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4.3 Gegnerschaften im Feld der Ideologie(+)

Menschliches Leben ist stets weltanschauungs-gebundenes Leben. Und der jeweilige weltanschauliche Rahmen lässt sich stets einem der vier Grundtypen zuordnen – mehr oder weniger glatt, denn es ist auch mit ‘Kompromißbildungen’ zu rechnen, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter diskutiert werden sollen.

Jeder Grundtyp (geschlossen-fundamentalistische Religiosität, offene Religiosität, geschlossen-fundamentalistische Profanität, offene Profanität) steht nun in logischer Gegnerschaft zu allen anderen Grundtypen (wie auch zu deren Konkretisationen). Diese logische wird aber nur dann zu einerfaktischen weltanschaulichen Gegnerschaft, wenn der konkurrierende Weltauffassungstyp in irgendeiner Ausdifferenzierung in den ‘Horizont’ des eigenen Überzeugungssystems tritt.

Doch selbst ein solcher ‘Kontakt’ führt nicht zwangsläufig zu einer faktischen Gegnerschaft mit zugehöriger ‘Bekämpfung’ des Gegners (wobei die ‘Kampfform’ wiederum variieren kann). Denn die logische Gegnerschaft kann auch unbemerkt bleiben bzw. man kann sich über sie hinwegtäuschen. In etlichen Spielarten ‘postmodernen’ Denkens wird etwa radikal-pluralistisch von der Gleich-Berechtigung der unterschiedlichen Weltauffassungen ausgegangen, ohne zu berücksichtigen, dass die konkurrierenden Weltanschauungstypen nicht nur einfach auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen, sondern dass sie, wenn sie die jeweils eigenen Voraussetzungen ernst nehmen und konsequent ‘anwenden’, zwangsläufig zu einer Abwertung und Kritik der jeweils anderen gelangen.

Das wird besonders deutlich, wenn wir die ‘Extreme’ berücksichtigen. Eine große ‘ideologische’ Spannung besteht z.B. zwischen der fundamentalistischen Religiosität und der offenen Profanität. Für den religiösen Fundamentalismus ist die offene Profanität, wie wir an Beispielen sehen konnten, direkt ‘des Teufels’, und umkehrt ist die offene Profanität unvereinbar mit dem religiösen Fundamentalismus. Aber auch die offene Religiosität muss sich von der geschlossenen abgrenzen usw.

Kurzum, wir sollten uns über die logischen Gegnerschaften, die zwischen den vier Weltanschauungstypen (und ihren Konkretisationen) bestehen, nicht hinwegtäuschen, wir sollten sie vielmehr anerkennen und die Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden Überzeugungssystemen offen austragen.

Was ist dann aber mit der Ausgangsunterscheidung zwischen verstehender und kritischer Analyse? Folgt aus dem Theorem der generellen Weltanschauungs-Gebundenheit nicht, dass es keine Ebene gibt, die gewissermaßen jenseits der weltanschaulichen Auseinandersetzung liegt, während für die Ergebnisse einer verstehenden Denkformanalyse doch gerade positionsübergreifende Verbindlichkeit reklamiert wurde? Wie passt das zusammen?

Ich komme zunächst noch einmal auf die Ausgangsbestimmungen zurück. Während die verstehende Denkformanalyse, so hieß es, bestrebt ist, die Grundannahmen der jeweiligen Denkweise freizulegen undaufzuzeigen, wie sie ‘funktioniert’, problematisiert die kritische Denkformanalyse die freigelegten Grundannahmen, und sie formuliert Einwände gegen deren ‘Funktionsweise’ und insbesondere gegen die praktischen Konsequenzen der Denkform. Die kritische Analyse spricht aus, was aus der Sicht einer ganz bestimmten (philosophischen, theoretischen, religiösen usw.) Position an einer bestimmten Denkweise auszusetzen ist.

In weltanschaulichen Auseinandersetzungen (externer Art) ist es, so wurde eingangs ferner bemerkt, sehr unwahrscheinlich, dass eine grundsätzliche Kritik an einer Denkform von den Kritisierten tatsächlich akzeptiert wird.

