Personenkult verurteilte, Reformen in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik auf den Weg brachte. Er sprach sogar von friedlicher Koexistenz mit den bürgerlich demokratischen Staaten. Das konnte nicht gut gehen. Leonid Breschnew, zu beschauen ist Knutschbacke als Kunstwerk auf der Berliner Mauer mit Erich Honecker, stürzt 1964 Nikita, und Chruschtschow wird auch aus der Partei ausgeschlossen. Wo liegt er, überlegte Segestes. Dann fiel es ihm ein, er wurde auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof beigesetzt.. Als Nestbeschmutzer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion durfte er nicht an der Kremlmauer dem sowjetischen Ehrenfriedhof seine letzte Ruhestelle finden. Stalin liegt genau dort! Ein Treppenwitz der Geschichte.

Die anderen sozialistischen Landesselbstherrlichkeiten von sowjetischen Gnaden ließen das mit der Aufarbeitung. Man sprach nicht darüber, also fand es niemals statt. Man hielt es mit den Reformen von Gorbatschow genauso. Wer etwas vom Hörensagen wusste, über drei Ecken, wahrscheinlich aus dem imperialistischen Ausland, angeführt von den Revanchisten der ewig rückwärtsgerichteten BRD, konnte nur ein Staatsfeind sein. Ins Loch mit ihm / ihr.

Diese Feinde des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschen Boden unter der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und ihrem Ersten Vorsitzenden und Generalsekretär Erich Honecker wurden Handelsgut. Für etwa 40.000 DM wurde es möglich gemacht, einen Gefangenen zu erwerben. "Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!"

Roth. Mit th. Sie ist Grün. Auch wenn sie mal feuerrote Haare trägt, ist sie Grün. Sie musste in diese Partei, denn Rot ohne h, dann kämen nur die Sozialdemokratie und die Linke in Frage, aber dann hätte sie eben einen anderen Nachnamen haben müssen. Laut ihrer Mitteilung besitzt sie ein Rotes Büchlein. Die Mao-Bibel. Es handelt sich dabei um Zitate und Veröffentlichungen Mao Tse-tungs. Ein Übermensch: der begnadetste, roteste, Entschuldigung: kommunistischste, liebenswürdigste, allwissendste Anführer, den die Welt je gesehen hat. Die Fahne Rot mit ein paar gelben Sternchen. Bis zu 70 Millionen sollen in seiner Regierungszeit vorzeitig verstorben sein. Stalin kam nur auf 50 Millionen. Looooooser!

Segestes griff zum Smartphone. Google: Mao-Bibel.
Auszug aus dessen Vorwort zur zweiten Auflage von Lin Biao:
„Genosse Mao Tse-tung ist der größte Marxist-Leninist unserer Zeit. In genialer, schöpferischer und allseitiger Weise hat Genosse Mao Tse-tung den Marxismus-Leninismus als Erbe übernommen, ihn verteidigt und weiterentwickelt; er hat den Marxismus-Leninismus auf eine völlig neue Stufe gehoben.
Die Ideen Mao Tse-tungs sind der Marxismus-Leninismus jener Epoche, in welcher der Imperialismus seinem totalen Zusammenbruch und der Sozialismus seinem weltweiten Sieg entgegengeht. Die Ideen Mao Tse-tungs sind eine mächtige ideologische Waffe im Kampf gegen den Imperialismus, eine mächtige ideologische Waffe im Kampf gegen Revisionismus und Dogmatismus. Die Ideen Mao Tse-tungs sind das Leitprinzip für die gesamte Tätigkeit der ganzen Partei, der ganzen Armee, des ganzen Landes. …“

Wow Lin Biao, da ging der Arsch auf Grundeis beim Schreiben, dachte Segestes. Gefällt es: rotes Lob, missfällt es: blutroter Tod. Er hatte das Vorwort überlebt, aber das muss ja nichts für die Zukunft bedeuten. Bei den netten Ideen von Mao gab es viele Möglichkeiten in die Schusslinie zu kommen: Aufruf zur Kritik, der Große Sprung nach vorn, die Kulturrevolution. Wieder zwei auf die die These zutrifft, dass geschichtliche Persönlichkeiten über Leichen gehen. Witzig fand Segestes dabei, dass es nicht einmal ihre Ideen waren, die sie umsetzten. Dafür war ein anderer, ein friedlicher Philosoph zuständig. Werden die, die diese Mao-Bibel heute lesen auch verstehen, was man im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts anrichtete? Mit Sicherheit nicht, urteilte Segestes, denn die menschliche Dummheit ist zeit- und grenzenlos.

