Roland Braun

Hierarchie vs. Heterarchie
Die Ökonomietheorien Sartres
Luhmanns, Deleuzes/Guattaris und
Foucaults im Vergleich

Inhalt:

Einleitung

1. Luhmann und Sartre

2. Foucault und Deleuze/Guattari

Fazit

Literatur

 

"Wozu ist die Gesundheit gut? Es ist mehr wert, Kritik der dialektischen Vernunft zu schreiben (...)" - SARTRE

 

Einleitung

 

Um eventuelle Mißverständnisse bezüglich des Untertitels vorweg zu nehmen: Es werden nicht sämtliche Theorien untereinander, sondern nach Ressorts getrennt die Aussagen über Arbeit, Geld und Knappheit (bei Luhmann und Sartre) in einem ersten Kapitel, die über Natur und Umwelt (bei Foucault und Deleuze/Guattari) in einem weiteren gegenübergestellt. In beiden Kapiteln nimmt jeweils eine Konzeption die Position heterarchischen Theoriedesigns ein, die von der anderen heterarchisiert bzw. linearisiert [1] wird. In einem abschließenden Fazit soll allerdings doch noch die Möglichkeit einer weiteren Hierarchisierung der hierarchisierenden Modelle angedeutet werden: Damit erfüllt die Arbeit nicht nur den im Untertitel vollmundig suggerierten Vermittlungsanspruch aller Theorien mit- und untereinander, sondern outet sich von vorne herein selbst als hoffnungslos alteuropäisch.

 

1. Luhmann und Sartre

 

Obgleich es dem Kapitel über "Kapital und Arbeit" [2] nachgeordnet ist, entfaltet erst das "Knappheits" [3] -Kapitel in Luhmanns "Die Wirtschaft der Gesellschaft" "die Geschichte der Arbeit" [4]. Das Kapitel beginnt mit den folgenden Verweisungen:

 

"Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung [von Zugriffsentscheidungen oder Verteilungsentscheidungen, Anm.] (die letztlich in einer Unterscheidung von Welt und System verankert werden könnte) ist es möglich, die eigentümlich zirkuläre Struktur des Problems der Knappheit herauszuarbeiten." [5]

 

 

Luhmann verankert, wie man sieht, alle für ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium maßgeblichen Unterscheidungen letztlich in der fundamentalen, unhintergehbaren Unterscheidung von System und Umwelt.

Die Form der Unterscheidung zu einem Kalkül ausgebaut zu haben, welches leistungsfähig genug ist, um die gesamte Aussagenlogik ersetzen zu können, war das Verdienst von George Spencer Browns "Laws of Form". Diese läßt sich kurz skizzieren:

 

"Die ‚second order cybernetics‘, (...), verlangt nicht nur einen, sondern zwei Standorte der Beobachtung: (a) den ‚observer‘ als externen Beobachter und (b) denselben ‚observer‘ als einbezogenen, als internen Beobachter. Als einbezogener in seine Beobachtung ist der ‚observer‘ immer Beobachter und nicht Beobachtetes. Sonst wäre die für die gesamte Beobachtung konstitutive Differenz nivelliert. Seine Identität muß sich also spalten in einen externen und einen internen Beobachter. Als interner Beobachter ist er selbst Beobachter seines Beobachtens, er wird aber als Beobachter beobachtet und nicht als Beobachtetes im ursprünglichen Sinne. (...) Sein Konzept beansprucht, noch vor jeder Wahrheit und Falschheit einen Bereich des Formalen zu eröffnen. (...) In der Unterscheidung zweier Zustände wird einer mit einer Markierung versehen. Andererseits kann die Markierung gleichzeitig als Voraussetzung gesehen werden, um die Unterscheidung überhaupt vollziehen zu können. Der Akt der Unterscheidung hat eine Doppelnatur. Erstens wird eine Unterscheidung getroffen: Etwas ist verschieden von einem anderen Etwas. Zweitens wird einer dieser Zustände oder Objekte markiert, mit einem Namen belegt, bezeichnet. Spencer Brown verwendet für Interpretationszwecke häufig eine räumliche Metapher: Im Unterscheidungsakt wird ein bisher homogener Raum in zwei Teile zerlegt. Es wird eine Grenze gezogen und ein Teil ausgezeichnet, markiert. (...) Der Haupttext von Laws of Form endet konsequenterweise mit der Ineinssetzung der ersten Unterscheidung mit dem Beobachter. ‚We see now that the first distinction, the mark, and the observer are not only interchangeable, but, in the form, identical.‘ Dieser Wiedereintritt, ‚re-entry into the form‘, betrifft bei Spencer Brown die Architektur des Gesamtsystems: Der ‚observer‘ des Anfangs, der den Kalkül in Gang setzt, wird am Ende selbst zum Objekt seines Kalküls." [6]

