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6.1 Profane ‘Wahrheitspolitik’

Bezugstext: P. Tepe: Illusionskritischer Versuch über den historischen Materialismus. Essen 1989.[26]

Ich unterscheide zwei Hauptphasen des Marxschen Denkens, als ‘Übergangswerk’ betrachte ich die Deutsche Ideologie. Zunächst zu den Frühschriften.

Werden ‘absolute’ Wahrheitsansprüche erhoben? Gelten bestimmte Annahmen als unumstößliche Dogmen? Verfolgt man diese Fragen, so zeigt sich, dass das Wissen um das Wesen des Menschen in den frühen Texten die Rolle einer ‘letzten’ oder ‘absoluten’ Instanz spielt. Etwa so: ‘Ich weiß, wie die wahre, d.h. im Einklang mit dem Wesen des Menschen stehende Gesellschaftsordnung aussieht; diese Wahrheit ist unumstößlich’. Hinzu kommt als weiteres Dogma die Annahme, dass die Verwirklichung der wahren Gesellschaft als real möglich angesehen wird, mehr noch: es wird geglaubt, dass dieses Ereignis unmittelbar bevorsteht.

Es wird also in zweifacher Hinsicht ein profanes Wissen ‘höherer’ Art beansprucht: erstens ein Wissen über das ‘menschliche Wesen’ und den diesem entsprechenden und damit ‘wahren’ Gesellschaftszustand,der als vollkommener oder zumindest teilweise vollkommener Zustand konzipiert ist; zweitens ein Wissen über den weiteren Geschichtsverlauf – der mit dem ‘Wesen des Menschen’ übereinstimmende Gesellschaftszustand, d.h. der Kommunismus, gilt zum einen als unmittelbar bevorstehend und zum anderen als notwendiges Resultat der geschichtlichen Entwicklung.

Hinzu kommt die Annahme, es habe bereits einmal einmal einen ‘wesensgemäßen’ Gesellschaftszustand gegeben, und der Kommunismus stelle dessen Wiederherstellung auf höherer Ebene dar. Marx’ Denken folgt somit dem bekannten Drei-Stadien-Schema, das immer auch eine ‘Entfremdungstheorie’ einschließt: Es wird angenommen, dass es bereits einmal einen ‘heilen’ Zustand gegeben hat, der dann durch eine Art ‘Sündenfall’ verloren gegangen ist; Ziel der Geschichte ist die Wiederherstellung des ‘heilen’ Zustands auf höherer Ebene. Diese Geschichts- und Entfremdungstheorie impliziert nicht nur eine Lehre vom Sinn und Ziel der Geschichte, sie hängt auch mit der normativen Anthropologie zusammen, mit dem vorgeblichen Wissen vom ‘Wesen’, von der ‘Bestimmung’ des Menschen. Der frühere ‘heile’ Zustand ist demnach derjenige, der dem ‘menschlichen Wesen’ bereits im Prinzip entsprochen hat, der lang andauernde ‘Unheilszustand’ ist derjenige, der im Widerstreit mit dem ‘menschlichen Wesen’ steht, während der kommende ‘heile’ Zustand ‘Wesen’ und ‘Existenz’ des Menschen wieder in Einklang bringt.

Aus Marx’ Frühschriften geht hervor, dass er bestrebt ist, die ‘große Wahrheit’ kompromißlos umzusetzen. Und ein Wille zur umfassenden politischen Gestaltung im Sinne der ‘Wahrheit’ ist deutlich erkennbar. Der frühe Marx bleibt also nicht beim PF 1 stehen, sondern geht ‘wahrheitspolitisch’ zum PF 2 über, d.h. er unternimmt es, die wahre Gesellschaft kompromißlos zu realisieren.

Wie fällt nun das fundamentalistische Spiel im Sinne des PF 2 aus? Ich konstruiere es in idealtypisch reiner Form, ohne zu unterstellen, dass diese Konstruktion in allen Punkten dem Marxschen Denken entspricht; allerdings behaupte ich, dass es in vielen Punkten tatsächlich Entsprechungen gibt.