Ich komme nun zu meinem Lösungsvorschlag für das Vereinbarkeitsproblem. Ich behaupte: Die Weltanschauungs-Gebundenheit ist zwar unaufhebbar, aber sie ist nicht total. Die Ideologie(+)-Gebundenheit ist unaufhebbar: Ich ‘stecke’ in einem bestimmten Überzeugungssystem, aus dem ich nicht ‘herausspringen’ kann – wenngleich natürlich Veränderungen dieses Systems möglich sind.

Die Ideologie(+)-Gebundendenheit ist nicht total: Die für meine Position konstitutiven Weltbild- und Wertannahmen wirken sich nämlich nicht immer auf direkte Weise prägend aus, manchmal sind sie gewissermaßen in den Hintergrund gedrängt, wenngleich nie getilgt. Ein Beispiel für eine direkte Prägung ist etwa die Formulierung einer Philosophie oder Theologie, welche die eigenen Weltbild- und Wertannahmen zu einem kohärenten Denksystem ausgestaltet; ein Beispiel für eine indirekte Hintergrund-Rolle ist dagegen die verstehende Denkformanalyse. Während des Versuchs, die Weltbild- und Wertannahmen z.B. des amerikanischen Fundamentalismus freizulegen, setze ich meinen eigenen background, ohne ihn tilgen zu können, sozusagen in Klammern. Und eben dieses In-Klammern-setzen ermöglicht es, zu Ergebnissen zu gelangen, die nicht nur für meine eigene Position gültig sind, sondern die z.B. auch der ‘ideologische’ Gegner zu akzeptieren vermag und die durch seinen Einspruch korrigiert werden können.[17]

Auf ähnliche Weise kann z.B. auch hinsichtlich des gesamten Komplexes Erfahrungswissenschaft argumentiert werden. Die erfahrungswissenschaftliche Tätigkeit bewegt sich stets innerhalb eines weltanschaulichen Rahmens. Das gilt für das forschende Individuum, das stets an ein individuelles Überzeugungssystem gebunden ist; das gilt für Forschungstraditionen, die aus einer spezifischen weltanschaulichen Gemengelage erwachsen sind usw. Auf der anderen Seite gehört die Erfahrungswissenschaft jedoch zu denjenigen Bereichen, die nicht eindeutig und ‘total’ durch die jeweilige Ideologie(+) determiniert sind. Die Ergebnisse erfahrungswissenschaftlicher Tätigkeit sind vielmehr, insbesondere wenn sie strengen Prüfungen standgehalten haben, prinzipiell mit unterschiedlichen Positionen vereinbar. Sie sind nicht direkt aus den weltanschaulichen Prämissen hergeleitet, diese spielen vielmehr – wie bei der verstehenden Denkformanalyse – nur eine indirekte Hintergrundrolle.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich also, dass es erforderlich ist, zwei Ebenen voneinander zu unterscheiden: die Ebene, auf der ‘ideologische’ Prämissen zwar gegeben, aber in der konkreten Tätigkeit in Klammern gesetzt sind, und die Ebene weltanschaulicher Auseinandersetzung und Kritik, auf der durch Ins-Spiel-bringen der eigenen ideologischen Prämissen Grundannahmen der gegnerischen Weltanschauung problematisiert und zurückgewiesen werden.

Nicht hinwegtäuschen sollte man sich jedoch darüber, dass wir ‘immer schon’ in weltanschauliche Auseinandersetzungen verstrickt sind, zu denen auch Bilder der Gegner gehören, die unter bestimmten Bedingungen als Feinde erscheinen. Kämpfe zwischen Ideologien(+) sind immer auch mit Ausgrenzungen verbunden, und es ist illusionär zu glauben, es sei eine Position erreichbar, auf der Ausgrenzungen grundsätzlich vermeidbar wären. Zu kritisieren sind daher sinnvollerweise nur bestimmte Formen der Ausgrenzung.


[17] Als maßgeblicher Einspruch gilt dabei nicht die bloße Behauptung ‘Ich gehe nicht von den Voraussetzungen aus, die du mir zuschreibst’, darüber hinaus muss erwiesen werden, daß die reklamierten anderen Voraussetzungen besser als die zuvor vermuteteten zu den zu verstehenden Phänomenen passen.

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