 

Der für die folgenden Ausführungen interessanteste operationale Begriff ist sicherlich der des ‚re-entry‘, der sich mit dem Serreschen des "Parasiten" und dem anödipalen der "disjunktiven Synthese" [7]deckt. Da Luhmann die Geschichte der Arbeit "als die Geschichte des Parasiten" [8] erzählt, ist er für diese Arbeit von besonderem Interesse. "Da die arbeitenden Parasiten sich der Beobachtung nicht entziehen können" [9], lautet die entscheidende Frage:

 

"Wie kann der ausgeschlossene und wieder eingeschlossene Dritte sich im codierten System arrangieren?" [10]

 

Die Antwort lautet schlicht wie folgt:

 

"Er kann es nur, indem er sich selbst knapp macht (...)"[11]

 

Darum fallen auch Arbeitstheorie und "Parasitologie" [12] zusammen. Aus diesem Grunde erklärt Luhmann auch die seltsame Kontamination von Freiheit und Unfreiheit, die die ersten Gesellschaftsformen auszeichnete:

 

"Ältere Gesellschaften müssen der Arbeit, um sie als knapp erscheinen zu lassen, die Form des Eigentums geben. Nur über Eigentum konnte sich der Eigentümer einen Ausschnitt aus der begrenzten Gütermenge für sich selbst unter Ausschluß des Zugriffs anderer sichern. Wo dieser Mechanismus auf Arbeit angewandt wurde, wurde Arbeit zur Sklaverei – in Unterscheidung von freien Tätigkeiten, die man aufgrund sozialer Erwartungen oder auch sozialer Verpflichtungen übernahm." [13]

 

Weiterhin heißt es dann aber:

 

"Die Zweitcodierung der Knappheit durch das Geld löst diese Ordnung auf. Die Sklaverei wird überflüssig und daher aus humanen Gründen abgeschafft. Im Rechtssystem des 17. und 18. Jahrhunderts kann somit die Unterscheidung ius naturale/ius gentium, mit der man Sklaverei begründet hatte, aufgegeben und das neue ‚Völkerrecht‘ parallel zum Handelsfrieden (‚doux commerce‘) provisorisch auf naturrechtlichen Grundlagen in Gang gebracht werden. (...) Man kann den Umschlagpunkt in der Theorie bei Locke erkennen. Als Eigentümer seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten wird jedermann zum Sklaven seiner selbst. Die Sklaverei wird allgemein und dadurch aufgehoben. (...) Jeder kann arbeiten, ohne die Unterscheidung von Eigentum und Nichteigentum zu stören. Die Parasiten übernehmen das System." [14]

 

An dieser Stelle kommt nun der Luhmannianer Dirk Baecker ins Spiel: Dieser schrieb schon 1987 einen Artikel über das "Gedächtnis der Wirtschaft" [15], in dem Luhmanns ein Jahr später erschienenes Buch noch als Manuskript zitiert [16] und antizipiert wurde. Der Aufsatz findet hier besondere Beachtung, da in der Antizipation eine gewisse Überschuß-Produktion enthalten scheint: die Anmerkungen 15, 16 und 29 beziehen sich auf "die Fortschreibung der Kritik der politischen Ökonomie in einer Kritik der dialektischen Vernunft" [17], m.a.W. auf das Spätwerk Sartres und somit ausgerechnet auf das Werk, das ob seines alteuropäischen Hierarchisierens im Vorwort der "Soziale(n) Systeme" kritisiert wird. [18] So heißt es mit Verweis auf Sartre zum Geld, dem auslösenden Transformator von Sklaverei in Lohnarbeit:

 

"Das Geld fungiert als Gedächtnis der Wirtschaft, aber es erinnert an nichts – außer an sich selbst. Es ist das Medium der Kommunikation, das sich beliebigen Operationen anpaßt, aber doch von keiner eine Spur behält. Ein Medium par excellence der Dissoziation und Rekombination von vorgefundenen Sachverhalten, setzt es die Knappheiten kontingent, denen es sich momentweise anverwandelt. ‚Materielle Anwesenheit und unbestimmte Flucht‘ zugleich (...)"[19]

 