‘Der Mensch ist von seinem Wesen her auf Selbstentfaltung in sozialer Harmonie hin angelegt, und der Übergang zur wesensgemäßen Gesellschaft muß in Kürze erfolgen.’ Wer das zu wissen glaubt, für den gibt es weder ein Begründungs- noch ein Realisierbarkeitsproblem. Die ‘unverdorbene’ solidarische Gemeinschaft, in der Staat, Recht, Religion, Privateigentum, Geld usw. überflüssig geworden sind, der ‘Himmel auf Erden’ scheint zum Greifen nahe. Eine Gesellschaft, in der alle (größeren) Quellen des Konflikts ausgemerzt sind, erwartet uns angeblich hinter der nächsten Geschichtskurve.

Zur Denkweise des zugehörigen profanen Fundamentalismus gehört es, dass jede Spaltung, jedes Gegeneinander als ‘Entfremdung’ des Menschen von seinem ‘Wesen’ erfahren und ‘radikal’ kritisiert wird, denn warum sollten wir uns mit Halbheiten zufrieden geben, wenn doch die Identität von Wesen und Existenz erreichbar ist? Nahezu alles gilt als nichtig und ‘unwahr’ angesichts der bevorstehenden ‘Vollkommenheit’ ohne ‘Entfremdung’, des spaltungsfreien Miteinander; für seine Verteidigung muss man sich deshalb nicht sonderlich einsetzen. Das Problem der institutionellen Sicherung der Freiheit wird nicht als Problem erfahren, denn man glaubt ja, einen Zustand zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit realisieren zu können, in dem freiheitssichernde Institutionen überflüssig sind.

Nun zur Kritik. Wird bestimmten Annahmen durch willkürliche Dogmatisierung der Status ‘absoluter’ Wahrheiten verliehen? Lassen sich Ideologien(-) finden? Das Konzept des ‘menschlichen Wesens’ ist, von der Position profaner Vernunft aus betrachtet, kein realistisches, sondern ein unmittelbar von bestimmten Wünschen und Hoffnungen geprägtes Konzept. Es wird akzeptiert, weil es perfekt zum Wertsystem des frühen Marx paßt, obwohl es in kognitiver Hinsicht höchst problematisch ist. Das Wesenskonzept lässt sich als Resultat einer – empirisch nicht gestützten – Wertprojektion begreifen.

Diese Wertprojektion trägt auch die geschichtstheoretischen Grundannahmen, ja durch diese wird die Wertprojektion noch einmal verschärft. Das, was im Kern ein angestrebtes Ziel, eine ethische Idee ist, erscheint nun nämlich als immanente Tendenz der Wirklichkeit. Das einem bestimmten Wertsystem entspringende Ideal wird der Geschichte als Endzweck unterlegt, der sich mit Notwendigkeit verwirklicht. Der profane Fundamentalist kann seine Lehre somit als die zum Selbstverständnis gelangte Bewegung der Geschichte selbst begreifen und sich aus diesem Grund für allen Konkurrenten ‘unendlich’ überlegen halten. Er segelt stets mit dem Wind der Geschichte im Rücken.

Meine Position profaner Vernunft besteht im Gegenzug zu profanen Fundamentalismen auf einigen Unterscheidungen, z.B. der zwischen abstrakter und konkreter Utopie. Zu einer abstrakten Utopie gelangt man, wenn man eine Antwort auf die Frage sucht, welcher Zustand (z.B. welcher Gesellschaftszustand) schlechthin wünschenswert wäre. Die diversen abstrakten Utopien ergeben sich direkt aus den jeweiligen Überzeugungs- und Wertsystemen. Das Realisierbarkeitsproblem spielt hier zunächst keine Rolle.

Die antizipierte vollkommene Verwirklichung der jeweiligen Werte ist jedoch häufig aus empirischen Gründen nur teil- und annäherungsweise möglich. Ein Vertreter profaner Vernunft wird in solchen Fällen nicht die direkte und volle Umsetzung der abstrakten Utopie anstreben, sondern sich bemühen, sie in eine konkrete Utopie zu verwandeln, welche die ‘endlichen’ Möglichkeiten berücksichtigt.

Eine konkrete Utopie entwickelt man, wenn man aus einer abstrakten Utopie, die als undurchführbares Ideal gelten muss, eine realisierbare Alternative zum gegebenen Zustand gewinnt.

