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7.2 Ausbau der Theorie der Ideologie(-)

Der weitere Ausbau der Theorie der Ideologie(-) soll wiederum auf der Grundlage eines Bezugstextes erfolgen. Hierfür habe ich eine knappe und allgemeinverständlich gehaltene Einführung, die schon etwas älter ist, ausgewählt.

Bezugstext: E. Topitsch/K. Salamun: Ideologie. Herrschaft des Vorurteils. München/Wien 1972.

"Versteht man unter ‘Ideologien’ Gedankengebilde, welche die Macht- und Lebensansprüche bestimmter gesellschaftlicher Gruppen legitimieren und deren Unwahrheit oder Halbwahrheit auf eine interessen- und sozialbedingte Befangenheit ihrer Vertreter zurückzuführen ist, so hat es Ideologien bereits im Alten Orient und in der Antike gegeben."(16) Die Autoren konzentrieren sich hier, so könnte man sagen, auf politische Ideologien (-), auf vorurteilsgeprägtes Denken im politischen Bereich – ein wichtiger Teilbereich der kritischen Vorurteilsforschung. Politische Ideologien (-) können wir zunächst bestimmen als unwahre oder halbwahre Gedankengebilde, "welche die Macht- und Lebensansprüche bestimmter gesellschaftlicher Gruppen legitimieren". Wie kommen sie zustande? Grob gesagt dadurch, dass die Interessenlage und die Sozialbedingtheit ihrer Vertreter direkt auf die ‘politische Weltanschauung’ durchschlägt, sei es nun in religiöser oder profaner Form.

"Zum Gegenstand ausdrücklicher und systematischer Reflexion ist das ideologische Denken aber erst seit dem Beginn der Neuzeit geworden." (16) Im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Erfahrungswissenschaften vollzog sich eine Ausdifferenzierung auf der Ebene des Weltbilds: die theoretisch-empirische Welterklärung trennte sich von der stark normativ geprägten und teleologisch verfahrenden "religiös-metaphysischen Weltdeutung" (17) Dadurch .wird es z.B. möglich, das unmittelbare Durchschlagen einer Interessenlage bzw. einer Wertung auf das Weltbild als solches zu erkennen.

Ideologische Gedankengebilde "enthielten in der Regel neben wissenschaftlichen Einsichten auch eine ganze Reihe von expliziten oder wissenschaftlich verbrämten Wertungen, Handlungsappellen und Zukunftsprophetien, in denen sich die Interessen, Befürchtungen und Ansprüche der sozialen Schichten widerspiegelten, von denen sie vertreten wurden" (23).

Politische Ideologien(-) können echte "wissenschaftliche Einsichten" enthalten, aber diese Elemente sind hier stets verbunden mit Elementen, die direkt aus wertenden Deutungen hervorgehen und keinen eigentlichen Erkenntniswert besitzen: z.B. Zukunftsprophetien, die unmittelbar vom politischen Wollen der jeweiligen sozialen Schichten und von ihren ‘letzten’ Wünschen gesteuert werden.

In Kapitel III versuchen Topitsch/Salamun, die "Verfahrensweisen und Strategien", mit denen politische Ideologien(-) ‘arbeiten’, im einzelnen offenzulegen; diese werden "ideologische Verfahrensweisen" genannt.

Aus den Vorbemerkungen ist für uns der Hinweis wichtig, "daß man die besprochenen ideologischen Verfahrensweisen nicht als sozialtechnologische Instrumente auffassen darf, die von Ideologen stets vorsätzlich und bewußt je nach Bedarf und Situation gehandhabt werden. Es handelt sich dabei viel eher um Weisen des Denkens und denkenden Verhaltens, die von einem spontanen emotionellen und parteiischen Engagement bestimmt werden und die von ihren Verfechtern nur sehr mangelhaft durchreflektiert sind. Sie werden auch dann, wenn Menschen damit manipuliert und hinters Licht geführt werden, von ihren Verfechtern zumeist im guten Glauben verwendet und nicht in kühl kalkulierender Manipulations- und Betrugsabsicht." (54)

Darüber hinaus ist für uns die Einsicht bedeutsam, "daß ideologische Gedankengebilde und Verfahrensweisen den schon an der Macht Sitzenden und den erst nach der Macht Strebenden gleichermaßen zur Rechtfertigung ihrer Positionen und Ansprüche verfügbar sind. Gerade dieser allgemeinen Verfügbarkeit und Manipulierbarkeit verdanken jene Denkfiguren und Strategien ihre außerordentliche Verbreitung und Beliebtheit sowie den institutionellen Schutz, den sie vielerorts genießen." (55)

Ich komme nun zum Aspekt "Bipolare Weltdeutungen". Ich werde zunächst einige Hauptpunkte der Argumentation referieren und danach einen ausführlicheren Kommentar geben. Was ist unter einer bipolaren Weltdeutung zu verstehen?

In "ideologischen Denkweisen" erfolgt "die Weltorientierung in erster Linie über ein starres bipolares, dichotomisches oder alternativisches Deutungsschema [...], das auf möglichst alle gesellschaftlichen und politischen Phänomene, auch wenn sie noch so komplex sind, angewandt wird. Die vielfältigen Gesichtspunkte und Erscheinungen in der Realität werden auf ein Entweder-Oder, ein Für-mich oder Gegen-mich, ein Freund-Feind-Verhältnis zu reduzieren versucht und auf diese Weise oft weit über das zulässige Maß hinaus simplifiziert. Dadurch kommt es häufig zu Verzeichnungen und regelrechten Verfälschungen der Wirklichkeit." (56) Damit hängen "emotionsgeladene Schwarz-Weiß-Zeichnungen" und spezifische "Symbolwörter" zusammen.

Zwei Beispiele aus dem Bereich der neueren Ideologie(-) werden gegeben. "In der nationalsozialistischen Ideologie bildete der Gegensatz ‘arisch-jüdisch’ den zentralen bipolaren Deutungsrahmen [...]. Man schlug die verschiedensten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Ereignisse über den Leisten dieses rassischen Deutungsschemas und ging in Extremfällen so weit, ‘arisch’ als Synonym für ‘nationalsozialistisch’ zu setzen und unter ‘jüdisch’ alle oppositionellen Strömungen und Denkrichtungen zu subsumieren. [...] Im Rahmen der marxistischen Ideologie ist die Zwei-Klasssentheorie ein bevorzugter Deutungsrahmen, von dem aus Ideologen die kompliziertesten ökonomischen und sozialen Beziehungen und Wechselwirkungen immer wieder auf ein primitives Schwarz-Weiß-Muster reduzieren und zwar auf den Antagonismus zweier Klassen, von denen die eine, das Proletariat, so hingestellt wird, als ob sie allen Fortschritt und letztlich das schlechthin Gute repräsentiere, und die andere, die Bourgeoisie, zum Prototyp alles Reaktionären und Bösen hochstilisiert wird." (58f.)