"Dissoziation und Rekombination": Was ist das anderes als "Disjunktion" und "Synthese" bzw. "Inklusion", um die scholastische Terminologie des Anti-Ödipus zu gebrauchen (wobei "Rekombination" nicht so sehr ein Äquivalent zu "Inklusion" als der einen Seite des Paares Inklusion/Exklusion, sondern vielmehr das begriffliche Re-Entry von Inklusion/Exklusion selbst ist, da es als Re-Kombination die Kombination von etwas vorher getrenntem assoziiert.) Natürlich gab noch gibt es hier keinerlei Diskrepanzen: Luhmann versteht ja Arbeit explizit als Parasiten, d.h. als eingeschlossenen-ausgeschlossenen Dritten. [20] Der entscheidende Unterschied zu Sartre, die Dissonanz im Einklang liegt aber – wenn auch bei Baecker nur verschämt in einer Anmerkung enthalten – darin, daß die "Kritik der dialektischen Vernunft" "den Mangel als konstitutives Problem nicht allein der Wirtschaft, sondern (...) der gesellschaftlichen Praxis insgesamt" [21] sieht. Sartre erscheint daher in Baeckers sechszehnter Anmerkung als dramatisierter und dämonisierter Luhmann:

 

"‘Daher existiert für jeden alle Welt (die Gesamtheit) insofern, als der Verbrauch irgendeines Produkts durch andere dort hinten ihm hier eine Chance entzieht, einen Gegenstand derselben Ordnung zu finden und zu verbrauchen. (...) selbst wenn die Individuen nichts voneinander wissen und soziale Schichtungen und Klassenstrukturen die Wechselseitigkeit glatt unterbrechen würden, existiert und handelt dennoch jeder, im Milieu des Mangels und innerhalb des bestimmten sozialen Feldes, in Gegenwart aller und eines jeden.‘ (Sartre, ebd. [Kritik der dialektischen Vernunft, Anm.], S. 135)" [22]

 

Weitere Zitate als die von Baecker verwendeten hätten bis in die behandelten Sujets hinein die Schnittpunkte zwischen Sartre und Luhmann noch deutlicher gemacht: So erfaßt Sartres Darlegung der Goldschwemme und Goldflucht, die aufgrund spezifischer innereuropäischer Zirkulationsbedingungen Spanien im 16. Jahrhundert heimsuchte, die Theorie des Geldes in einem Zuge mit der solidarischen "Teilung der sozialen Arbeit" (Durkheim), die die Sklaverei bzw. jegliches Souveränitätsverhältnis auflöst. [23] Das besondere jedoch – und damit zeichnet sich eine zweite Differenz in die Einheit mit Luhmann ein – liegt darin, daß Sartre dem eben wiedergegebenen Zitat seinerseits einen ausführlichen "Kommentar" [24] des zweiten Bandes von Braudels epochemachendem Geschichtswerk "Das Mittelmeer und die mediterane Welt in der Epoche Phillips II.", genannt "Kollektive Schicksale und Gesamtbewegungen" [25], vorangehen läßt. Die ‚geophilosophischen‘[26] Untersuchungen der "Annales d´histoire économique et sociale" nehmen aber nicht nur bei Sartre, sondern auch bei Foucault die gleiche zentrale Rolle ein, um Macht und Wissen zu verknüpfen. So heißt es in Deleuzes Foucault-Buch:

 

"Aber worin besteht die Grenze einer Familie, einer diskursiven Formation? Wie läßt sich dieser Einschnitt fasen? (...) Einzig eine serielle Methode, wie sie heute bei den Historikern Verwendung findet, erlaubt es, eine Serie in der unmittelbaren Nähe eines singulären Punktes zu konstruieren und andere Serien zu suchen, die sie in andere Richtungen, auf andere Ebenen verlängern."

 

Die serielle Methode wurde aber nicht umsonst von Marc Bloch, einem Stammvater der Annales-Schule [27], eingeführt [28], auf den sich auch Sartre bezieht [29]: Diese Referenz wird auch bei Deleuze mit einer Fußnote "zur seriellen Methode in den Geschichtswissenschaften", wenn auch mit Verweis auf den Bloch-Schüler Braudel, hinreichend deutlich gemacht. [30] Deleuzes Fußnote läßt sich daher als "Nachtrag" oder besser: als "Réécriture" [31] zur "Archäologie des Wissens" verstehen, da bei Foucault die Annales-Schule nur implizit, nie explizit auftaucht. Auch in Bezug auf Sartre kann die letztendliche Abhängigkeit von den "Annales" nur über einen Umweg nachgewiesen werden. Wenn Sartre sagt, daß "die Intelligibilität der dialektischen Vernunft leicht (...) als die Bewegung der Totalisierung selbst" [32] hergestellt, d.h. "Gewalt als Prozeß" [33] und Prozeß als Rationalität dekuvriert werden kann, dann kommt diese "Einheit der Dialektik als Gesetz der historischen Entwicklung" [34] zustande. Alle Historiker, auf die sich die "Kritik" bezieht, rekrutieren sich aber, heißen sie nun Braudel, Bloch oder Lefebvre, ausnahmslos aus der "Annales"-Tradition. Die Macht kommt daher wie bei Foucault in der "Kritik der dialektischen Vernunft" von einem "Außen", daß à la Luhmann eigentlich kein "Außen", da unbeobachtbar, mehr ist. [35]

