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2.2 Übertragung der Ergebnisse der Denkformanalyse

In einem weiteren Schritt können wir die Ergebnisse der Denkformanalyse des religiösen Fundamentalismus auf den profanen Fundamentalismus übertragen. Ich nehme diese Übertragung ‘direkt’ vor, d.h. ich verzichte in diesem Stadium darauf, eine unabhängige Analyse des profanen Fundamentalismus anhand von Beispieltexten vorzunehmen. Auf keinen Fall sollte vergessen werden, dass wir uns weiterhin auf dem Feld der verstehenden (und nicht etwa schon der kritischen) Denkformanalyse befinden.

Die Denkformanalyse unterscheidet zwischen der allgemeinen Denkform PF 1 bzw. 2 und deren konkreten Ausdifferenzierungen. Zum allgemeinen Weltauffassungstyp PF 1 gehört die Überzeugung, über eine ‘letzte’ oder ‘absolute’ profane Wahrheit zu verfügen. Mit diesem Grundelement hängt es zusammen, dass sich die Anhänger eines PF 1 als die ‘wahren’ Gläubigen (bzw. Wissenden) betrachten und dass sie die ‘konkurrierenden’ Formen der profanen (und auch der religiösen) Gläubigkeit als ‘unwahr’ oder ‘falsch’ ablehnen.

An der jeweiligen ‘absoluten’ Wahrheit muss um jeden Preis festgehalten werden, daher sind alle Ideen, welche für die ‘große’ Wahrheit bedrohlich sind oder sein könnten, zu verwerfen. Dieses Verwerfen ist auch hier unabhängig davon, ob z.B. eine Theorie nach wissenschaftlichen Kriterien gut bestätigt und kognitiv leistungsfähig ist. Die entscheidende Grundlage für die Ablehnung ist immer der Konflikt mit einer ‘absoluten’ Wahrheit, über die man zu verfügen glaubt. Zur ‘großen’ Glaubens- oder Wissensgewißheit gehört die apriorische Ablehnung aller damit in Konflikt stehenden Auffassungen. Jede Variante des PF 1 behandelt bestimmte Annahmen als Dogmen, an denen Kritik unzulässig ist. ‘Ich bin im Besitz der Wahrheit, die unumstößlich ist; alles, was mit ihr in Konflikt gerät, muß daher falsch sein’.

Unter welchen Bedingungen entwickelt sich aus einem PF 1 ein PF 2 und unter welchen nicht? Entscheidend dafür ist (auf der Ebene der ‘ideellen’ Voraussetzungen) das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen bestimmter ‘Weltanschauungselemente’, d.h. bestimmter grundlegender Annahmen. Der Übergang von PF 1 zu PF 2 kann z.B. aufgrund einer Sicht der Geschichte erfolgen, welche einen (mehr oder weniger) vollkommenen Gesellschaftszustand aus bestimmten sozialen Prozessen hervorgehen lässt. Eine solche Geschichtsauffassung führt dazu, dass es als Aufgabe der ‘wahren’ Gläubigen bzw. Wissenden betrachtet wird, diese Prozesse aktiv voranzutreiben, um den ‘Himmel auf Erden’ zu erlangen.

PF 2 kann (wie RF 2) etwa der Errichtung eines Staates eine ‘essentielle’ Bedeutung beimessen. Eine entsprechende politische Tätigkeit gilt dann als Beitrag zum Vollzug der (nicht-religiös verstandenen) ‘Wesensverwirklichung’.

Der Übergang von PF 1 zu PF 2 kann sich auch aus der Annahme ergeben, es habe in der "Ursprungszeit" einmal eine ‘intakte’ gesellschaftliche Ordnung gegeben, die mit dem Maßstab der jeweiligen profanen Ideologie(+) im Einklang gestanden habe, und diese Ordnung gelte es – nach der langen Zeit der Entfernung und ‘Entfremdung’ vom ‘Wesen’ – wiederherzustellen, sei es nun in alter Form oder in neuer Form, d.h. auf höherem Niveau. Eine solche Annahme hat zur Folge, dass den ‘wahren’ Gläubigen bzw. Wissenden eine politisch-gesellschaftliche (Haupt-)Aufgabe zugeschrieben wird, d.h. sie führt unmittelbar zur ‘Politisierung’ des zugrunde liegenden PF 1. Generell gilt: ‘Entfremdungstheorien’ mit politisch-gesellschaftlichen Implikationen sind – auf der Ebene der ‘ideellen’ Voraussetzungen – häufig entscheidend dafür, dass aus einem PF 1 ein auch in politischer Hinsicht ‘radikaler’ PF 2 wird.

Wenn die gesellschaftliche Entwicklung gegen die eigene Wertorientierung verläuft, so tendiert der a-politische bzw. eingeschränkt politische PF 1 zum Rückzug vor der ‘Kultur des Bösen’ in kleinere Gemeinschaften, wo man zusammen mit anderen ‘Getreuen’ Bestärkung für die eigene Lebensweise sucht, während der PF 2 sich bemüht, mit Hilfe politischer Strategien die eigenen Überzeugungen in die Gesellschaft hineinzutragen, d.h. sich der ‘Bedrohung’ aktiv zu stellen und selber die Fäden in die Hand zu nehmen.

Der ‘totale’ politisch-soziale Gestaltungswille kennzeichnet den vollständigen PF 2. Davon sind Gestalten des PF 2 abzugrenzen, die in dieser oder jener Hinsicht unvollständig sind. Jeder vollständige PF 2 propagiert die konsequente soziale Umsetzung des ‘wahren’ Glaubens bzw. Wissens, und das kann wiederum verbunden sein mit dem Postulat der Wiederherstellung der idealen Verhältnisse der Ursprungszeit.


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