Die "historischen Wurzeln bipolarer Weltdeutungen" liegen "vor allem in metaphysisch-theologischen Spekulationen". "Ihre religionshistorisch bedeutsamste Ausprägung erhielt die Schwarz-Weiß-Deutung des Kosmos und des Weltgeschehens im 3. und 4. Jahrhundert n.Chr. im sogenannten Manichäismus, einer religiösen Heilslehre, die den Kosmos dualistisch als ein Reich des Lichtes und ein Reich der Finsternis interpretierte und die Menschenwelt als jenen Schauplatz ansah, auf dem der Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und den Mächten der Finsternis, zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge usw. ausgefochten wird." (61)

Ich stimme zwar in den meisten Punkten zu, möchte aber auf Probleme hinweisen, die mich zu einer Erweiterung und Ergänzung der Theorie führen. Klar ist, dass es (politisch relevante) Schwarz-Weiß-Weltbilder und Theorien tatsächlich gibt. Deren Erkenntnisanspruch lässt sich von einer Position profaner Vernunft aus, die sich am (vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen) Erfahrungswissen orientiert, kritisieren. Wir können in diesem Kontext davon sprechen, dass diese Theorien, Philosophien usw. "krasse Verzeichnungen und regelrechte Verfälschungen der Wirklichkeit" enthalten.

Auffassungen, welche damit rechnen, dass die einen das schlechthin Gute, die anderen das radikal Böse vertreten, halten einer empirisch-rationalen Kritik nicht stand. Das gilt wohl für alle inhaltlichen Füllungen des bipolaren Grundschemas (Christen vs. Heiden, Arier vs. Juden, Proletariat vs. Bourgeoisie usw.). Ein kritischer und selbstkritischer Mernsch sollte bereit sein zu überprüfen, ob z.B. sein politisches Weltbild auf einem solchen bipolaren Schema beruht, das stets zu unwahren bzw. höchstens halbwahren Aussagen führt.

Das ideologische(-) Denken ist eines, das mit Über-Vereinfachungen arbeitet. Auf der anderen Seite betonen die Autoren jedoch selbst, dass wir, um handeln zu können, auf Vereinfachungen angewiesen sind. "Um in der Lebenspraxis überhaupt handeln zu können, ist der Mensch in seiner täglichen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit immer wieder gezwungen, komplexe Phänomene, Sachverhalte und Situationen mehr oder weniger stark zu vereinfachen. [...] Die notwendige Vereinfachung komplexer Gegebenheiten und Situationen erfolgt in unserer Weltorientierung über mehr oder weniger gut internalisierte Interpretationsschemata und Deutungsmuster, mit deren Hilfe wir teils unbewußt und teils bewußt die Realität sowohl in kognitiver als auch in normativer Hinsicht für unser Handeln strukturieren." (57)

Diese (richtige) Auskunft zieht die Frage nach sich: Wie lassen sich legitime Vereinfachungen von illegitimen Über-Vereinfachungen abgrenzen? Ich beziehe mich wieder auf unser ‘Ausgangsideal’ und frage: Wie sollte sich ein kritischer/selbstkritischer Mensch in puncto Vereinfachungen verhalten? Nach meiner Auffassung sollte er grundsätzlich die Dimensionen der Erkenntnis und des Handelns unterscheiden und zunächst einmal klären, welcher Dimension die jeweilige Situation zuzuordnen ist. Geht es im Augenblick primär darum, handelnd einzugreifen oder geht es primär um Erkenntnisgewinn? Beides kann natürlich miteinander verschränkt sein, aber es lässt sich wohl klären, welcher Aspekt dominiert.

Geht es primär um Erkenntnis, z.B. darum, eine sachlich angemessene Theorie der Gesellschaft zu entwickeln, die im Einklang mit dem verfügbaren Erfahrungswissen steht, so wird er/sie sich bemühen, auf "primitive Schwarz-Weiß-Muster" möglichst völlig zu verzichten, da diese Muster – ganz im Sinne Bacons – den empirischen Erkenntnisgewinn und -zuwachs verhindern und erschweren.

Geht es hingegen primär um Handeln (z.B. um politisches Handeln), so sieht die Sache etwas anders aus. Erstens sind wir in dieser Dimension "immer wieder gezwungen, komplexe Phänomene, Sachverhalte und Situationen mehr oder weniger stark zu vereinfachen", "um in der Lebenspraxis überhaupt handeln zu können". Wir können uns, wenn wir z.B. unter Entscheidungsdruck stehen, häufig eine detaillierte und differenzierte Betrachtung, wie sie dem Erkennenden gemäß ist, gar nicht leisten. Und zweitens scheint sich eine solche Betrachtung häufig sogar handlungslähmend auszuwirken.

Es kommen noch weitere Komplikationen hinzu, die bei den Autoren allerdings nicht angesprochen sind. Nach Topitsch/Salamun gehört es zum ‘schlechten’ bipolaren Schema, dass vielfältige Gesichtspunkte auf "ein Entweder-Oder, ein Für-mich oder Gegen-mich, ein Freund-Feind-Verhältnis" reduziert werden. Bewegt man sich jedoch in der Dimension des Handelns, so wird man einräumen müssen, dass es in diesem Feld zwar nicht nur, aber durchaus auch Entweder-Oder-Situationen gibt. In solchen Situation ist die Reduktion auf ein "Entweder-Oder" nicht nur zulässig, sondern sogar notwendig.

