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9.2 Ausbau der profanen Orientierung[54]

Zentrale Aspekte der mit der Position profaner Vernunft verbundenen Handlungs- und Lebensorientierung lassen sich ausgehend von anthropologischen Grundannahmen verdeutlichen. Der Mensch ist für uns ein Wesen, das erstens unterschiedlichen Formen des Realitätsdrucks ausgesetzt ist und das zweitens diesen Druck bewusst erlebt und ihn verarbeiten muss. Zu verarbeiten sind z.B. die Sterblichkeit, die Leidanfälligkeit, die Umweltabhängigkeit, die Verhaltensunsicherheit.

Grundsätzlich lassen sich zwei Formen unterscheiden, wie man einen Realitätsdruck verarbeiten kann: die realistische und die illusionistisch-kompensatorische. Man kann einem Druckfaktor standhalten, d.h. ihn, wenn er ‘unveränderlich’ ist, akzeptieren bzw. wenn er ‘veränderlich’ ist, an seiner Verminderung oder Ausschaltung arbeiten. Man kann einem Druckfaktor aber auch ausweichen, d.h. ihn in der ‘Phantasie’ aufheben, ohne ihn auch ‘real’ aufheben zu können. Der Wunsch, der Druckfaktor x möge nicht bestehen, verschafft sich durch Ontologisierung oder Projektion eine scheinhafte Befriedigung.

Das Ideal, mit so wenig Vorurteilen oder Ideologien(-) wie möglich auszukommen, lässt sich nun prinzipieller als das Ideal formulieren, möglichst konsequent in allen Lebensbereichen eine realistische Haltung des Standhaltens einzunehmen und die ‘verführerische’ illusionistische Haltung des Ausweichens zu überwinden. Der anthropologische Realist ist bestrebt, dem Druck, der auf dem menschlichen Leben liegt, standzuhalten, um ihn, wo dies möglich ist, abzubauen. Wenn sich unmäßige Wünsche und überspannte Erwartungen breitmachen, hat der illusionistische Weg Hochkonjunktur und die mögliche reale Verringerung des Realitätsdrucks durch eigene Anstrengung wird versäumt.

Der anthropologische Realismus ist ein Angebot für den eigenen Lebensvollzug, das niemandem aufgezwungen werden soll. Es geht nicht darum, Menschen z.B. zu einer vorurteilskritischen Haltung zu nötigen. Und es ist auch anzuerkennen, dass die Möglichkeiten, sich dem angegebenen Ideal zu nähern, unterschiedlich sind. Ich halte jedoch daran fest, dass jeder Mensch zumindest kleine Lernprozesse dieser Art vollziehen kann, und jeder kleine Schritt ist wichtig.

Eine Hauptdifferenz zu den Weltauffassungen offener Religiosität besteht darin, dass diese Überlegungen auch zu einer grundsätzlichen Problematisierung mythisch-religiöser Vorstellungskomplexe führen. Diese verweisen nämlich vielfach auf Formen illusionistisch-kompensatorischer Druck-Verarbeitung, z.B. in der Form, dass ‘höhere Wesen’ ersonnen werden, die den jeweils anstößigen Druck-Faktoren nicht unterliegen, oder in der Form, dass im Menschen selbst eine ‘höhere Sphäre’ angenommen wird, die un-sterblich ist.

Die Position profaner Vernunft vertritt also ein umfassendes Ethos des Standhaltens gegenüber allen Formen des Realitätsdrucks, verbunden mit dem Prinzip der aktiven Verringerung der änderbaren Druck-Faktoren. Das bedeutet eine weltanschauliche Gegnerschaft zu allen Denkformen, die unter dem Verdacht stehen, dem Verlangen nach scheinhafter Entlastung von diesem oder jenem Realitätsdruck nachzugeben. Das in allen Fundamentalismen spürbare Gewißheits- und Sicherheitsverlangen etwa kann aufgefasst werden als Versuch, dem Druck der Ungewißheit und Unsicherheit auf scheinhafte Weise beizukommen, nämlich durch dogmatische Setzung einer ‘enthobenen’ Größe.