 

2. Foucault und Deleuze/Guattari

 

In seiner Dissertation über Foucaults "Kritik der politischen Vernunft" rückt der Wuppertaler Soziologe Thomas Lemke erstmals den ‚ganzen‘ Foucault ins Blickfeld. Diesem Manöver liegt ein einfacher Gedanke zugrunde: Wenn Foucault Bücher zu Themen schrieb, über die er Jahre vorher Vorlesungen abhielt, sind die berühmt-berüchtigten Aporien, die normativen Löcher oder kryptonormativen Geltungsansprüche des Foucaultschen Denkens erst unter Hinzuziehung dieser (bisher nur auf Tonband zugänglichen) Vorlesungen zu beseitigen. Grob gesagt beschäftigt sich die Arbeit Lemkes mit den "Veränderung(en) des Ziels der Regierung" in ihrer Relation zu den "Verschiebung(en) im Regime des Wissens" [36]. Das neue Objekt, das am Schnittpunkt von Macht und Wissen entsteht, ist die Bevölkerung [37], die zugehörigen Technologien stellen die Politische Ökonomie und die Soziale Ökonomie bereit. Das "Problem der Anhäufung von Menschen" [38] wird so dringlich, daß die Gouvernementalität eine "Depolitisierungspolitik" betreiben muß, die "eine vollkommene Veränderung des Politischen mit sich bringt." [39]

 

"Wichtig wird das vor allem in Bezug auf das moderne Macht-Wissen, das sich immer auf ein Perzeptionsfeld nichtdiskursiver Milieuformationen sowie auf ein Wissensfeld diskursiver Aussageformationen stützt und auf die Dispositive angewiesen ist, in denen zunächst die Vielfalt der Substanzen die Schwelle der Disziplin errichtet (‚wenn das Verhältnis zwischen ihrer nützlichen Größe und ihrem Machteinsatz vorteilhaft wird‘) und dann die Disziplinen durch Verallgemeinerungen der Formen die Schwelle der Technologie überschreiten." [40]

 

Die Technologien, die nun an den "Macht-Pol" (Theweleit) gelangen, sind natürlich jene, deren Interessen sich auf das neue "Subjekt-Objekt ‚Bevölkerung‘" [41] richten und sich deshalb mit den Interessen der Regierung überschneiden. Genauso wie die "Gouvernementalität" als Wissenschaft vom Staate zwar dem neuen "Subjekt-Objekt ‚Bevölkerung‘" überhaupt erst eine Oberfläche des "Auftauchens" [42] bereitstellt und damit ihren eigenen Untergang als Staatsraison einleitet, so zerbricht auch der Merkantilismus, "der Versuch einer Versöhnung von Regierungskunst und Souveränität" [43], am "komplexen Beziehungsbündel" [44] Bevölkerung, da dieses "tendenziell die Operationsmöglichkeiten einer absolutistischen Souveränität" [45] transzendiert. Der Merkantilismus war die wirtschaftliche Hauptdoktrin des Absolutismus und blieb von daher noch den Grundlagen des Denkens vom göttlichen Ausgleich der Kräfte verhaftet: So waren Colbert und seine Schüler "davon überzeugt, daß die Geldmenge und das Handelsvolumen in der Welt wesentlich konstant seien." [46] Ein arithmetisches Denken, in dem die Negation, anstatt die Vielzahl der Möglichkeiten eines polykontexturalen Denkens zu eröffnen, die Positivität des Negierten um so stärker zum Ausdruck bringt und das noch Kants Versuch über die negativen Größen beherrscht [47], findet man wieder:

 

"Aus den Prämissen der konstanten Geldmenge und des konstanten Welthandelsvolumens zog Colbert den Schluß, daß ein Land seine Geldmenge und seinen Warenexport nur auf Kosten anderer Länder erhöhen könne: ‚Man kann (die Geldmenge im Lande) nicht um 20, 30 und 50 Millionen vermehren, ohne gleichzeitig dieselbe Menge den Nachbarstaaten wegzunehmen‘." [48]