Sofern der profane Fundamentalismus in die Utopieproblematik verstrickt ist (was jedoch nicht notwendigerweise der Fall ist), tendiert er zur Verwechslung von abstrakter und konkreter Utopie, d.h. eine abstrakte Utopie wird unmittelbar für realisierbar gehalten. Diesem übertriebenen Utopismus oder Hyperutopismus stelle ich den gemäßigten Utopismus gegenüber, der um den Unterschied beider Größen weiß. Der Hyperutopist denkt gewissermaßen nach dem Motto ‘Nichts ist unmöglich’, und das heißt: er ignoriert die seinem Willen und seinen Wünschen entgegenstehenden Tatsachen. Das Gefährliche am Hyperutopismus ist, dass die Bemühungen, die jeweilige abstrakte Utopie zu realisieren und damit einen ‘Himmel auf Erden’ zu schaffen, aus noch zu erörternden Gründen häufig in einer ‘Hölle auf Erden’ enden.

Die Vermengung von abstrakter und konkreter Utopie kann sich nun mit der Projektion der eigenen Wertorientierung in ein ‘Wesen des Menschen’ verbinden – mit dem Effekt, dass sich beide Elemente wechselseitig verstärken. Wenn das (unerreichbare) Ideal mit dem Nimbus des ‘wahrhaft menschlichen’ Zustands auftritt, wie kann man dann an seiner Durchführbarkeit zweifeln? Wenn eine bestimmte Lebensform der ‘Natur des Menschen’ entspricht, dann muss sie auch realisierbar sein. Wesensbegriffe haben so die Funktion, Zweifel an der Durchführbarkeit des Ideals abzuwehren.

Durch die Wertprojektion wird das eigene Wollen auf absolute Weise gerechtfertigt: ‘Was wir wollen, das steht im Einklang mit dem menschlichen Wesen, es ist daher ein höheres Wollen.’ Wenn der angestrebte Zustand den grundlegenden Erfordernissen der menschlichen Natur entspricht, dann sind diejenigen, die ihn anstreben, im Recht und ihre Gegner im Unrecht. Man verfügt über ein ‘höheres’ Wissen profaner Art, über eine ‘große Wahrheit’.

Wird die abstrakte Utopie des ‘großen Miteinander’ zur ‘wahrhaft menschlichen’, schlechthin menschgemäßen Lebensform hochstilisiert, so hat man damit ferner einen von ‘Natur’ aus ‘gutartigen’ Menschen postuliert, der auf das ‘große Miteinander’ angelegt ist und nur durch ‘schlechte’ gesellschaftliche Verhältnisse daran gehindert wird, seiner ‘gutartigen’ Natur gemäß zu leben. Durch eine Umwälzung dieser Verhältnisse kann der Mensch demnach zu seiner ‘guten’ Natur zurückgeführt werden; das ‘Böse’ wird absterben. Diese Grundüberzeugung, die nicht weiter begründet, sondern als ‘evident’ vorausgesetzt wird, hat ebenfalls den Status einer ‘absoluten’ Wahrheit profaner Art. Empirisch begründete Bedenken gegen dieses ‘idealistische’ Menschenbild, diese übertrieben optimistische Anthropologie werden nicht zur Kenntnis genommen.

Der Glaube an den ursprünglich ‘guten’ Menschen kann zusätzlich so interpretiert werden, dass der Menschen am Anfang bereits einmal seiner ‘Natur’ gemäß gelebt habe, dann aber in einen Zustand der Entzweiung mit dem ‘Wesen’, d.h. in die ‘Entfremdung’, geraten sei, die er indes wieder aufheben könne. Die abstrakte Utopie wird hier auch in die Vergangenheit projiziert, und damit werden Zweifel an der Durchführbarkeit nach einer weiteren Seite hin abgewehrt. Denn wenn die ‘Einheit’ bereits einmal existiert hat, kann auch die ‘Wiederherstellung der Einheit’ grundsätzlich als möglich gelten. Und das Postulat einer ursprünglichen ‘natürlichen Ordnung’ erweist sich als geeignetes Mittel, um den eigenen politischen Willen zu legitimieren: Man steht gut da, wenn man die angestrebte Gesellschaft als ‘Wiederherstellung der natürlichen Ordnung auf höherer Ebene’ ausgeben kann.