Der in profanen Fundamentalismen häufig anzutreffende Hyperutopismus lässt sich ebenfalls als scheinhafte Entlastung begreifen, und zwar vor allem vom Druck der Verhaltensunsicherheit. Die Projektion der eigenen Wertüberzeugungen in ‘die Geschichte’ entlastet demgegenüber z.B. vom Druck der Zukunftsunsicherheit.

Das Programm der kritischen Vorurteils- oder Ideologieforschung kann demnach auch begriffen werden als Programm einer umfassenden Aufdeckung der scheinhaften Entlastungen von allen Formen des Realitätsdrucks, gleichgültig, ob dieser nun physische, psychische oder soziale Wurzeln hat.

Zu jeder Handlungs- und Lebensorientierung gehören Wert-Verstärker und Wert-Symbole. Die an die naturalistische Ontologie gebundene Position profaner Vernunft wendet sich, wie mehrfach vorgeführt, gegen illusionäre Verstärker der jeweiligen Wertorientierung, und das führt zu der Frage, welche Wert-Verstärker denn mit diesem Denk- und Wertsystem vereinbar sind.

Im Licht der Vorurteilstheorie und des Entlastungskonzepts kann gesagt werden, dass viele geglaubte religiöse und profane Vorstellungen sich als Wert-Verstärker darstellen, mit denen ein fragwürdiger kognitiver Anspruch verbunden ist. Das bedeutet auf der Gegenseite, dass Wert-Verstärker ohne kognitiven Anspruch mit der Position profaner Vernunft vereinbar sind. Ein solcher Verstärker liegt z.B. dort vor, wo ein Symbol als Wert-Symbol ohne kognitiven Anspruch begriffen wird, das nur die Aufgabe hat, das jeweilige Wertsystem in sinnlich verdichteter Form zu präsentieren. Zu allen Elementen profaner Orientierung lassen sich ‘passende’ Wert-Symbole entwickeln, die das jeweilige Element sinnlich verdichten und verstärkend bzw. motivierend auf die zugehörige Haltung zurückwirken.

Wenn aber viele religiöse und profane Vorstellungen, mit denen explizit oder implizit kognitive Ansprüche verbunden sind, sich als – sich selbst mißverstehende – Wert-Verstärker und Wert-Symbole begreifen lassen, dann ist es auch sinnvoll, den ganzen Bereich der kognitiv anstößigen geglaubten Mythen daraufhin zu sichten, ob sie sich nicht in kognitiv unanstößige fiktionale Mythen verwandeln lassen, die zur Position profaner Vernunft passen.

Ein Beispiel. Die Vorstellung einer tatsächlich von ‘höherem’ Sinn erfüllten Natur lehnen wir ab. Wir können daraus aber durch Einführung des Als-ob-Vorbehalts einen fiktionalen Mythos machen, der vielleicht wert-unterstützend zu wirken vermag. Etwa so: Verhalte dich gegenüber der Natur, als ob sie von einem ‘höheren’ Sinn erfüllt wäre, obwohl du davon überzeugt bist, dass das nicht der Fall ist. Eine solche Fiktion könnte eine positive Funktion haben, nämlich dazu beitragen, dass wir mit der Natur vorsichtiger umspringen.

Insbesondere aus dem weiten Feld der (geglaubten) mythisch-religiösen Vorstellungen können so eine Reihe ‘passender’ fiktionaler Mythen gewonnen werden. Ob eine solche ‘Rettung’ sinnvoll ist, muss in jedem Einzelfall entschieden werden, und die Entscheidung hängt natürlich vom jeweiligen Wertsystem ab.


[54] Ich stütze mich hier auf eigene Arbeiten, und zwar außer den in Anm. 1 genannten Büchern vor allem auf folgende Publikationen: Postmoderne/Postmodernismus (Wien 1992), Mein Nietzsche (Wien 1993), Pathognostik versus Illusionstheorie (Essen 1994; mit R. Heinz), NIETZSCHE/ERKENNEN (Essen 1995), Mythisches, Allzumythisches I (Ratingen 1995; mit H. May), Mythisches, Allzumythisches II (Ratingen 1996; mit H. May).

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