Ferner: Stellen wir uns eine Gruppierung (wie z.B. eine politische Partei) vor, die bestimmte Ziele erreichen will, deren Realisierung zumindest auf einen größeren Umbau der bestehenden Ordnung hinauslaufen würde. Gelangen die Leute, die sich für diese Ziele einsetzen, die also für die Verwirklichung ihrer politischen Vorstellungen ‘kämpfen’, nicht gerade zwangsläufig dazu, die Menschen in die Gruppen "Für-mich" (unterstützt meine Ziele) und "Gegen-mich" (unterstützt meine Ziele nicht) einzuordnen? Denkt der politisch Handelnde, sich politisch Engagierende nicht zwangsläufig in den Kategorien Freund/Gegner? (Feindschaft kann, wie bereits dargelegt, als extreme Form der Gegnerschaft aufgefasst werden.) Dann aber gilt, dass die Reduktion auf das Freund-Gegner-Verhältnis nicht als solche ‘schlecht’ sein kann.[31]

Das hat auch Konsequenzen für das Thema "neutrale Haltung". Für den (primär) Handelnden rücken die Gegner und die Neutralen eng zusammen: Sie bilden in seiner Wahrnehmung sozusagen einen Block. Denen, die die eigenen Ziele unterstützen, stehen diejenigen gegenüber, die sie nicht unterstützen (Gegner und Neutrale). Differenzierungen, auf die der Erkennende großen Wert legt und legen muss, sind für den Handelnden von deutlich geringerer Bedeutung.

An dieser Stelle lässt sich ein Punkt des Übergangs von der legitimen (und unvermeidlichen) Vereinfachung zur illegitimen Über-Vereinfachung markieren: Der politisch Handelnde ist nämlich prinzipiell in der Lage, zwischen expliziten Gegnern und Neutralen zu unterscheiden, und er/sie sollte es vermeiden, die Neutralen einfach so zu behandeln, als seien sie explizite Gegner.

Meine Bedenken, die jedoch von einer prinzipiellen Zustimmung getragen sind, möchte ich folgendermassen fassen. Die kritizistische Position neigt insgesamt dazu, die Sichtweise des primär Erkennenden zu favorisieren. Die Sichtweise des primär Handelnden (der sich z.B. für bestimmte politische Ziele engagiert und sie durchzusetzen versucht) wird zwar ansatzweise beachtet, aber in der konkreten Argumentation vernachlässigt.

Das kann anhand der Beispiele verdeutlicht werden. Nehmen wir eine gesellschaftliche Gruppe, die ‘große’ Ziele verfolgt (wie z.B. die Herbeiführung des Sozialismus – die konkreten Inhalte wie auch deren kritische Einschätzung sollen jetzt nicht interessieren). Die sozialistisch Engagierten können es im Prinzip lernen, das Schema ‘Wir repräsentieren das schlechthin Gute, ihr das Böse, moralisch Verwerfliche’ zu vermeiden, aber betrachten sie sich nicht notwendigerweise als Repräsentanten des – auf bestimmte Weise ausgelegten – "Guten"?

Damit ist das Schema ‘Wir sind die Partei des Lichtes, ihr seid die Partei der Finsternis’ verwandt. Jede politisch engagierte Gruppe (Sozialisten, Konservative, Liberale, Faschisten usw.) ist ja wohl fest von der Angemessenheit ihrer Ziele, ihres politischen Wollens überzeugt. Das gilt auch dann, wenn die Engagierten es gelernt haben sollten, ihre politische Handlungsorientierung nicht als ‘absolute’ Wahrheit anzusehen. D.h. er/sie betrachtet die Orientierung der Gegner und Konkurrenten stets als weniger angemessen. Verhält es sich nun nicht so, dass die metaphorische Opposition Licht versus Finsternis durchaus geeignet ist, dieses Selbstverständnis der politischen Engagierten (gleichgültig welcher Richtung) auszudrücken? Ist für den politisch engagiert Handelnden nicht zwangsläufig die eigene ‘Partei’ die "Partei des Lichts", d.h. zunächst einfach: diejenige Partei, die die besten Lösungen für die anstehenden Probleme anzubieten hat? Und erscheinen ihm/ihr die gegnerischen ‘Parteien’ nicht zwangsläufig als Parteien der "Finsternis", d.h. zunächst einfach: als Parteien, die schlechtere Lösungen anbieten, von denen zu erwarten ist, dass deren Umsetzung schwere Nachteile mit sich bringen würde?

Wenn das aber zutrifft, dann gilt, dass die Licht-Finsternis-Metaphorik in der Sphäre des Handelns nicht als solche als ‘schlechtes’ bipolares Schema zu verwerfen ist. Anstoss zu nehmen vielmehr nur an bestimmten Ausformungen dieses Schemas, z.B. an solchen, die eine totale Dämonisierung des politischen Gegners einschließen.

Das bedeutet: Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind im Bereich des Handelns erstens unvermeidlich; zweitens sind sie dann legitim und unanstößig, wenn sie nur die Überzeugung ausdrücken, dass der jeweils eingeschlagene politische Weg der beste und angemessenste ist. Extreme Schwarz-Weiß-Zeichnungen hingegen, die mit unbegründbaren Absolutheitsansprüchen und mit Dämonisierungen des Gegners (der als Inbegriff des Bösen vorgestellt wird) verbunden sind, lassen sich hingegen sehr wohl vermeiden.

Ich werde nun ein paar Vermutungen darüber anstellen, weshalb in der kritizistischen Ideologienlehre, der ich in vielen Punkten zustimme, die Sicht des Erkennenden gegenüber der des Handelnden ein Übergewicht erlangt, das zu einigen schiefen Auffassungen führt.

Ich behaupte, dass diese Schieflage damit zusammenhängt, daß die Kritizisten (Popper, Albert, Topitsch, Salamun und andere) Anhänger einer liberalen Politikauffassung sind. Der Liberalismus bzw. bestimmte Formen des Liberalismus bekämpfen den politischen Radikalismus von rechts (Faschismus, Nationalsozialismus) und von links (Kommunismus, Stalinismus usw.)

Die Anhänger des Kritischen Rationalismus haben sich in der 68er-Zeit immer wieder gegen marxistische und neomarxistische Tendenzen gewandt; so auch im Abschnitt über bipolare Weltdeutungen. Ihre Grundhaltung könnte man auf die Formel bringen ‘Für Reformen, gegen eine Revolution (von links oder von rechts).’ "Anstatt radikaler und weithin unberechenbarer Sozialexperimente, bei denen die Ausgangssituation, die Ziele, Mittel und Konsequenzen des politischen Handelns kaum rational überlegt werden, sollte man eher eine Politik der wohlüberlegten kleinen Schritte verfolgen, die konkrete Mißstände und ganz bestimmte Formen von Ausbeutung, Inhumanität und vermeidbarem Leid konsequent und kontinuierlich bekämpft." (69)

Ich bin keineswegs ein Gegner einer "Politik der wohlüberlegten kleinen Schritte". Das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte zunächst nur plausibel machen, dass dieses – von mir grundsätzlich befürwortete – Politikmodell nicht flächendeckend ist, sondern dass es mindestens zwei Ausnahmesituationen gibt, von denen jedoch nur eine im Text berücksichtigt wird.

