FLORIAN BERLIN

 

Endlich, ein Termin mit dem Verhaltenspsychologen stand an. Mein Hausarzt hält nicht viel von den Seelendoktoren. Ich setzte viel Vertrauen in diesen Termin. In Treptow betrat ich eine schöne Altbauwohnung. Kein Raum mit Kranken, kein leises Gemurmel, kein Karbolgeruch, kein Anmeldungstresen, keine Schwester. Der Arzt führte mich in einen angenehmen Raum. Das Farbspiel des Raumes empfand ich als wohltuend. Kein Rotes Sofa, auch der große Sessel des Psychologen im englischen Stil fehlte. Er wies mir einen Platz in einer für mich gewöhnungsbedürftigen Sitzgelegenheit zu. Eine Art Liegestuhl, ein Ansehen des Gegenübers schwerlich bis gar nicht möglich. Mein Blick war stetig zur Decke gerichtet.

Er wies mich darauf hin, dass es sich um ein Erstgespräch im Rahmen von 60 Minuten handele und dieses für mich kostenfrei sei. Gern hätte ich ihm in die Augen gesehen. Für mich in einem Gespräch ein No-Go. Die nonverbale Kommunikation fällt ins Wasser.

Ich versuchte ihm die Zwänge klar zu machen, in denen ich mich gefangen sah. Einerseits die Wohnung, die eine Erkrankung nicht zuließ, da monatlich eine genau definierte Summe verdient werden müsse und anderseits der Job, der mich seelisch und physisch auffraß. Einem wildfremden Mann erzählte ich von meinen Lebensbedingungen. Berichtete ihm vom hin- und herschubsen eines Honorardozenten, der Abhängigkeit von den Firmen, der enormen Stundenzahl, da man nicht bereit ist, faire Entgelte zu zahlen. Ich eröffnete ihm, dass ich am liebsten alles hinwerfen möchte. Aber was soll ein ehemaliger und dazu noch ausgebrannter 48jähriger Honorardozent machen? Keine Hilfe der Arbeitsagentur möglich, da ich aus der Selbstständigkeit komme. Selbst Hartz IV gäbe es für mich nicht, da meine Frau zu viel verdient und ich es niemals zulassen werde, dass meine Schöne mich durchfüttert. Ich sprach von dem ähnlichen Zusammenbruch 1995. Wie ich diese Zeit durch autogenes Training meisterte. Die Qualität der Kraftlosigkeit sei nach meiner Einschätzung dieses Mal jedoch viel höher. Ich sprach von dem Buch, das ich begonnen hatte zu schreiben, um selbst eine Antwort auf die Ängste zu finden und um mit meiner Krankheit umgehen zu können.

Er fragte nach meinen Schülern und welche Erlebnisse sich mir am meisten ins Hirn gebrannt haben. Oh, welche Begebenheit erzählen? Die aus dem schönen Charlottenburg, wo ein Aufschrei den Unterricht beendete?

„Scheiß Türke, was bildest du dir ein, mir zwischen die Beine zu fassen!“

Die junge Frau stand auf und schlug zu.

„Was zickst du deutsche Schlampe. Das willst du doch!“
„Guck doch mal in den Spiegel du Sau!“
„Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass eine Ihnen fremde Frau es mag, von Ihnen in den Schritt gefasst zu werden? Stellen Sie sich bitte vor, ein fremder Mann würde Ihre Schwester einfach so berühren“.
„Ist doch nur Nutte! Keine Frau mit Ehre. Türkische Frauen besitzen Ehre, aber nicht diese Schlampe. Guck doch, wie sich die Hure anzieht! Blonde deutsche Schlampen fickt man. Einen Schwarzkopf heiratet man. Ihr Deutschen habt ständig Probleme mit Frauen, weil ihr sie nicht züchtigt.“
„Ihre Logik ist in sich völlig absurd. Verlassen Sie bitte den Raum! So ein Miteinander dulde ich nicht. Eine Entschuldigung ist angebracht, meinen Sie nicht?"
„Was willst du denn? Ihr habt doch sowieso bald nichts mehr zu sagen hier. Wir ficken euch aus dem Land.“

Oder eine Episode aus Schöneberg, wo in aller Regelmäßigkeit das Frauenklo unter Wasser gesetzt wurde. Der kleine Hygienebehälter wurde dann, nachdem die Fluten den Flur erreicht hatten, geleert, sodass die kleinen Schiffchen sich ein blutiges Gefecht lieferten. Die Schulleitung reagierte und richtete dort das Herrenklo ein. Nun hing ab und zu brennendes Klopapier im Flur. Man hatte es mit Exkrementen an die Wand gepappt. Was für eine Sauerei! Auch eine Begebenheit mit voll geschissenen Mülleimern fiel mir wieder ein.

