1 Positivismus

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1.16 Nachwirkungen

1. Gegenwärtig gibt es in der europäischen Literaturwissenschaft keine Schule oder Richtung, die sich bewusst als positivistisch bezeichnen würde. In manchen der gegenwärtigen Verfahrensweisen zeigen sich jedoch eine ganze Menge Ähnlichkeiten mit dem vormaligen Positivismus. So können empirisch-deskriptive und induktive Verfahrensweisen als positivistisch oder positivismus-verwandt bezeichnet werden, wenn dabei die Ausrichtung auf das literarische Werk, auf seinen Autor und den gesellschaftlichen Hintergrund gegeben ist. Entsprechendes gilt für eine Einstellung, der es um die Beschreibung und Analyse des Stoffes, um die Entdeckung neuer Quellen, um die Dokumentation und um den Beweis der erforschten Resultate geht. Vieles, was die Rezeptionstheorie und die Wirkungsgeschichte entwickelt haben, war im Positivismus ebenfalls schon vorgedacht: die Funktion des Lesers in der Gesellschaft und die Wirkung des Leserpublikums auf die Meinungs- und Geschmacksbildung in der Gesellschaft.

Positivismus-verwandte Bestrebungen sind auch in der Textkritik und Editionstechnik zu finden sowie in genetischen Forschungen, die das Entstehen bedeutender literarischer Werke erhellen helfen.

2. In der Literaturtheorie setzt sich die positivistische Tradition in der beschreibenden analytischen Darstellungen der einzelnen Bestandteile des Werkes fort, in der Aufgliederung ihrer empirisch feststellbaren Kennzeichen, besonders wenn solche Bestrebungen nicht auf eine systematische Erfassung des literarischen Werkes als Ganzheit ausgerichtet sind. Das gilt vor allem auf dem Gebiet der Metrik und des Stils, wenn mathematische bzw. statistische Erfassungen der einzelnen Elemente z.B. in die Theorie des Verses hineingebracht werden. Dort, wo solche Darstellungen isoliert vorgehen und die erzielten Ergebnisse wegen ihrer mathematischen Exaktheit als die objektivste und beste wissenschaftliche Methode darstellen, liegt eine positivismus-verwandte Einstellung vor.

Von einer Verwandtschaft mit dem Positivismus kann auch dort gesprochen werden, wo versucht wird, literarische Werke aus Bereichen außerhalb der Literatur und aus den wesentlichen Zügen und Gesetzmäßigkeiten dieser Bereiche zu erklären – sei es aus der Psyche des Autors oder der seiner sozialen Umgebung. Dabei sind jedoch die Modelle des Seelenlebens komplizierter und aufgegliederter als das seinerzeitige positivistische Modell.

Das Bestreben, im Rahmen der Betrachtung der menschlichen Gesellschaft eine einseitige Abhängigkeit der Literatur und somit Kausalität zu erarbeiten oder von einem völligen Determinismus auszugehen, verbindet den Positivismus mit dem Marxismus, vorrangig mit dessen eher dogmatischen Ausformungen. Eine Verwandtschaft besteht auch dort, wo die Literaturwissenschaft sich nach dem Beispiel und unter dem Einfluss der empirischen Soziologie entwickelt hat, etwa bei Robert Escarpit. Hier werden die Wirkungen der Literatur im sozialen Raum untersucht; diese sozialen Prozesse sind der empirischen Forschung zugänglich und werden durch soziologische Methoden erschlossen.

Auf das Fortwirken der positivistischen Tradition in der Literaturgeschichte und der Vergleichenden Literaturwissenschaft sei hier nur global hingewiesen.[3]

[3] Vgl. Konstantinovic, Reh, Sauerland (1990), 46f. Vgl. dort auch die knappen Ausführungen zum Neopo-sitivismus (47f.)


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