Solche Situationen, die man als revolutionär bzw. als revolutionsähnlich bezeichnen kann, sind im kritizistischen Politikmodell nicht vorgesehen. Genau in diesen Situationen sind aber "dichotomische" Deutungsschemata – nicht unbedingt jedoch deren ‘extremistische’ Versionen – erforderlich, um eine Breiten-Motivation und -Mobilisierung zu erzeugen. Die kleinschrittige Reformpolitik ist demgegenüber geradezu dadurch definiert, dass man sich nicht auf diese Weise sozusagen die Hände schmutzig machen muss. Muss in einer revolutionsähnlichen Situation nicht alles auf das Entweder-Oder zugespitzt werden und darüber hinaus auf das Für-mich oder Gegen-mich? Müssen die Neutralen hier nicht letztlich der Gruppe der Gegner zugerechnet werden, da sie sich aus der Sache heraushalten und so de facto denen, die den Großumbau nicht wollen, nutzen? Bedarf es in einer solchen Situation nicht der "emotionsgeladenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen und antithetischen Formulierungen"? Kann es in einer solchen Situation, in der es auf rasches und risikobereites Handeln ankommt, nicht handlungslähmend sein, wenn ständig alle möglichen Differenzierungen eingeklagt werden?

Kurzum, die kritizistische Attacke gegen bipolare Weltdeutungen überhaupt hängt zusammen mit einer Verabsolutierung des – an sich ‘guten’ – Modells der kleinschrittigen Reformpolitik, welche übersieht, dass revolutionäre oder revolutionsähnliche Situationen, mögen sie auch noch so selten sein, dennoch auftreten können. In solchen Situationen aber haben bipolare Weltdeutungen ein relatives Recht, insbesondere vom Standpunkt der Handelnden aus.

Die Kritik sollte also, wie bereits angedeutet, als Kritik an Extremformen des bipolaren Denkens reformuliert werden, die dazu führen, dass die einen als die "schlechthin Guten" gelten, welche "die ganze Wahrheit, die ganze Gerechtigkeit" verkörpern, während die anderen als "die Repräsentanten alles Bösen, des totalen Irrtums, alles moralisch Verwerflichen hingestellt werden" (62).

Während die kritizistische Position offenbar die Licht-versus-Finsternis-Metaphorik völlig überwinden will, betone ich, dass diese Metaphorik im Kontext des (weltanschauungsgeprägten) Handelns – und insbesondere im Kontext des selten vorkommenenden ‘großen’ Handelns – nicht nur gebraucht, sondern auch mehr oder weniger offen benutzt wird. Die Kritik sollte sich auch hier nur gegen die Extremformen richten.

Starke Vereinfachungen, die für den (primär) Erkennenden eigentlich immer anstößig sind, da sie an sich sinnvolle Differenzierungen nivellieren, können vom (primär) Handelnden in Kauf genommen werden. Mehr noch: sie müssen von ihm in Kauf genommen werden, da offenbar die nötigen Motivationen und Mobilisierungen auf andere – auf intellektuell befriedigendere – Weise nicht erreicht werden können.

Besteht die revolutionäre bzw. revolutionsähnliche Situation nicht mehr, so lassen sich die starken Vereinfachungen langsam wieder in eine differenziertere Betrachtungsweise überführen. Und im nachhinein entsteht dann leicht der irreführende Eindruck, man hätte von Anfang an auf sie verzichten können und sollen. Für die Politik der kleinen Schritte bedarf es hingegen, wie die tägliche Erfahrung lehrt, einer solchen ‘Elektrisierung’ breiter Bevölkerungsschichten gar nicht. Hier richtet sie eher Schaden an, und damit hängt es zusammen, dass diejenigen, die annehmen, dieses Politikmodell sei für alle Situationen (von Ausnahme 1 abgesehen) das beste, alles das, was mit einer solchen ‘Elektrisierung’ zusammenhängt, ausschalten wollen.

Eine andere Ausnahme, die im kritizistischen Modell selten diskutiert wird, ist der Krieg. Er wirft ähnliche Probleme auf wie die revolutionsähnliche Situation. Nehmen wir den Fall, dass die A von den B überfallen werden. Wenn die A sich das nicht gefallen lassen und ihre Eigenständigkeit verteidigen bzw. wiederherstellen wollen, so bedarf es in dieser Situation der "emotionsgeladenen Schwarz-Weiß-Zeichnungen und antithetischen Formulierungen", um die Kräfte der A-Leute gegen die sie überfallenden B-Leute zu mobilisieren. Sie müssen aus ihrer Apathie gerissen und ‘elektrisiert’ werden, wenn sie eine Chance haben wollen. Sind die Besatzer zurückgedrängt und ist ein Friedensschluß erreicht worden, so kann zu einer differenzierteren Betrachtung des Gegners übergegangen werden. Der Standpunkt des primär Erkennenden kann nun (wieder) die Vorrangstellung einnehmen.

Wenn ich das "Schwarz-Weiß-Denken" in gewisser Hinsicht verteidige, so darf dies natürlich nicht dahingehend verstanden werden, dass ich damit jede Form dieses Denkens ins Recht setzen möchte. Unser kritischer/selbstkritischer Mensch, der ja bestrebt ist, das Erfahrungswissen in kognitiven Belangen zur Geltung zu bringen, wird sich z.B. davor hüten, in Situationen zu solchen Denkformen überzugehen, die bei Licht besehen gar nicht revolutionär oder revolutionsähnlich sind. Die Kritik an der "neomarxistischen Ideologie der studentischen Linken" der 68er-Periode wäre dann nicht einfach so aufzuzäumen, dass ihr vorgeworfen wird, mit "manichäischen bipolaren Deutungsmustern" (63) zu arbeiten, sondern so, dass ihr vorgeworfen wird, solche Deutungsmuster in einer Situation propagiert zu haben, die mit einer kleinschrittigen Reformpolitik durchaus bewältigt werden konnte. (Von der Diskussion der politischen Alternative sehe ich jetzt ab.)

Ich komme nun zum Abschnitt "Die Anwendung von Feind-Stereotypen". Hier werde ich mich kürzer fassen und einige wichtige Einsichten sammeln. In der Regel stimme ich den Ausführungen von Topitsch/Salamun zu.