Aber die Episode aus Reinickendorf sprudelte aus mir heraus. Ich unterrichtete Deutsch. Die Jugendlichen hatten keinen Schulabschluss erreicht. Ziel war es festzustellen, ob sie in der Lage seien, den Hauptschulabschluss zu schaffen und oder eine Berufsausbildung. Mit dem Schulstoff Lehrplan 8. Klasse waren sie zwar hoffnungslos überfordert, aber sie gaben sich immer wieder Mühe. Es war also nicht wichtig, Wissen in einer streng definierten Zeit zu vermitteln, sondern ich konnte mich methodisch austoben. Eine junge Frau brachte einmal ihrem Freund mit. Ria liebte diese ihr bis dahin fremde Art zu lernen. Sie und die anderen legten mit fest, was wir lernen wollten und natürlich arbeitete ich mit viel Lob. Dieses kannten die Schüler /innen nicht und waren anfangs sehr skeptisch. Sonst immer die Blöden, die Doofen und nun Anerkennung?

Sie wollte ihm zeigen, wo sie gern zur Schule geht. Ihr Freund langweilte sich, nahm ihre Hand und legte sie auf seinen Schritt. Sie verschwand dann unter dem Tisch, öffnete seine Hose.

„Ria, wir haben Unterricht. Dafür habt ihr zu Hause mehr Zeit und keine Zuschauer.“

In der Bank hinter ihnen saß Karl. Noch nie, war er dem Sex so nahe. Er konnte mit der Situation nicht umgehen. Wie auch? Selbst für mich war dies Neuland. Karl hatte kleine Flieger gefaltet. Er tat dies immer im Unterricht und warf diese nun durch den Raum. Sonst flogen sie erst in der Pause. Er bemühte sich dabei sehr, den Blick auf seine Flugzeuge zu richten. Er kämpfte, aber es gelang ihm nicht. Eine andere Mitschülerin entnahm aus einer Kübelpflanze Tonkügelchen und schleuderte diese sehr geräuschvoll durch den Raum. Ich ging zur Bank und forderte Ria energisch auf, die Fellatio zu beenden. Danach brach ich den Unterricht ab. Ich war schockiert über diese sittliche Verrohung.

Weiter eröffnete ich ihm, wie ich versuchte, Ende Oktober in eineinhalb Wochen wieder auf den Damm zu kommen, dies scheiterte und ich Stück für Stück meinen Unterricht abbaute, bis ich im Dezember komplett psychisch zusammenbrach. Ich erwähnte meine vergeblichen Versuche, einen Psychologen zu finden, der mir hilft. Führte die Panik an, die mich in den eigenen vier Wänden erfasste und mich an meinem gesunden Verstand zweifeln ließ.

Auf Nachfrage nannte ihm meine Medikamente. Bei Faustan stutzte er.

„Alle Patienten, die Diazepam nehmen, lügen.“
"Bitte?"
„Alle Patienten, die Diazepam nehmen, lügen.“

Ich verwies auf das Jahr 1995, in dem ich ebenfalls Faustan nahm, ohne davon abhängig geworden zu sein.

War das noch gesundes Misstrauen einem Patienten gegenüber? In meinen Augen nein. Er fragte, wie oft ich das Medikament schon genommen habe. Ich antwortete ihm wahrheitsgemäß, viermal im Unterrichtsverlauf der Monate November und Dezember, dreimal beim Autofahren sowie beim Einkauf der Gitarre meines Sohnes am 29. Dezember. Er glaubte mir nicht. Er sah in mir einen verschlagenen, lügenden Süchtigen.

„Haben Sie Faustan im Auto?“
„Ja, es ist so platziert, dass ich es schnell einnehmen kann. Eine Tablette trage ich immer am Mann, um eine Panikattacke außerhalb der Wohnung schnell zu beenden. Das Medikament gibt mir Sicherheit.“
„Ich werde Sie nicht als Patienten nehmen. Außerdem sind Sie bei mir, einem Verhaltenspsychologen, falsch. (Den Satz hatte ich schon oft telefonisch von Psychologen gehört, die mich immer auf ihre Kollegen die Verhaltenspsychologen hinwiesen.) Was ich Ihnen aber sagen kann, Sie gehen mit Ihrer Krankheit schon ganz gut um. Dass es in Ihrem Job so stressig sein kann, hätte ich nicht gedacht. Ihre Probleme möchte ich nicht haben.“

Mein Hausarzt hatte von Anfang an gesagt, dass es nur heraus geworfenes Geld sei und die Zeit man eh besser nutzen könne. Klare Zustimmung meinerseits! So ein Ar..!