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2 Der profane Fundamentalismus

2.1 Vorbegriff des profanen Fundamentalismus

Zum eingeführten Begriff des religiösen Fundamentalismus (RF 1 und 2) lässt sich ein korrespondierender Begriff des profanen Fundamentalismus bilden. Um die passende Korrespondenzebene zu gewinnen, soll zunächst der Begriff der Weltauffassung, den ich bereits in der Einleitung benutzt habe, näher bestimmt werden. Unter einer Weltauffassung oder Weltanschauung verstehe ich ein umfassendes Überzeugungssystem, das sowohl ein Weltbild als auch eine Handlungs- und Lebensorientierung einschließt. Anders formuliert: das umfassende Überzeugungssystem stellt eine Verbindung zwischen Denksystem und Wertsystem dar.

Ich postuliere, dass Menschen immer in einem solchen umfassenden Überzeugungssystem stecken, dass menschliches Leben also generell weltanschauungs-gebunden ist, wobei sich die jeweiligen Überzeugungen jedoch inhaltlich stark voneinander unterscheiden können. Diese These beansprucht Geltung für alle Zeiten und Kulturen. Demnach können Menschen niemals in einen weltanschauungsfreien Raum eintreten, sie können aber ihr Überzeugungssystem verändern und sogar durch ein anderes ersetzen.

Im Buch Theorie der Illusionen habe ich zwischen einem ‘positiven’ (oder ‘neutralen’) und einem ‘negativen’ (kritischen) Ideologiebegriff unterschieden. Auf der allgemeinsten Ebene fällt der positive Ideologiebegriff mit dem Begriff der Weltauffassung zusammen; ich verwende dafür das Kürzel Ideologie(+). In diesem Sinn können wir auch sagen, dass menschliches Leben generell ideologie-gebunden ist. Im folgenden verwende ich ‘Weltauffassung’, ‘Weltanschauung’, ‘Ideologie(+)’ und ‘übergreifendes Überzeugungssystem’ als Synonyme.

Im einem nächsten Schritt kann formuliert werden: Alle Religionen sind Weltanschauungen, aber nicht alle Weltanschauungen sind auch Religionen. Alle Religionen sind Ideologien(+): Jede Religion enthält erstens Weltbildannahmen, und zwar solche, die auf über-natürliche Größen irgendwelcher Art zurückgreifen (Beispiel: ‘Gott ist der alleinige Urheber der Welt, aber getrennt von ihr’), und sie vermitteln zweitens eine normativ-werthafte Lebensorientierung, bei deren Begründung ebenfalls auf über-natürliche Größen zurückgegriffen wird (Beispiel: ‘Das Gebot X ist von Gott geoffenbart worden’).

Nicht alle Weltanschauungen sind auch Religionen: Es gibt auch ‘Verbindungen’ von Weltbild und Handlungsorientierung, deren Weltbildannahmen nicht auf über-natürliche Größen zurückgreifen, sondern die ausschließlich mit natürlichen Größen (in einem weiten Sinn, der auch sozio-kulturelle Faktoren einschließt) arbeiten, und deren Handlungsorientierung ebenfalls durch Rückgriff auf natürliche Größen begründet wird, welche dies im einzelnen auch sein mögen. Diese Überzeugungssysteme bezeichne ich zusammenfassend als nicht-religiös oder profan.

Als Beispiel für eine profanes Überzeugungssystem können bestimmte Versionen des Marxismus dienen: Einerseits wird ein dezidiert ‘materialistisches’ Weltbild vertreten, andererseits wird aus einer ‘materialistischen’ Geschichtsauffassung eine sozialrevolutionäre Handlungsorientierung hergeleitet.

Grundsätzlich gilt, wie einleitend bereits erwähnt: Religiöse Weltanschauungen beruhen auf einer supra-naturalistischen Ontologie (die mit über-natürlichen Größen irgendwelcher Art rechnet), profane Weltanschauungen hingegen auf einer naturalistischen Ontologie (die ausschließlich mit natürlichen Größen im weiten Sinne rechnet, zu denen auch sozio-kulturelle Größen gehören).

Um zum angestrebten Begriff des profanen Fundamentalismus gelangen zu können, konzentriere ich mich auf die profanen Überzeugungssysteme im soeben erläuterten Sinn. Wir können nun unmittelbar einen Vorbegriff des profanen Fundamentalismus bilden, der dem Begriff des religiösen Fundamentalismus korrespondiert. Es gibt, so können wir sagen, auch bei profanen Weltanschauungen unterschiedliche Formen der Gläubigkeit. Wie im Fall der religiösen Gläubigkeit kann man zwischen strengen und gelockerten Formen sowie zwischen geschlossener und offener profaner Gläubigkeit unterscheiden. Ich setze den profanen Fundamentalismus im weiten Sinn einfach mit der strengen oder geschlossenen profanen Gläubigkeit gleich. Als Synonym für ‘Denkform des profanen Fundamentalismus im weiten Sinn’ verwende ich auch ‘profaner Fundamentalismus 1’, kurz ‘PF 1’.

Strenge oder geschlossene profane Gläubigkeit (PF 1) gibt es – wie den RF 1 – zu unterschiedlichen Zeiten und in ganz verschiedenen Gestalten. Im gegenwärtigen Denkkontext interessieren erneut vorrangig diejenigen Gestalten, die im 19. und 20. Jahrhundert aufgetreten sind bzw. im 21. Jahrhundert auftreten werden.

Dieser erste Vorbegriff des profanen Fundamentalismus soll wiederum durch einen zweiten ergänzt werden. Leitend ist dabei, wie im religiösen Feld, der Aspekt ‘politischer Gestaltungswille’. Strenge oder geschlossene profane Gläubigkeit kann mit den oben bereits dargestellten unterschiedlichen Haltungen zur ‘Welt’ und zur ‘politischen Sphäre’ verbunden sein. Ich schlage nun vor, die mit einem umfassenden politischen Gestaltungswillen verbundene strenge oder geschlossene profane Gläubigkeit als profanen Fundamentalismus im engeren Sinn zu bezeichnen. Als Synonym für ‘Denkform des profanen Fundamentalismus im engeren Sinn’ verwende ich auch ‘profaner Fundamentalismus 2’, kurz ‘PF 2’.

Auch dieser Typ des profanen Fundamentalismus tritt zu unterschiedlichen Zeiten und in ganz verschiedenen Gestalten auf. Wiederum interessieren vorrangig die neueren, die ‘modernen’ Ausgestaltungen von PF 2.

Grundsätzlich ist, wie bei RF 1 und 2, festzuhalten: PF 2 impliziert PF 1, aber nicht umgekehrt. PF 1 kann auch völlig a-politisch sein oder sich damit begnügen, ein relativ kleines Lebensumfeld im Sinne der eigenen Überzeugungen zu gestalten.


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