 

Aber auch andere Kriterien, die die Zusammengehörigkeit dieser Politischen Ökonomie mit der Staatsraison deutlich machen, lassen sich ausmachen:

 

"Familienväter mit zehn oder mehr Kindern erhielten fast völlige Steuerfreiheit – vorausgesetzt, daß keines dieser Kinder Priester, Mönch oder Nonne war, d.h. einem Beruf angehörte, der mit Ehelosigkeit verbunden war." [49]

 

"Erziehung zu disziplinierter, guter Arbeit, Vermehrung der Zahl der Steuerpflichtigen (Peuplierung), Vermehrung und Verbesserung der Gewerbe und schließlich Vermehrung der Geldmenge im Lande durch eine aktive Handelsbilanz." [50]

 

Es war im wesentlichen die Orientierung am "Modell der Familie" [51], der Hauswirtschaft [52] und damit am juridischen Denken, daß den Merkantilismus unhaltbar machte. Regulationen konnte dieser, bei allen Peuplierungsprojekten, nur als "Gesetze, Verordnungen, Befehle" [53] denken. An den Peuplierungsbestrebungen selbst setzte nun aber die Kritik der Physiokraten um Quesnay (1694-1774) an:

 

"Entscheidend für diese bemerkenswerte Differenz zwischen Merkantilisten und Physiokraten ist die unterschiedliche Betrachtung des Subjekt-Objekts Bevölkerung. Während die Merkantilisten die Bevölkerung auf der Achse Souverän/Untertanen ansiedeln und als Rechtssubjekt betrachten, sehen die Physiokraten in ihr die Gesamtheit von Prozessen, die an sich natürlich sind und die ausgehend von dieser Natürlichkeit behandelt werden müssen. Im Gegensatz zur Vorstellung der Merkantilisten, nach der es nie genug Bevölkerung gibt, weil diese die Quelle des Reichtums ist, stellt sie für die Physiokraten keinen absoluten Wert dar, sondern eine relative Größe: (...) Das ‚richtige‘ Verhältnis lässt sich damit nicht festlegen; dies ist aber auch nicht nötig, da es sich von selbst ‚einpendelt‘ (...) Der Bezug der Physiokraten auf ‚Natürlichkeit‘ ist jedoch kein traditioneller Rest oder ein vormodernes Relikt, sondern markiert einen neuen historischen Einschnitt. Im Mittelalter war eine gute Regierung Teil der von Gott gewollten ‚natürlichen‘ Ordnung. Mit dieser Naturkonzeption, die das politische Denken in ein kosmologisches Kontinuum eingebunden und beschränkt hatte, brach das Denken der Staatsraison und setzte an ihre Stelle die Künstlichkeit des ‚Leviathan‘ (...)" [54]

 

Das ökonomische Denken sah sich jedenfalls gezwungen, naturrechtliche Vorstellungen durch die Hintertür wieder einzuführen:

"Mit den Ökonomen taucht die Natürlichkeit wieder auf – es ist jedoch eine andere Natur, die nichts mit dem göttlichen Schöpfungsplan zu tun hat. (...) so stellt die neue Gouvernementalität ihre Natürlichkeit erst künstlich her. Sie bezieht sich auf das Zusammenleben der Menschen untereinander, auf ihre Arbeit, auf Handel, Verkehr etc., das heißt auf die Naturalität der sich entwickelnden ‚Gesellschaft‘. Die neue Gouvernementalität orientiert sich weniger am Paradigma des Rechts oder der Disziplin, sondern am Modell des Marktes und der freien Zirkulation von Menschen und Waren." [55]

 

Den Übergang von Fremdreferenz zu Selbstreferenz (Markt als geschlossenes System, das sich selbst reproduziert), von Kontroll- zu CONTROL [56] -Wissen beschreibt daher auch Dotzler "in prominenter Weise am Konzept einer Unsichtbaren Hand" [57].