Anthropologien und Geschichtsauffassungen des beschriebenen Typs sind genötigt, die Auflösung der ersten ‘Einheit’ auf eine Art von ‘Sündenfall’ zurückzuführen. Von dessen Aufhebung verspricht man sich dann eine neue Identität von Wesen und Existenz. An dieser Stelle lässt sich die Idee eines Allheilmittels festmachen, denn wenn man genau weiß, woran es liegt, dass es zur ‘Entzweiung’ gekommen ist, kann man die Dinge auch wieder in Ordnung bringen. Dabei lassen sich zwei Varianten unterscheiden: die ‘romantische’ Rückkehr zur ‘natürlichen Ordnung’ und das ‘progressive’ Vordringen zur ‘natürlichen Ordnung’ auf ‘höherer Ebene’.

Der Hyperutopismus glaubt, Mittel und Wege angeben zu können, die tatsächlich zur ‘Vollendung’ führen. Diese Position ist – ‘rein’ vorgestellt – ein kompromißloser Maximalismus und Perfektionismus, der dem unerreichbaren Ideal das real Mögliche opfert. Aus der akzeptablen normativen Grundidee der positiv auf den Mitmenschen bezogenen Persönlichkeitsentfaltung wird so eine Praxis, welche ein rigides Herrschaftssystem etabliert, das eine ‘freie’ Persönlichkeitsentfaltung nicht zulässt. Macht man sich daran, die Vision einer vollkommen geeinten Gesellschaft praktisch umzusetzen, so muss die Freiheit, die doch Teil der Ausgangsvision war, die Zeche bezahlen.

Der Hyperutopist weiß den ‘Himmel auf Erden’ zum Greifen nah. Daher ist er auch bereit, im Konfliktfall einen hohen Preis dafür zu zahlen, dass das ‘Endziel’ auch tatsächlich erreicht wird. Der ‘reine’ Hyperutopist könnte es nicht ertragen, wenn er den Eindruck gewönne, sein Verzicht auf die Anwendung an sich ‘unmenschlicher’ Mittel habe den Eintritt der Menschheit in die schon halb geöffnete soziale ‘Heimat’ verhindert. Ausserdem ist es ja das letzte Mal, dass derartige Mittel angewandt werden müssen; danach wird alles ‘in Ordnung’ sein. Wenn die ‘wahrhaft menschliche’ Gesellschaft sich verwirklichen lässt, dann muss man um jeden Preis für sie kämpfen. Im Endkampf ist alles erlaubt. Wenn sich große Teile der Bevölkerung gegen das Programm sperren, so sind sie eben zu ihrem Glück zu zwingen; später werden sie erkennen, daß dieser Zwang richtig und heilsam war, da er sie schließlich zum ‘wahren Menschsein’ geführt hat. Überhaupt kann die Wesenstheorie dazu benutzt werden, jede beliebige Untat zu legitimieren – sie muss nur als Voraussetzung der Wesensverwirklichung dargestellt werden, was bei einigem Geschick leicht möglich ist.

Das ‘große Miteinander’ ist nach Auffassung des Fundamentalisten nur durch eine ‘große Revolution’ erreichbar. ‘Gut’ ist daher, was den revolutionären Prozeß fördert, ‘schlecht’, was ihn hemmt. Der Wille zur ‘totalen’ Revolution gerät mit der Neigung, bestimmte Rechte und Freiheiten zu erhalten, in Konflikt. Es erscheint z.B. als nebensächlich, ob ein Staat ein relativ hohes Maß an rechtsstaatlich gesicherter Freiheit gewährt, denn diese Freiheit ist ja dem ‘falschen’ Zustand zuzuordnen – im ‘richtigen’ Zustand wird zur Auferhaltung des menschlichen Zusammenlebens keine staatlicher Zwangsordnung mehr erforderlich sein. Der übertriebene Utopismus der Autonomie begünstigt so das Entstehen eines neuen Systems der Heteronomie. Der ernsthafte Versuch, die ‘totale’ Freiheit zu verwirklichen, mündet mit einiger Wahrscheinlichkeit ein in die ‘totalitäre’ Aufhebung der Freiheit. Und der mit der Wesenstheorie verbundene Anspruch auf ‘höhere’ Wahrheit ist es, der eine Erforschung der Handlungskonsequenzen und ein Abwägen der Risiken überflüssig zu machen scheint.

