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1.2 Zum jüdischen Fundamentalismus

Bezugstext: M. Haussig: Fundamentalistische Gruppen im Judentum. In: Colpe/Papenthin (Hg.): Religiöser Fundamentalismus, a.a.O., S. 69-89.

Der hier zugrunde gelegte Text befasst sich mit zwei Gruppierungen innerhalb des Judentums, mit den Satmarer Chassidim und Gusch Emunim. Diese Beispiel passen sehr gut zur vorgeschlagenen Begrifflichkeit, denn die erstere Gruppe ist als RF 1 einzuordnen, die letztere hingegen als RF 2.

Die Satmarer Chassidim gehören zu denjenigen "Gruppen, für welche das Leben in Übereinstimmung mit der Halacha[8] in kompromißloser Weise verbindlich ist und die sich dabei gleichzeitig gegenüber jeglichen modernen Einflüssen und Neuerungen, welche von ihnen mit ‘unjüdisch’ gleichgesetzt werden, sowie gegenüber nicht mit ihren Ansichten übereinstimmenden Gruppen innerhalb des Judentums, radikal abgrenzen" (72). Diese Gruppen sind als Versionen strenger, geschlossener Religiosität einzuordnen, die für bestimmte religiöse Annahmen einen ‘absoluten’ Wahrheitsanspruch erheben und überhaupt die für den RF 1 herausgestellten Merkmale zeigen. Ihnen fehlt jedoch der für die Zuordnung zum RF 2 entscheidende umfassende politische Gestaltungswille – sie besitzen vielmehr einen eingeschränkten Gestaltungswillen, der sich nur auf eine relativ kleine ‘Lebenswelt’ bezieht, die sich von der ‘Mehrheitsgesellschaft’ separiert.

Die "Satmarim", die z.B. "in Willamsburg / New York in den USA" siedeln, zeichnen sich "durch eine starke Absonderung von der sie umgebenden Welt aus, nicht nur von der jüdischen, sondern auch von anderen in ihren Augen nicht orthodoxen jüdischen Gruppen, ferner durch eine besonders strenge Einhaltung der Mizwot sowie durch andere soziale Kontrollmaßnahmen. Die Absonderung wird bei ihnen besonders in der äußeren Erscheinung deutlich: sie scheren sich das Haar völlig und lassen nur die Pe’ot (Schläfenlocken) stehen. Sie tragen meist einen Kaftan sowie einen breiten Hut, um den am Sabbat ein Schtreimel, ein spezieller Pelz, als Schmuck getragen wird. Durch bestimmte Kleidungsstücke werden auch soziale Rangunterschiede innerhalb der Gemeinschaft deutlich gemacht: so tragen z.B. die Rebben weiße Seidenstrümpfe.

Ein weiteres Merkmal der Absonderung liegt in der Sprache: die tägliche Umgangssprache der Satmarim ist noch heute Jiddisch. Hebräisch spielt bei ihnen nur im Gottesdienst und beim Erlernen der religiösen Literatur eine Rolle, jedoch lehnen sie den profanen Gebrauch des Hebräischen ab, da sie darin eine Vermischung von Heiligem und Profanem sehen [...]. Grundsätzlich haben die Satmarim nichts gegen den Gebrauch der englischen Sprache einzuwenden, jedoch finden sie kein geeignetes Unterrichtsmaterial, da ihrer Meinung nach die vorhandenen Englischbücher voller Anregungen für einen sündigen Lebenswandel sind.

Die Satmarim haben ein hohes Maß an lokaler Autonomie entwickelt. In der Umgebung ihrer Synagogen befinden sich koschere Fleischer, Beerdigungsgesellschaften und rituelle Bäder (Miqwot). Sie besitzen in New York eine eigene Arbeitsvermittlung, eigene Hospitäler, Verlagshäuser und sogar ein eigenes Busnetz. In den Schulen wird, streng nach Geschlechtern getrennt, praktisch ausschließlich religiöse Bildung vermittelt. Ausbildung an Colleges oder Universitäten wird als Sünde betrachtet, da derjenige, der dort studiert, sich der Gefahr der Häresie aussetzt. Rabbi Joel Teitelboim, das langjährige Oberhaupt der Satmarim, war in besonderem Maße bemüht, Mädchen von jeglichem nichtreligiösen Gedankengut fernzuhalten [...]. Heiraten werden bei den Satmarim wie im traditionellen ‘Schtetl’ durch den Schadchan mit Zustimmung der Eltern in die Wege geleitet, erfolgen also nicht aufgrund eines unmittelbaren freien Entschlusses der Partner. Romantische Liebe im westlichen Sinn ist verpönt und wird als Sünde angesehen. Scheidungen kommen bei den Satmarim so gut wie gar nicht vor." (73f.)