Bipolare Betrachtungsweisen tragen "häufig zur Entwicklung hochemotionalisierter Feind-Stereotype bei". "Derartige Stereotype können sich nur allzu leicht als self-fulfilling prophecies erweisen, denn es wäre nicht zum ersten Mal, daß eine Person oder eine Gruppe, die [...] extrem negative Merkmale zugesprochen erhält, gerade dadurch erst dazu veranlaßt würde, diese Merkmale tatsächlich anzunehmen." (70)

Welche Funktion erfüllen Feind-Stereotype innerhalb einer Ideologie(-)? Sie dienen "der Integration der gesellschaftlichen Gruppen, die als Ideologieträger fungieren" (73). Bekanntlich wächst der "innere Zusammenhang von Gruppen", "wenn sie in Konflikt mit der Außenwelt geraten bzw. wenn sie sich einer Feind-Gruppe gegenübersehen. [...] Angesichts dieser gruppendynamischen Regelmäßigkeit wird die zentrale Aufgabe offensichtlich, die negative Bezugsgruppen und Feind-Stereotype für einzelne Gruppen immer wieder zu leisten haben: sie tragen dazu bei, den Zusammenhang zwischen den Gruppenmitgliedern (und damit die Kohäsion der gesamten Gruppe) zu stärken, oder – das gleiche Phänomen von einer anderen Seite betrachtet – sie helfen mit, die Desintegration der Gruppe zu verhindern." (73)

"Angstgefühle und Gefühle der Bedrohung" sind die "wohl wichtigsten emotionalen Voraussetzungen für die integrative Funktion eines Feind-Stereotyps". Die Gefühle werden "im Rahmen von Ideologien häufig durch das Hochstilisieren des Feindes zu einer dämonischen Aggressions- und Verschwörungsmacht geschaffen. [...] So wurden z.B. in der Ideologie des Nationalsozialismus ‘die Juden’ zu einer dämonischen Macht hochstilisiert, die als Prototyp des Bösen die gesunden Kräfte des deutschen Volkes zu untergraben trachteten." (75f.)

Feind-Stereotype werden auch häufig "mit einer sogenannten Sündenbock-Strategie gekoppelt und in den Dienst einer Verschwörungs- oder Agententheorie oder einer Helfershelfer- oder Handlangertheorie gestellt. Treten in einer Gruppe oder einem gesellschaftlichen System, das eng an eine Ideologie gebunden ist, Spannungen und Konflikte auf, so werden die Desintegrationstendenzen oft durch die Strategie abgefangen, ganz bestimmte Personen oder Personengruppen für die Ursachen aller Spannungen und Konflikte verantwortlich zu machen." (79)

Topitsch/Salamun weisen ferner darauf hin, dass "ideologiebefangene Personen" die "Ursachen für Enttäuschungen und Versagungen erst in allerletzter Linie bei sich selbst und im eigenen Überzeugungssystem" suchen. "Die eigenen Überzeugungen und damit auch die Prinzipien der Ideologie, an die man bedingungslos glaubt, werden solange wie nur irgendwie möglich als unantastbare Wahrheiten zu betrachten versucht, denn sie garantieren ja letztlich die Orientierungs- und die Verhaltenssicherheit in der Realität. Aus dieser Perspektive erscheint die Sündenbock-Strategie als ein Ausweg aus psychischen Spannungen und Belastungen, die durch aufgetretene und wieder verdrängte Zweifel an der Gültigkeit und Wahrheit gewisser Komponenten des eigenen Weltanschauungssystems entstanden sind. Sie behebt diese Spannungen, indem sie verdrängte Zweifel im eigenen Überzeugungssystem auf bestimmte Personen und Personengruppen hin kanalisiert." (80)

Das sind wichtige und richtige Einsichten. Einerseits. Andererseits aber hat meine vorhin geäußerte Kritik auch Konsequenzen für die Einschätzung der Aussagen über Feind-Stereotypen.

Die Kritik soll offenkundig primär diejenigen Ideologien(-) treffen, welche den ‘totalitären’ Systemen der jüngeren Vergangenheit zugrunde liegen: Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Topitsch/Salamun werfen jedoch nicht ausdrücklich die Frage auf, welche ‘Leistungen’ für diese Systeme spezifisch sind und welche eigentlich in allen Gesellschaftssystemen erbracht werden müssen.

Jede Gruppe muss dafür sorgen, dass die "Desintegration der Gruppe" verhindert bzw. der "Zusammenhalt zwischen den Gruppenmitgliedern" gestärkt wird. Anders gesagt: Jede Gruppe benötigt etwas, was ihre spezifische Wert- und Zielorientierung verstärkt: Wert-Verstärker. Das gilt für eine Fußballmannschaft ebenso wie für eine politische Partei oder eine Glaubensgemeinschaft.

Die Autoren stellen diese grundlegende Angewiesenheit auf Wert-Verstärker nicht angemessen heraus. Zu den notwendigen Wert-Verstärkern gehört aber offenkundig auch ein Bild des jeweiligen Gegners bzw. der Gegner (Feindschaft verstehe ich, wie schon gesagt, als extreme Form der Gegnerschaft). Und da solche Bilder im Handlungskontext notwendig auftreten, können sie nicht als solche ‘schlecht’ sein.

Es ist notwendig, dass der Bundesligatrainer die wert-verstärkenden Register zieht, um sein Team zu motivieren und Kräfte für das jeweils nächste Match freizusetzen. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Wir würden es jedoch kritisieren, wenn der Trainer mit gewissen extremen Mitteln arbeiten würde, z.B. mit der Vorstellung, Borussia Dortmund sei eine Mannschaft, die aus lauter Ungeziefer bestehe, das man vernichten und ausrotten müsse.

Topitsch/Salamun geben nicht an, wodurch sich legitime Wert-Verstärker von illegitimen unterscheiden. Ich führe dies wiederum darauf zurück, dass ihnen – als primär erkennend ausgerichteten Menschen – der ganze Bereich der Wert-Verstärker suspekt ist und sie am liebsten gar nichts mit ihm zu tun haben möchten.

Im Grunde, so scheint es, wollen sie z.B. die Hochstilisierung des jeweiligen politischen Gegners zu einer "dämonischen Aggressions- und Verschwörungsmacht" kritisieren – zum Inbegriff des Bösen. Das ist in Ordnung, aber sie ziehen ihre Kritik in einer Weise auf, die auch die eigentlich unproblematischen Formen der Wert-Verstärkung mittrifft.