Der Hyperutopismus ist behindert auch den Erkenntnisfortschritt, denn er ist blind für alles, was sich nicht in sein mit festem Willen verfolgtes Wunsch-Schema fügt – wahrgenommen wird nur, was den Willen bestärken könnte. Was als wissenschaftliche Untersuchung auftritt, ist in den entscheidenden Punkten von vornherein als Bestätigung der hyperutopistischen Illusion angelegt.

Darüber hinaus besitzt der Glaube an ein ‘höheres’ Wissen eine starke Affinität zu dem Glauben, es gebe für ein soziales Problem stets nur eine richtiger Lösung. Diese ist gewissermaßen schon vorgegeben, so dass man sie nur aufzufinden braucht.

Beim frühen Marx finden wir nicht nur die Vermengung von abstrakter und konkreter Utopie, verbunden mit einer Projektion der eigenen Werte in das ‘Wesen des Menschen’. Das ‘reine’ Ideal erscheint nämlich nicht nur als möglich, sondern als notwendiges Resultat des Geschichtsprozesses. Diese ‘Notwendigkeit’ zu demonstrieren, ist dann die Hauptaufgabe der ‘wahren’ Theorie.

Der Hyperutopismus wird durch eine zusätzliche Projektion mit Verwirklichungsgarantien ausgestattet. Die Geschichte erscheint als ‘gesetzmäßig’ auf den ‘wahrhaft menschlichen’ Zustand hindrängender Prozeß. Es gibt somit einen ‘objektiven’ Sinn der Geschichte.

Das angestrebte Ziel erscheint innerhalb dieser Denkform nie als Ziel, sondern stets als eine immanente Tendenz der Wirklichkeit. Das einem bestimmten Wertsystem entspringende Ideal wird der Geschichte als Endzweck unterlegt, der sich mit Notwendigkeit verwirklicht. Und das führt wiederum zum Bewusstsein der grundsätzlichen Überlegenheit gegenüber denen, die mit Forderungen, Idealen usw. an die Geschichte herangehen. Diese Geschichtsauffassung deutet sich als die zum Selbstverständnis gelangte Bewegung der Geschichte selbst. Für diese Denkhaltung besteht kein Anlaß, die Feststellung dessen, was ist, von dessen Bewertung zu trennen – für denjenigen, der das ‘Gute’ zum unausbleiblichen Resultat der geschichtlichen Bewegung hochstilisiert, folgt aus der Feststellung dessen, was ist, bereits das, was er tun soll.

Den Willen der Betroffenen kann das ‘wahre’ Bewußtsein – wir kennen das bereits vom religiösen Fundamentalismus her – ignorieren. Die illusionäre Gewißheit, dass der wahrhaft menschliche Zustand in Kürze kommen werde, begünstigt das Entstehen eines unmenschlichen Zustands. Und man kann jedem, der an das kommende ‘Paradies’ glaubt, die ‘Hölle’ dadurch erträglich machen, dass man sie als notwendiges Durchgangsstadium zum ‘Paradies’ darstellt.

Diese Denkform führt auch zur Mißachtung der Wirklichkeit, wo sie den revolutionären Wünschen widerspricht. Ignoriert wird, was nicht in das Glaubensschema passt. Um die erwünschte Entwicklung als notwendig darstellen zu können, ist man gezwungen, alle Entwicklungsmöglichkeiten und Tatsachen, die nicht ins Konzept passen, zu ‘übersehen’ oder wegzuerklären. Auf der anderen Seite wird in jeder Krise ein sicheres Anzeichen für die hereinbrechende große Katastrophe gesehen.

Charakteristisch für die hier behandelte Spielart des profanen Fundamentalismus ist auch der Glaube, dass das ‘Heil’ gerade aus dem extremen ‘Unheil’ hervorgehen werde, ja hervorgehen müsse. Das extreme ‘Unheil’, speziell das Leiden der Arbeiterklasse, bekommt so einen ‘höheren’ Sinn. Aus der verzweifelten Lage der Proletarier muss die neue Menschheit hervorgehen.