Insgesamt haben wir es mit einer beeindruckenden Ausdifferenzierung der fundamentalistischen Denkform (RF 1) zu tun. Dazu gehört natürlich auch, dass die Satmarim sich als Repräsentanten des ‘wahren’ Glaubens begreifen und konkurrierende Formen als ‘unwahr’ ablehnen. Die Ablehnung richtet sich in diesem Fall gegen die Zionisten. "Teitelboim sieht im Zionismus eine Verletzung der drei Schwüre, auf welche Gott Israel verpflichtet hat, nämlich nicht mit Waffengewalt nach Erez Israel zu ziehen, nicht das Ende zu erzwingen und nicht gegen die Völker der Welt zu rebellieren." (75) Die Satmarim sind die "Auserwählten", die anderen hingegen "Abtrünnige und Ketzer". Bemerkenswert die Deutung des "Holocaust als Strafe Gottes für die Sünden der Zionisten [...], unter der auch die wenigen Gerechten zu leiden haben" (75).

In ihrem "Kampf gegen den Zionismus" schrecken die Satmarim "auch vor Gewaltakten nicht zurück"; sie greifen z.B. "die Lubowitzer Chassidim wegen ihrer dem Zionismus gegenüber freundlichen Haltung tätlich an" (76).

Bei der "israelischen Siedlerbewegung Gusch Emunim stoßen wir demgegenüber auf einen umfassenderen politischen Gestaltungswillen, der die Zuordnung zum RF 2 erforderlich macht. Kurz zur Vorgeschichte. "Die Zionisten faßten das Judentum von einem rein nationalen Gesichtspunkt her auf und sahen in der Errichtung eines jüdischen Staates ein Instrument zur ‘Normalisierung’ des jüdischen Volkes, das von seiner Existenz in der Diaspora befreit werden sollte, um in einem ihm eigenen Land, wie andere Völker in ihrem Land, seine nationale Eigenständigkeit begründen zu können. Aufgrund dieser primär säkularen Ziele waren die Zionisten für die Orthodoxen der Hauptfeind." (77)

Grundsätzlich besteht jedoch die Möglichkeit, auch der "Errichtung des jüdischen Staates" eine "religiöse oder messianische Bedeutung" beizumessen. Der Zionismus erscheint dann z.B. als "Ausdruck einer besonderen spirituellen Essenz [...], die auf dem Bund zwischen Gott und seinem auserwählten Volk beruhte" (77). Wird z.B. an die "Heiligkeit des Landes Israel" und an die "herannahende Erlösung" geglaubt, so können die Zionisten ‘positiv’ als solche betrachtet werden, die zum "Vollzug des Erlösungswerkes" beitragen (77f.).

Diese Linie wird nach dem Jom-Kippur-Krieg von der Bewegung Gusch Emunim auf neuartige Weise fortgesetzt. "Wie der politische Zionismus will auch Gusch Emunim eine Stärkung und Sicherung des jüdischen Staates, jedoch nicht, um den Normalisierungsprozeß der Juden [...] zu gewährleisten, sondern weil der Staat Israel als eine Vorstufe der Erlösung selbst angesehen wird." (83)

Ich nehme bei dieser Gelegenheit die Frage nach den Bedingungen des Übergang eines RF 1 zum RF 2 wieder auf. Eine geschlossene Form der Religiosität (RF 1) kann zu einem umfassenden politischen Gestaltungswillen (RF 2) z.B. durch eine ‘messianische’ Sicht der Geschichte gelangen, welche die definitive Erlösung aus bestimmten weltlich-politischen Prozessen hervorgehen lässt. Eine solche Geschichtsauffassung führt nämlich dazu, dass es als Aufgabe der ‘wahren’ Gläubigen betrachtet wird, diese Prozesse aktiv voranzutreiben, z.B. also die "Stärkung und Sicherung des jüdischen Staates". Die Wiederherstellung "Israel(s) in seinen biblischen Grenzen" gilt als unerläßlich für die "jüdische Erneuerung" (86), jeglicher "territorialer Kompromiß der Regierung" (82) wird abgelehnt. "Vom klassischen jüdischen Messianismus unterscheidet sich der Messianismus von Gusch Emunim dadurch, daß er sich innerhalb des historischen Prozesses in dieser Welt und nicht jenseits davon in der kommenden Welt abspielt. Er ist fast ausschließlich national ausgerichtet, und es fehlt ihm daher die klassische universalistische Komponente des jüdischen Messianismus." (85)