 

"Der Wohlstand der Nationen" ist daher zugleich ein ‚kritisches‘ Unternehmen im Sinne Kants: eine ‚Kritik der Staatsvernunft‘. Wie die Kritik der reinen Vernunft die Grenzen menschlicher Erkenntnis in Bezug auf den Kosmos aufzeigt, so hebt Smith die Unfähigkeit des Staates hervor, die Gesamtheit der ökonomischen Prozesse zu erfassen. (...) Der Staat gibt der Ökonomie nicht mehr sein Gesetz vor, sondern regiert nach den Gesetzen der Ökonomie." [58]

 

Es fällt auf, daß sowohl Lemke als auch Dotzler die Weiterentwicklung der Politischen Ökonomie unterschlagen – und das mit gutem Grund, führt doch, wie wir zeigen werden, die "Geschichte der ökonomischen Analyse" (Schumpeter) geradewegs zum Mega-Dispositiv Kapitalismus. Wie sah diese Weiterentwicklung aus:

 

"Während etwa weder Physiokraten noch Kameralisten eine Steuerung über den Preis akzeptierten, und während noch bei Smith der Marktpreis der Waren um einen scheinbar konstanten ‚natürlichen Preis‘ als dem Ausdruck einer angemessenen Verteilung der Reichtümer gravitiert, ist seinen Nachfolgern diese Unterscheidung selbst chimärisch geworden: Man folgt der erstaunlichen Feststellung, daß gerade der – nominale oder ‚fiktive‘ – Geldpreis das Verhalten von Kauf und Verkauf und die Folge ökonomischer Transaktionen reguliert. Das bedeutet zunächst, daß das System der Ökonomie stets im Übermaß arbeitet und niemals zum Nullpunkt des Ausgleichs und der geschlossenen Zirkulation zurückkehrt." [59]

 

Diese neue Ökonomie markiert aber nichts anderes als den Übergang von Homöostase zu Entropie: Nicolas Léonard Sadi Carnots geniale Gedankenspiele in den "Betrachtungen über die bewegende Kraft des Feuers" zeigten im Umkehrschluß, daß es keinen hypothetischen Kreisprozeß geben kann, der mehr Energie liefert als ein idealer Carnotscher Kreisprozeß [60], da ersterer ja folglich letzteren endlos antreiben müßte, was zu der Annahme eines Perpetuum mobile hätte führen müssen, wäre von Simon Stevin nicht schon im 16. Jahrhundert bewiesen worden, daß es ein solches nicht geben kann:

 

"Die bewegende Kraft der Wärme ist unabhängig von dem Agens, welches zu ihrer Gewinnung benutzt wird, und ihre Menge wird einzig durch die Temperaturen der Körper bestimmt, zwischen denen in erster Linie die Überführung des Wärmestoffes stattfindet." [61]

 

Carnots Antizipation des berühmten zweiten Hauptsatzes basiert zwar auf falschen Prämissen, trifft aber im Irrtum insofern den Kern der Sache, um die es hier zu tun ist, als die scheinbar marginale Technikmetaphorik einen Überschuß produziert, der die anti-ödipale Kontamination von Entropie und Kapitalismus einleitet:

 

"Nach den bisher festgestellten Begriffen kann man sehr angemessen die bewegende Kraft der Wärme mit der des fallenden Wassers vergleichen: beide haben ein Maximum, welches man nicht überschreiten kann, welches auch einerseits die Maschine sei, welche die Wirkung des Wassers empfängt, und welches andererseits der Stoff sei, welcher die Wirkung der Wärme empfängt." [62]

 

Als Äquivalent zum reinen Gedankenspiel bietet sich daher folgendes Bild an: der hypothetische Kreisprozess, der mehr Energie liefern soll als der Carnotsche, stellt die Arbeiter vor, die das Wasserrad entgegen der ‚natürlichen‘ Fließrichtung des Wassers drehen (Irreversibilität!). Nächster Schritt: Umkehrung des Carnotschen Umkehrschlusses, retour en arrière, Auftritt des Kapitalismus, kurz: Möglichkeit des Perpetuum mobile. 1. Voraussetzung: Es muß von außen genügend Energie hinzugefügt werden; 2. Voraussetzung: Das System darf keine Transzendenz mehr kennen. Insgesamt: Koppelung zweier Begriffe, die ansonsten nach Ressorts getrennt sind: Kapitalismus und Schizophrenie, Großtitel von Deleuze/Guattari. Filiation des Anti-Ödipus von daher: Luhmann meets Serres (Es kommt schon mal vor, daß Söhne vor ihren Vätern geboren werden.). Das allgemeine Attraktionsgesetz des Kapitalismus lautet daher: Je mehr Selbstreferenz, desto mehr Parasitismus. Zunächst zum Parasitismus:

 

"Er [der Parasit, Anm.] ist selbst ein Rauschen des Systems, das sich nur durch ein Rauschen ersetzen läßt. (...) so ist das Rauschen der Sturz in die Unordnung, ist es der Anfang einer neuen Ordnung." [63]