Dieser profane Fundamentalismus ist immer auch ein Determinismus: er impliziert den Glauben an ‘gesellschaftliche Entwicklungsgesetze’. Nur ein streng deterministischer Standpunkt erlaubt es, Aussagen über schlechthin notwendige Entwicklungen zu machen. Und damit hängt wieder der Anspruch auf ‘höheres’ Wissen profaner Art zusammen: ‘Was wir tun, stützt sich auf die wahre Wissenschaft, während die Gegner im falschen Bewusstsein befangen sind.’

Während der an die fundamentalistische Denkform gebundene übertriebene Determinismus glaubt, dass ein bestimmtes Problem eine bestimmte (und zwar in der Regel die ersehnte) Lösung ‘historisch notwendig’ mache, die über kurz oder lang unvermeidlich eintreten werde, nimmt der gemäßigte Determinismus nur an, dass ein bestimmtes Problem irgendeine Lösung ‘notwendig’ macht, ohne zu übersehen, dass das, was erforderlich ist, nicht zwangsläufig geschieht – das Problem kann auch ungelöst bleiben. Man kann oft voraussagen, welche Probleme in der Zukunft auftreten werden; man kann jedoch nicht auf rationale Weise voraussagen, ob und wie dieses oder jenes Problem gelöst werden wird. Der profane marxistische Fundamentalismus aber lässt das mit den gegebenen Mitteln innerhalb des Kapitalismus unlösbare Probleme mit Vorliebe als ein nur noch mit sozialistischen Mitteln lösbares Problem erscheinen. Die sozialistische Umgestaltung scheint dann aus den ‘inneren Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung’ zu folgen. Und diese Verwechslung verstärkt wiederum den Glauben, den Zusammenbruch des Kapitalismus und Sieg des Sozialismus wissenschaftlich vorhersagen zu können.

Die materialistische Geschichtsauffassung nimmt an, dass die ökonomischen Lebensbedingungen in der Geschichte die letztlich – nicht die einzig – bestimmende Rolle spielen. In dieser Grundannahme lassen sich zwei Elemente unterscheiden: die Auffassung, dass es in der Geschichte überhaupt eine letztlich bestimmende Instanz gibt, und die Auffassung, dass die ökonomischen Lebensbedingungen diese Instanz sind.

Der Glaube an eine letztlich bestimmende Instanz, so aufgefasst, dass ein bestimmter gesellschaftlicher Sektor (wie z.B. die Ökonomie) der ‘wesentliche’ oder ‘essentielle’ Sektor der Geschichte ist, passt sehr gut zur Denkform des profanen Fundamentalismus. Wird angenommen, dass der ‘gutartige’ Mensch nur durch bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse daran gehindert wird, seiner ‘gutartigen’ Natur – die am Anfang der Entwicklung bereits einmal zum Zuge gekommen war – gemäß zu leben, und wird der Zerfall der ‘ursprünglichen Einheit’ auf einen ‘Sündenfall’ zurückgeführt, dessen Zurücknahme eine neue Identität von Wesen und Erscheinung ermöglicht, so ist man bereits auf der ‘essentialistischen’ Linie. Denn es wird ja unterstellt, dass es eine ‘letzte Instanz’ gibt, auf die alle Übel zurückzuführen sind. Beseitigt man diese letzte Ursache alles ‘Bösen’, so wird alles wieder ‘gut’.

Der Marxsche Essentialismus hängt daher untergründig mit seinem Hyperutopismus und seiner Geschichtsteleologie zusammen. Die ‘letzte Instanz’ ist doch immer auch die, auf die man einwirken muss, wenn man die Dinge zum Guten wenden will. Jenseits des Hyperutopismus ist man nicht mehr genötigt, einen letztlich bestimmenden Sektor der Geschichte anzunehmen.

Die ökomische Variante des Essentialismus erscheint als Mittel, um die ersehnte Gesellschafrt auf eine für ‘moderne’ Menschen akzeptable Weise als geschichtsnotwendig zu erweisen. Der Sache nach folgt aus der richtigen Einsicht, dass die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe die Grundlage für die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen usw. ist, jedoch nicht, dass die ökonomische Entwicklungsstufe die letztlich entscheidende Rolle in der Geschichte spielt. Die Position profaner Vernunft zieht sich daher auf die heute fast trivial erscheinende Auskunft zurück, dass alle menschlichen Lebensäußerungen mit dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß untrennbar verbunden sind.