Dass z.B. die "Ideologie des Marxismus-Leninismus" mit Vorstellungen arbeitet, die geeignet sind, das "’Weltsystem des Sozialismus’ integrieren zu helfen", ist völlig normal; davon zu unterscheiden sind extreme Feind-Stereotype, Vorstellungen einer dämonischen Aggressionsmacht, Zerrbilder des ‘Kapitalismus’ und aberwitzige Verklärungen des ‘Sozialismus’.

Ich stimme der kritizistischen Argumentation immer dort zu, wo Theorien und ganze Weltbilder auf dem Prüfstand stehen, welche mehr oder weniger direkt aus der normativ-werthaften Orientierung heraus entwickelt sind und daher in Konflikt mit dem (vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen) Erfahrungswissen geraten. Verschwörungs- und Sündenbocktheorien scheinen generell von dieser Art zu sein. Auffassungen, welche die eigene werthaft-normative Orientierung nicht einmal ansatzweise in Zweifel ziehen, zeigen dann, wenn bei der praktischen Umsetzung größere Probleme auftreten, eine starke Neigung, die Ursachen dafür primär bei irgendwelchen Sündenbocken, nicht aber im eigenen "Weltanschauungssystem" zu sehen.

Für uns aber ergibt sich daraus die vom Kritizismus nicht aufgeworfene Frage, wie Wert-Verstärker beschaffen sein könnten, die nicht einer solchen Erkenntniskritik erliegen. Denn nur dann, wenn es solche Wert-Verstärker gibt, können die in allen Lebensbereichen auftretenden "Integrationsaufgaben" auf eine Weise bewältigt werden, die mit den Prinzipien profaner und kritischer Vernunft vereinbar ist.

Die Umschlagspunkte sind hier wichtig: vom emotionsgeladenen Bild des Gegners, das unvermeidlich ist, zum dämonisierten Feind-Bild, das – zumindest im Prinzip – durchaus verzichtbar ist. Dann lassen sich, und das scheint ja durchaus auf der Linie von Topitsch/Salamun zu liegen, totalitäre Systeme – von dieser Seite her besehen – vielleicht als solche Systeme bestimmen, die dämonisierte Feind-Bilder und "Schreckgespenste"nötig haben, d.h. die eine Integration letztlich nur über derartige Stereotype zu leisten vermögen.

Ich komme damit zum Abschnitt: "Der Anspruch auf ‘absolute’ Wahrheiten und Erkenntnismonopole". Politische Ideologien (-) zeigen eine starke Neigung, sich "gegen jede Kritik oder gar Widerlegung abzuschirmen. Zu diesem Zweck erklärt man nicht selten die betreffenden Gedankengebilde oder wenigstens ihre Grundthesen zu ‘absoluten Wahrheiten’, oder ihre Verfechter schreiben sich direkt oder indirekt ein Erkenntnismonopol zu: der Außenstehende oder Gegner soll prinzipiell nicht in der Lage sein, jene ideologischen Behauptungen zu kontrollieren oder sogar als falsch zu erweisen." (88)

Das "Behaupten von absolut wahren Einsichten und Prinzipien" läuft jedoch auf eine "Dogmatisierung von theoretischen Konzeptionen" hinaus. Nach kritizistischer Auffassung "beruht der Rekurs auf eine absolute Wahrheit letztlich auf einem säkularisierten theologischen Offenbarungsmodell der Erkenntnis, das in erster Linie der Absicherung und Rechtfertigung von einmal erworbenem Wissen dient und weniger auf dessen Bewährung gegenüber möglichen Alternativen hin ausgerichtet ist." (89)

Politische Ideologien(-), "die der Idee einer ‘absoluten Wahrheit’ verpflichtet sind", sind häufig gekoppelt an "antidemokratische Verhaltungsformen und Institutionen" (92). Die Abschirmung der "jeweils dogmatisierten Grundwahrheiten gegen Kritik" erfolgt auch durch "Androhung von institutionellen Sanktionen", die "bis zum Freiheitsentzug und zu körperlichen Repressionen reichen" (90).

Ferner treten im Kontext "angeblich absolut wahrer Einsichten und Prinzipien" immer wieder Eliten auf, "die nicht nur ein letzten Endes unüberprüfbares Monopol auf die Interpretation dieser Prinzipien behaupten, sondern im weiteren daraus oft auch gewisse Ansprüche auf bevorzugte Einfluß- und Machtpositionen oder auf soziale und ökonomische Privilegien im jeweiligen Sozialverband ableiten. In derartigen Fällen ist zumeist auch eine Variante des Motivs eines nicht kontrollierbaren höheren Wissens mit im Spiel." (90f.)

So sind z.B. nach Platon eigentlich allein die Philosophen "berechtigt, die Staatsgeschäfte zu führen", weil nur sie dazu prädestiniert sind, "in einem von den anderen nicht nachvollziehbaren intuitiven Erkenntnisakt die Idee des Guten und der Gerechtigkeit zu schauen" (91). Von den anderen wird "vollkommene Unterwerfung unter die Autorität des Führers" gefordert, "der allein das Gute weiß" (91f.).

Lenins Lehre von der "Partei neuen Typs" läuft auf ein vergleichbares "ideologisches Rechtfertigungsverfahren" hinaus. Diese Theorie räumt "einer ‘Avantgarde des Proletariats’ ein besonderes, nicht überprüfbares Erkenntnisprivileg ein und zwar ein Erkenntnisprivileg auf die ‘allgemeinen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft‘" (92).

Im Rahmen von politischen Ideologien(-) treffen wir häufig auf die Vorstellung, "daß der dogmatisierte Kodex an absolut wahren Grundeinsichten [...] gleichsam ein universal anwendbares Orientierungsinstrument bilde, mit dem man allen Problemen, die in der Wirklichkeit auftauchen, gerecht zu werden vermag. Diese Vorstellung [...] kommt dem menschlichen Verlangen nach Gewißheit, Sicherheit und Geborgenheit entgegen und vermag vor allem dann ein hohes Maß an Verhaltenssicherheit zu verleihen, wenn jemand so disponiert ist, daß er auf alle Fragen und Probleme eindeutige und unbezweifelbare Antworten erhalten möchte." (95)

Das ist zugleich eine wichtige Aussage über den für Ideologien(-) aller Art besonders anfälligen Menschentyp. Zu ihm passt ein "ausgeprägtes Rechtfertigungsdenken". Dieses "ist in erster Linie durch das Bestreben charakterisiert, Bestandteile des eigenen Überzeugungssystems gegenüber möglichst allen Einwänden zu rechtfertigen und sie, wenn möglich, überhaupt gegen Kritik abzuschirmen. Bestimmte Einsichten, Prinzipien und Grundüberzeugungen werden als unrevidierbar und absolut gültig angesehen und gleichsam für sakrosankt erachtet." (97f.)