 

Konkret heißt das bei Deleuze/Guattari:

 

"Diese Bewegung der Verschiebung gehört essentiell zur Deterritorialisierung des Kapitalismus. Deren Prozeß führt (...) vom Zentrum zur Peripherie, das heißt von den entwickelten zu den unterentwickelten Ländern, die keine abgesonderte Welt, vielmehr einen wesentlichen Teil der weltumspannenden kapitalistischen Maschine bilden. (...) Denn grundlegend falsch zu glauben, daß die Exporte der Peripherie vor allem aus traditionellen Sektoren oder von archaischen Territorialitäten stammen: sie gehen vielmehr aus modernen und reichen Mehrwert erzeugenden Industrien und Plantagen hervor, woraus zu schließen ist, daß nicht etwa die entwickelten Länder Kapitalien an die unterentwickelten liefern, sondern umgekehrt. So sehr ist wahr, daß nicht nur ein einziges Mal, an der Wiege das Kapitalismus, die ursprüngliche Akkumulation stattgefunden hat, sondern permanent ist und sich unaufhörlich reproduziert. Der Kapitalismus exportiert filiatives Kapital." [64]

 

Ebenso notwendig erweist sich wieder einmal die Fort- und Umschreibung des marxistischen Diktums von der ursprünglichen Akkumulation [65] in die Permanenz von göttlicher Aufzeichnungsenergie, Numen. Weit entfernt, sich nach Aristotelischem Vorbild nach einmaliger Schöpfungsleistung von der Welt zurückzuziehen, konstituiert sich Gott vielmehr als diese Permanenz selbst, d.h. als Kapitalismus:

 

"Lat. Per = durch, weg; manere = bleiben, fortwähren; permanent: ‚durch die Bank bleibend‘, ‚die ganze Zeit über fortwährend‘. Hinsichtlich der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet Permanenz aber, daß nichts unter dem Prinzip der Trennungsenergien so bleiben kann, wie es ist. Permanent ist das Prinzip der gesellschaftlichen Veränderung, sobald einmal ursprüngliche Akkumulation ein so massiv angehäuftes Maß an Trennungspotentialen aufgegriffen hat, daß ein äußerst stummer Zwang der ökonomischen Verhältnisse (des Kapitalismus) und ein innerer stummer Zwang mitproduzierter radikaler Bedürfnisse eine Dialektik von Regression und Progreß auslöst." [66]

 

Der Kapitalismus als Deterritoialisierungsbewegung, die den Raum in marked/unmarked space aufteilt, was etwas ganz anderes ist, als sich in einem Raum zu verteilen [67] und somit zur Erfüllung der zweiten Prämisse überleitet:

 

"Unter diesem Aspekt schon erweitert sich unaufhörlich der gesellschaftliche Immanenzzusammenhang, wie er sich im Zurückweichen und der Transformation des Urstaates enthüllt, und nimmt derart eine ihm eigentümliche Konsistenz an, die offenbart, daß der Kapitalismus für sich selbst das allgemeine Prinzip, wonach die Dinge nur dann gut gehen, wenn sie fortwährend in Unordnung geraten, gestört werden, zu interpretieren vermochte: die Krise als ‚immanentes Mittel der kapitalistischen Produktionsweise‘." [68]

 

Schlagen wir nun, am Ende dieses Kapitels sowohl als auch dieser Arbeit, aber noch einmal bei Luhmann nach, so stellen wir fest, daß dieser dem Pysiokratismus bzw. dem Neophysiokratismus ebenfalls eine besondere Rolle zuerkennt: Abseits der bloßen wissenssoziologischen Betrachtung, die grosso modo mit dem Projekt Foucaults koinzidiert, konstatiert Luhmann, daß sich die "ökologische Kommunikation" zwischen Wirtschaft und Gesellschaft erst dann evolutiv durchsetzen kann, "soweit es gelingt, Umwelt in dieser Form in die Wirtschaft einzubringen und über Mengen- und Nutzenkalküle zu internalisieren" [69]. Erst dann "kann es ein wirtschaftliches Motiv geben, die Umwelt pfleglich zu behandeln, wie die Eigentumstheorie der Physiokraten es vorgesehen hatte." [70] Im Gegensatz zu Foucault und in Übereinstimmung mit Deleuze/Guattari beharrt Luhmann darauf, daß die historische Aporizität einer Theorie letztlich nichts an deren Wahrheitswert ändert. Vereinfacht gesagt hat sich seit der physiokratischen Wende, die ja, wie der Anti-Ödipus zeigt, mit der Entstehung des Kapitalismus einhergeht, eben nicht mehr viel getan. Damit bestätigt sich, daß