Marx. Karl Marx. Er und Friedrich Engels beschrieben den Kapitalismus. Treffend und bis heute unübertroffen. Was hatte Segestes nicht alles lesen müssen von diesen Philosophen. Das Modalverb "müssen" impliziert nicht, dass er es immer getan hatte. Er kannte die gängigen Phrasen, die man gern hörte und dies war fast immer ausreichend. "Rote Soße" nannte er es als Schüler. Die Quintessenz eines schriftlichen oder mündlichen Gedankenganges im Fach Staatsbürgerkunde oder Geschichte (Klasse 10 und höher) war zwangsläufig der Sieg des Sozialismus / Kommunismus mit einer marxistisch-leninistischen Partei an der Spitze des Staates. Sollte man dies noch mit einem Zitat der beiden belegen können, stieg man in den Himmel auf.

Marx Nachfolger sind natürlich heute in der politischen Landschaft zu finden. Sie zitieren ihn selbstredend. Es ist en vouge. Man erscheint intelligent und revolutionär zugleich. Segestes fiel eine Karikatur des Eulenspiegels ein. Marx zuckt mit den Schulter: "Es war mal so `ne Idee." Ein Brüller nach der Wende. Nicht fair, dachte Segestes, nicht fair ihm gegenüber und schüttelte leicht seinen Kopf.

Marx und die deutsche Sozialdemokratie. Segestes erinnerte sich an dessen Kritik am Gothaer Programm. Karl war damals gelinde gesagt in Rage. Kopfschüttelnd, manche sprachen auch vom sich übergeben, trat er nach der Gesangseinlage 2013 der damaligen Generalsekretärin der SPD Frau Andrea Nahles am Himmel in Erscheinung. Dieses wurde von vielen Kommunisten weltweit beobachtet. Eine der glaubwürdigsten Sichtungen stammt von Kim Jong Un, des von allen Nordkoreanern geliebten Führers der kommunistischen Partei des glücklichsten Volkes auf Erden.

Segestes fiel ein Gespräch im Geschichtsseminar an der Universität ein. Der Faschismus und seine Wirkung auf die Volksmassen. Rot als Hauptfarbe der Staatsflagge des faschistischen Deutschlands unterlegt mit einem weißen Kreis und einem Hakenkreuz. Auch hier im Namen der staatstragenden Partei das Wort "sozialistisch". Der Gedanke amüsierte ihn. Was für ein Sturm der Entrüstung, wenn er dies heute öffentlich ausspräche. Bei den Linken, den Sozialdemokraten, den Grünen, den Schwarzen, den Gelben, die Letzteren werden heute in der politischen Farbenlehre nicht mehr ganz so wahrgenommen, den... und nicht zu vergessen den Braunen. Segestes malte sich kurz aus, wie der Shitsturm über ihn hereinbricht.

Seine Gedanken waren kurz abgeschweift. Uni, Professor, Volksmassen. "Herr Professor, die NSDAP organisierte Aufmärsche, um die Massen an sich zu binden, um ihnen die Macht der Partei zu signalisieren. Auch die Parteioberen zeigten sich. Die Fackelzüge der FDJ, die Aufmärsche zum 1. Mai, zum Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, die Militärparaden haben dieselbe Funktion?" Spontane Antwort: "Ja." Segestes sah wieder klar vor sich, wie erschrocken sein Prof. über seine Antwort war. "Dies bleibt aber in diesem Raum!"

Rot für Leben, Liebe, Blut, Macht, Tod und Angst.

Auf dem Flur schlendert langsam eine junge Frau mit kurzem roten Minirock vorbei. Was für Beine? Bis zum Boden! Bauchfrei! Signalfarbe Rot für Erotik!

Die Myriaden von Staubpartikeln flogen langsam in Richtung Boden. Fast musste er husten. Segestes stand auf. Sein verschwitztes Hemd war fast getrocknet. Seine Achseln rochen nicht, er hatte es überprüft.

Rote Stühle. Wer ist nur auf diese Idee gekommen?