Während ich bei den Ausführungen zu "bipolaren Weltdeutungen" und "Feind-Stereotypen" für eine Ergänzung und Erweiterung des Ansatzes plädierte, kann ich den Thesen zum Komplex "absolute Wahrheiten" und "Erkenntnismonopole" wieder uneingeschränkt zustimmen. Das ist darauf zurückzuführen, dass die – in der Diagnose strittige – Dimension des Handelns, der Wert-Verstärker usw. hier gar nicht zur Debatte steht. In diesem Abschnitt geht es allein um die Kritik unbegründeter Erkenntnisansprüche.

Nun zum Thema "Die Tarnungen von Wertungen als Tatsachenerkenntnis". Es geht hier um "das Verhältnis und die Wechselbeziehungen zwischen subjektiven Elementen wie gefühls- und interessenbedingten Wertungen auf der einen Seite und objektiver, theoretischer Erkenntnis auf der anderen Seite" (102). Das "Verhältnis zwischen Werturteilen und Tatsachenaussagen" ist im "Alltagsdenken" gar nicht oder nur selten bewusst, da dort das Erkennen mit dem Werten und Handeln verschmolzen ist. Das "lebenspraktische Denken" zielt "auf eine Gesamtorientierung ab, in der mit dem Wissen um die Objekte zugleich auch eine Anleitung verbunden ist, wie man sich ihnen gegenüber wertend und handelnd verhalten soll: ‘Weltbild’ und ‘Wertbild’ bilden mehr oder weniger eine Einheit. Das gleiche gilt auch für die Sprache, die wir im Alltag verwenden." (102f.)

Aufgrund dieser Verschmelzung der "kognitiven und werthaft-normativen Komponenten" wäre es auch unsinnig, die Alltagssprache "zu einem rein deskriptiven Präzisionsinstrument machen zu wollen". Diese Sprache dient nicht nur dazu, "über Gegenstände und Sachverhalte zu informieren", sondern z.B. auch "zur Kundgabe von Gefühlen und Stimmungen, zur Erregung von solchen bei anderen, zur Erzeugung von Zustimmungsbereitschaft" (103f.). Für die Wissenschaften indes ist es geradezu lebensnotwendig, die jeweiligen "Fachsprache" in ein "deskriptives Präzisionsinstrument" zu verwandeln und die "emotionell-normativen Begleitkomponenten" entweder zu eliminieren oder zumindest ins Bewusstsein zu heben.

Die Kritik der (politischen) Ideologien(-) ist mit Sprachkritik verbunden. Es hat sich ja bereits gezeigt, "daß die psychologische Motivationskraft und suggestive Ausstrahlung derartiger Systeme zu einem nicht unerheblichen Teil auf der geschickten Handhabung sprachlicher Ausdrucksmittel beruht". "Es steht wohl außer Zweifel, daß in ideologischen Aussagenzusammenhängen immer wieder an zentraler Stelle Wörter anzutreffen sind, die eine starke emotive Sinnkomponente haben, d.h. die Tendenz aufweisen, zu Stimmungen und Gefühlen anzuregen und auf diesem Weg die Einstellungen und Verhaltensweisen der jeweiligen Adressaten zu beeinflussen." (106f.)

Das ist wieder ein Punkt, bei dem meine oben formulierte Kritik greift. Denn Wörter, die zu Stimmungen und Gefühlen anregen, Einstellungen beeinflussen usw., benötigen wir immer; davon sind diejenigen Wörter und Wortverwendungskontexte zu unterscheiden, die für politische Ideologien(-) spezifisch sind. Die Konzentration auf die Sichtweise des primär Erkennenden kann auch hier leicht zu einer Schieflage führen. Gegen Wörter, "die eine starke emotive Sinnkomponente haben, d.h. die Tendenz aufweisen, zu Stimmungen und Gefühlen anzuregen" usw., ist als solche gar nichts einzuwenden, und die Kritik sollte sich wiederum gegen die spezifischen Techniken der Ideologien(-) richten. Und dagegen, dass dort, wo Erkenntnisansprüche erhoben werden, die "werthaft-emotive Sinnkomponente" überwiegt und die "deskriptive" Komponente, auf die es hier ja eigentlich ankommt, unterbelichtet bleibt. "Zustimmungsbereitschaft" jedoch muss in allen Systemen erzeugt werden. Gegen Wörter mit "normativ-deskriptiver Doppelfunktion" ist grundsätzlich nichts einzuwenden; "Überzeugung und Überredung mit sprachlichen Mitteln" sind unverzichtbar. Entscheidend ist hier wieder der Punkt des Übergangs zu unberechtigten Erkenntnisansprüchen.

Ferner können "normative Aussagen und Werturteile in indikativischer Formulierung auftreten". ‘Hans ist groß’ scheint ein Satz von derselben Form zu sein wie ‘Hans ist gerecht’. "Einen Teil jener Wertgesichtspunkte und normativen Prinzipien, welche die Ideologien so grundlegend bestimmen, findet man im Rahmen ideologischer Aussagenzusammenhänge zumeist durch Scheinrationalisierungen, Suggestivdefinitionen, quasi-empirische Argumentationen und logisch illegitime Schlußfolgerungen als selbstverständliche Tatsachen maskiert." (109)

Variable Wertstandards, deren Anerkennung von Entscheidungsakten abhängt, treten oft auf, als seien sie gesicherte "Tatsachenbehauptungen". "Es ist Aufgabe der Ideologiekritik, diese getarnten Wertungen zu entlarven und die in ideologischen Aussagensystemen oft nur implizite enthaltenen Wertprämissen so klar wie möglich herauszustellen. Auf diese Weise kann sie dazu beitragen, die manipulative Wirkung von Ideologien einzuschränken". (110)

Anhand der nationalsozialistischen Ideologie(-) kann z.B. gut studiert werden, wie "rassistischen Wertungen" der "Anstrich von objektiven Tatsachen" gegeben wird, indem sie mit "Tatsachenfeststellungen aus Ethnologie und Biologie" geschickt verkoppelt werden. Die behauptete "rassische Minderwertigkeit des jüdischen gegenüber dem arischen Menschen" kann so den "Anschein eines wissenschaftlich bewiesenen Faktums" erlangen.