Die Anhänger des RF 2 können sich dann als in der entscheidenden "Epoche der Erlösung" lebend begreifen. Im Fall Gusch Emunim wird ein "Satz aus der Traditionsliteratur" zur Stützung angeführt. "Danach gibt es zwischen dieser Welt und den Tagen des Messias als einzigen Unterschied nur die Unterwerfung unter die Herrschaft fremder Völker. Durch die Errichtung eines selbständigen jüdischen Staates ist nach der Ansicht der Anhänger von Gusch Emunim die Unterjochung Israels beendet worden, folglich hat das messianische Zeitalter begonnen." (84)

Die typischen Grundzüge der fundamentalistischen Denkform, hier: ihrer politisierten Gestalt, sind gut erkennbar. "Die Anhänger des Gusch sehen sich selbst als die wahren Zionisten, wogegen die anderen vom rechten Weg abgefallen sind. Jeder, der versucht, irgendwelche Kompromisse in der territorialen Frage zu erreichen und deswegen mit der amerikanischen Regierung in Kontakt tritt, ist ein Verräter und wandelt im Unreinen." (86)

Charakteristisch auch das Verhältnis zu einem "demokratischen Staatswesen". "Ein weltlicher demokratischer Staat erfüllt sicher nicht die Vision der Erlösung, wie sie sich die einzelnen Gusch-Leute vorstellen mögen" – dennoch sind fundamentalistische Bewegungen durchaus zu einem "gewissen Pragmatismus der Stunde" fähig (88). Dieses Sich-Arrangieren ist jedoch ein Pragmatismus auf Zeit. So postuliert man z.B., dass das künftige "Wiedererstehen des Prophetentums" zu einer "monarchischen Herrschaftsform in Israel" führen werde (88).

Wichtig ist es, die fundamentalistische Religiosität (RF 1 und RF 2) von anderen Formen der Religiosität abzugrenzen. Der Bezugstext gibt einige Hinweise speziell zum Judentum, die sich, wenn man von der konkreten Ausdifferenzierung abstrahiert, weitgehend verallgemeinern lassen. Die "einzelnen sich religiös verstehenden Gruppen des heutigen Judentums" werden nach "ihrer Stellung zur Gültigkeit der Halacha" unterschieden. "Die Orthodoxie geht weitgehend von einem wortwörtlichen Verständnis der Mizwot, ihrer Unwandelbarkeit und überzeitlichen Gültigkeit aus. Reformen jeder Art werden von ihr abgelehnt." (71) Die Orthodoxie fällt, allgemein betrachtet, zumindest partiell mit unserem RF 1, mit der strengen, geschlossenen Religiosität mit ‘absolutem’ Wahrheitsanspruch usw., zusammen; manchmal wird auch von Ultra-Orthodoxie gesprochen. Die "Chassidim" lassen sich als Spielart der Orthodoxie einordnen, die sich von anderen durch einige Besonderheiten wie die "besondere Verehrung des jeweiligen ‘Rebben’" unterscheidet.

Als zweite Gruppierung wird das "Reformjudentum" genannt, es setzt sich "für einen weitgehenden Abbau der durch die Halacha gegebenen Abgrenzungen gegenüber der nichtjüdischen Umwelt ein. Die Halacha wird demgemäß nicht wortwörtlich und für alle Zeit als bindend angesehen." (71) Allgemeiner gefasst: Innerhalb jeder Religion kann es nicht nur eine orthodoxe, sondern auch eine reformerische, sich als ‘progressiv’ verstehende Gläubigkeit geben.

"Die Mitte zwischen Orthodoxie und Reformjudentum wird durch das konservative Judentum [...] repräsentiert. Es hält grundsätzlich an der Halacha als Ganzem fest, gesteht jedoch die Notwendigkeit von Neuerungen zu" (71). Eine derartige konservative, im Einzelfall reformwillige Gläubigkeit kann ebenfalls innerhalb verschiedener Religionen auftreten.[9]


[8] "Die ‘Religiosität’ bestimmt sich [...] im Judentum in erster Linie danach, inwieweit der einzelne die in der Tora niedergelegten 613 Mizwot als für sich verbindlich betrachtet und in seinem Leben praktiziert." Diese "Weisungen und Gebote der Tora" nehmen in einem systematischen Gebäide, der Halacha, Gestalt an" (69).

[9] Eine vergleichbare Differenzierung führt Meyer mittels des Begriffs der Zivilisationsstile ein. So können z.B. "innerhalb der islamischen Republiken der Gegenwart [...] gegebenenfalls Traditionalismus, Modernismus (Säkularismus), Fundamentalismus und andere Spielarten kultureller Selbstauslegung als unterschiedliche Zivilisationsstile vorgefunden werden". (T. Meyer: Die Politisierung kultureller Differenz. Fundamentalismus, Kultur und Politik. In: Bielefeldt, Heitmeyer (Hg.): Politisierte Religion, a.a.O. S. 47.)

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