Die Einführung der ‘materiellen Produktion’ als essentieller, letztlich bestimmender Sektor hat auch die Funktion, einen Garanten für das geschichtliche ‘happy end’ zu liefern. Die ‘Kerngeschichte’ der Menschheit wird als ein zwangsläufiger Fortschrittsprozeß aufgefasst. Im ‘essentiellen’ Zusammenspiel von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen steckt der Glaube an einen gesetzmäßigen ökonomischen Fortschritt, der eben deshalb den Übergang zum Kommunismus sichert.

Der Kapitalismus ist nach dieser Auffassung mit ‘Widersprüchen’ behaftet, die sich nur durch den Übergang zu einer anderen Ordnung auflösen lassen; die Produktivkräfte verlangen gleichsam nach neuen Produktionsverhältnissen, und es ist dafür gesorgt, dass es zu diesen Verhältnissen auch kommen wird. Damit wird auch unterstellt, daß geschehen muss, was für die weitere Entfaltung der Produktivkräfte ‘gut’ ist.

Der übertriebene Ökonomismus (Hyperökonomismus) unterstützt den Hyperutopismus und die Geschichtsteleologie. Der Wille zur ‘totalen’ Revolution, die mit Erlösungsphantasien bzw. Vollkommenheitsvorstellungen besetzt ist, wird durch die ökonomische Variante des Essentialismus verstärkt.

Ich bin bei der Zusammenfassung meiner früheren Marxismusanalyse von Marx’ Frühschriften ausgegangen, in denen der Begriff des ‘menschlichen Wesens’ eine zentrale Rolle spielt. In den späteren Schriften, beginnend mit der Deutschen Ideologie, verzichtet Marx nun darauf, seine Theorie auf einen normativen Wesensbegriff des Menschen zu stützen. Er sieht sich primär als unvoreingenommenen Wissenschaftler, der das große Entwicklungsgesetz der Geschichte aufdeckt, welches den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus ‘historisch notwendig’ macht. In dieser zweiten Phase spielt das Wissen um das Gesetz der Geschichte den Part der ‘absoluten’ Instanz. Die praktischen Konsequenzen sind jedoch im Prinzip dieselben wie in der ersten Phase.

In der Entwicklung des Marxschen Denkens gibt es eine Kontinuität in der Tiefenstruktur, die durch einen Bruch in der Oberflächenstruktur verdeckt wird. Die normative Anthropologie wird als Begründung zwar verworfen, aber nicht wirklich überwunden – sie bleibt untergründig wirksam. So zeigt sich, dass der Kommunismus nicht etwa nur als notwendiges, sondern implizit weiterhin als wünschenswertes Geschichtsergebnis betrachtet wird, als das schlechthin wünschenswerte Ziel – wie im Rahmen des Wesenskonzepts.

Und die Geschichte wird weiterhin, nur eben auf strikt ‘materialistische’ Weise, als Selbstentfremdungsprozeß des Menschen aufgefaßt. Marx verstärkt die geschichtsteleogische Komponente seines Denkens dergestalt, dass sie nun diejenigen Aufgaben mitübernimmt, für die zuvor die Wesenstheorie zuständig war. Der historische Materialismus ist der Tiefenstruktur nach eine Theorie, die das ‘Gute’ zum unausbleiblichen Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung hochstilisiert.

Ich fasse zusammen. Im Denken des frühen Marx ist die Denkform des profanen Fundamentalismus am Werk, und zwar in einer spezifischen Gestalt. Die Vermengung von abstrakter und konkreter Utopie, d.h. der Hyperutopismus ist mit der Projektion der eigenen Wertorientierung in das ‘Wesen des Menschen’ verbunden, und er wird zudem durch eine zusätzliche Projektion mit geschichtlichen Verwirklichungsgarantien ausgestattet.

Der von 1845 an entwickelte historische Materialismus beruht nicht auf einer Abkehr von diesem fundamentalistischen Denktyp, er bringt ihn nur zu einer neuartigen Ausformung. Die essentialistischen und ökonomistischen Denkfiguren stehen im Dienst des – nunmehr versteckten, in die Tiefenstruktur abgewanderten – Hyperutopismus. Es gibt also eine Kontinuität in der Tiefenstruktur, die durch einen Bruch in der Oberflächenstruktur verdeckt wird.


[26] In diesem Fall verzichte ich auf Einzelnachweise.

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