Wenngleich im Alltagsdenken ‘Weltbild’ und ‘Wertbild’ miteinander verwoben sind, ist es doch möglich, Wertüberzeugungen als solche zu erkennen und zu behandeln, ohne in Wert-Projektionen zu verfallen, ohne Wertprämissen als "selbstverständliche Tatsachen" zu maskieren. Aus meinem Versuch, den kritizistischen Ansatz – bei grundsätzlicher Zustimmung – zu erweitern, ergibt sich das Desiderat, die unerlässlichen Aufgaben der Wert-Verstärkung auf eine Weise zu erfüllen, die mit der Position profaner Vernunft vereinbar ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, die unanstößige Form der Wert-Verstärkung von den anstößigen ‘Techniken’ der Ideologie(-) abzugrenzen, was im Kritizismus nicht zureichend geschieht.

Nun zum "Gebrauch von Leerformeln". Viele "ideologische Prinzipien", so wird behauptet, sind "in Wirklichkeit Leerformeln", d.h. Formulierungen, die "oft über Jahrhunderte als belangvolle Einsichten oder als fundamentale Prinzipien des Seins, Erkennens und Wertens tradiert und anerkannt worden sind, ‘nicht obwohl, sonderen gerade weil und insofern sie keinen oder keinen näher angebbaren Sach- oder Normgehalt besitzen" (113f.).

Hier werden verschiedene Typen von Leerformeln unterschieden. "Unter pseudo-empirischen Leerformeln kann man sprachliche Formulierungen verstehen, die mit dem Anspruch auftreten, über die empirische Realität zu informieren, tatsächlich aber keinen Informationsgehalt besitzen." (114) Wenn ich eine Aussage (bewusst oder unbewusst) von jedem Informationsgehalt entleere, ist sie mit jeder faktisch auftretenden Sachlage vereinbar. Durch eine solche "Tautologisierung" können Behauptungen der "Widerlegung durch empirische Fakten entzogen werden" – ein übrigens schon in "grauer Vorzeit" angewandtes Verfahren.

"Pseudo-normative Leerformeln" dagegen "schließen keine oder nur so wenige Verhaltensweisen und Handlungsalternativen aus", man kann aus ihnen in spezifischen Entscheidungssituationen "keine konkreten Verhaltensanweisungen ableiten, weil sie nahezu jede Handlungsmöglichkeit erlauben" (117). Bestimmte "moralische Postulate" z.B. erweisen sich, bei Licht besehen, als "mehr oder minder gehaltsleere Worthülsen", die primär dazu dienen, "positive Emotionen und Zustimmungsbereitschaft" zu erzeugen. So ist z.B. das Prinzip ‘Alle Menschen sollen gleich behandelt werden’ "nichtssagend", solange keine Angaben darüber gemacht werden, "in Hinblick worauf man alle Menschen gleich behandeln solle" und welche Unterschiede "zu berücksichtigen und welche nicht zu berücksichtigen sind" (118). Aus einem gehaltsleeren Gleichheits-Schema kann bei Bedarf das jeweils Gewünschte abgeleitet werden. Es ist "auf Grund seiner Unbestimmtheit willkürlich manipulierbar und geeignet, als Rechtfertigungsinstrument für alle möglichen Standpunkte" (119) zu dienen. Worthülsen erfreuen sich in politischen Ideologien(-) besonderer Beliebtheit.

Es ist gewiß nicht unwichtig, wenn wir in der Lage sind, z.B. "willkürlich manipulierbare Gerechtigkeitsformeln" als solche zu erkennen – ob sie nun der "Legitimierung tatsächlich ausgeübter Herrschaft" oder der "Rechtfertigung von Herrschaftsansprüchen" dienen.

Im Einzugsbereich von Leerformeln kommt es auch relativ leicht dazu, dass "sachliche Auseinandersetzungen um faktische Interessen zu Kreuzzügen für ‘ewige Prinzipien’ und ‘Ideen’ hochstilisiert werden" (122), was Konfliktlösungen per Kompromiß erheblich erschwert. Hier gibt es natürlich wieder Berührungspunkte mit dem Absolutheitsanspruch von Ideologien(-).

Im abschließenden Kapitel "Ideologie und Politik" betonen Topitsch/Salamun, dass der Erfolg von Ideologien(-) nicht direkt von ihrem "intellektuellen Niveau" oder der "Wahrheit oder Falschheit der in ihnen enthaltenen Tatsachenbehauptungen" abhängt. Entscheidend sind hier die "Stärke der jeweils vorausgesetzten Werthaltungen, der emotionalen und praktischen Bedürfnisse und Zielsetzungen sowie des institutionellen Rückhaltes" (128).

Damit hängt wiederum zusammen, dass "der Ideologiekritiker Bescheidenheit hinsichtlich der Wirksamkeit seiner Argumente" (130) üben sollte. Denn eine dogmatisierende Abschottung ist immer möglich. Und die Sehnsucht nach "einer Art von Wunderwissen", "das es seinem Adepten ermöglicht, immer recht zu haben" (131), stirbt nicht aus.

Gegen die kritische Analyse der Leerformeln habe ich keine grundsätzlichen Einwände. Ich möchte jedoch erneut auf eine wichtige Unterscheidung hinweisen: feste (oder relativ feste) Wertüberzeugungen sind eine Sache, die Verwandlung von solchen Wertüberzeugungen in ‘absolute’ Wahrheiten eine andere. Richtig ist, dass Auseinandersetzungen um faktische Interessen nicht zu Kreuzzügen für ‘ewige Prinzipien’ hochstilisiert werden sollten, aber darüber darf nicht vergessen werden, dass immer auch Grundüberzeugungen im Spiel sind, die bei Konfliktlösungen berücksichtigt werden müssen.


[31] Das betrifft nicht nur den Bereich des Handelns, sondern auch den Bereich des Denkens: Weltanschauungen stehen ja in Gegnerschafts-Verhältnissen zueinander. Vgl. auch die Argumentation in P. Tepe: Grundsätzliches über Feindbilder. In: Aufklärunmg und Kritik 2 (2002), S. 51-60.

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