 

"(...) der ‚Anti-Ödipus‘ als umfassende Gattungsgeschichtsphilosophie diesem Rationalitätsprogreß [des Kapitalismus, Anm.] mimetisch anheimgegeben (ist), daß kein Motiv des Fortschritts mehr genannt werden kann und in der abgedichtetsten Homogenität der ratio Sinn, Denken, Reflexion und all dergleichen provinziell ödipaler Unfug schließlich kollabieren müssen." [71]

 

Fazit

 

Wir haben gesehen, daß von den zwei untereinander verglichenen Theoriegebäuden je eine die Linearisierung der anderen übernahm: im ersten Falle war es Sartre, der die Knappheit vom spezifischen Charakteristikum der Wirtschaft zum universellen Begriff des Mangels ontologisierte und damit Luhmanns anti-pyramidales Patchwork symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien rigoros totalisierte; im zweiten Fall war es die Weiterentwicklung der physiokratischen Ökonomie, die im Anti-Ödipus die rein deskriptive Ebene Foucaults hinter sich läßt und somit von Genesis auf Geltung [72] umstellt. Andererseits ist es auch gelungen, mittels der "école des annales" eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Kapitel herzustellen. Dieser Umweg macht die Vorteile des geschichtlichen Ansatzes Sartres einerseits, Foucaults andererseits deutlich: der Aufweis des "historischen Apriori" markiert die Genesis-Gebundenheit einer jeden Theorie [73]. Die Ökonomien Luhmanns und Deleuzes/Guattaris widersprechen dem genealogischen Ansatz auch gar nicht, sondern bauen vielmehr auf selbigem auf, machen jedoch das "Mega-Dispositiv Kapitalismus" (Rudolf Heinz) und das damit einhergehende wirtschaftstheoretische Paradigma physiokratischer Provenienz so stark, daß dieses quasi als der heroische Überlebende einer Evolutionsgeschichte erscheint, die damit ein Endstadium erreicht hat, das jegliche Veränderung (um nicht zu sagen: Revolution) undenkbar macht. Im Sinne Nietzsches ("Noch mehr Dekadenz!") bleibt dann aber nur noch ein "Wenn schon – denn schon" zu konstatieren, d.h.: Wenn die (Neo)Physiokratie schon das letzte Wort hat, dann bitte nicht nur heterarchisch eingeengt bei Luhmann, sondern als hierarchisierende Total-Theorie in der Nachfolge Sartres. Die Berechtigung einer solchen Forderung ließe sich aber nur über einen detaillierten Vergleich der ontologischen bzw. postontologischen Fundamente der Theorien Luhmanns und Sartres nachprüfen. Ein solcher konnte hier natürlich nicht geleistet werden. Die vorliegende Arbeit konnte immer nur die Vogelperspektive einnehmen, wenn es darum ging, die behandelten Konzepte zu vergleichen. Es wurden daher nie die Theorien selbst, sondern nur ihre "Spitzen" miteinander verglichen. Wer auf dem höchsten Berge steht, der lacht, wie Nietzsche weiß, über alle Trauer-Spiele und Trauer-Ernste, m.a.W. kann ein gewisser überheblicher Charakter des Textes nicht verborgen bleiben. "Die Ebene ist hoch, aber keiner steht drauf!" (Karl Kraus) – daher hier und jetzt mein kleines Schlußgebet: Im Namen aller Alteuropäer bekenne ich meine Vorliebe für totalisierende Theorien (Sorry, liebe politische Studentenschaft, aber gehen die Faschismus-Vorwürfe eigentlich nie aus?), aufrichtige Abbitte muß ich auch allen Postmodernen, der Generation XTC (da müssen Literaten lange drüber nachdenken) und sonstigen Neo-Neo-Neo-‚was-weiß-ich‘-lern leisten, ohne die auch mein armes Selbst sicherlich irgendwo zwischen Medien- und Zeichentheorie dekonstruierend versandet wäre. Gewiß, Luhmann "is an honourable man, so are they all, all honourable men" (Shakespeare) – doch vielleicht hat die "Gesellschaftstheorie ohne Gesellschaft" (Rudolf Bluhm) und vor allem ohne Welt [74] auch diesen Sinn: die Dinghaftigkeit der Dinge abzuwerten, die Materialität der Körper zwar nicht abzuschaffen, aber doch zu transformieren in einen Zustand, der fast das Nichts ist.

 

 




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