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1   Der religiöse Fundamentalismus

In diesem Kapitel ist es Ziel der verstehenden Analyse, einen bestimmten allgemeinen Typ religiöser Weltauffassung, der nicht nur logisch möglich ist, sondern auch tatsächlich in etlichen Versionen auftritt, angemessen zu charakterisieren. Das wertneutrale Etikett ‘religiöser Fundamentalismus’ soll dann als Kürzel für diese Charakterisierung dienen.

Wenn diese Charakterisierung auf eine religiöse Gruppierung zutrifft, so können wir sie als fundamentalistisch bezeichnen, auch wenn sie sich selbst nicht so nennt. Zu jeder verstehenden Analyse einer solchen Gruppe gehört aber natürlich auch, dass ihre ‘Selbstdefinition’ angeführt und geklärt wird; das ist insbesondere dann wichtig, wenn sie sich ausdrücklich nicht als fundamentalistisch bezeichnet. Auf keinen Fall darf aber daraus, dass eine Bewegung eine andere Selbstbezeichnung vorzieht, gefolgert werden, dass sie eben deshalb nicht als Fundamentalismus begriffen werden dürfe, vor allem dann nicht, wenn dieser Begriff zuvor auf hinlänglich klare Weise eingeführt worden ist.

Die Denkformanalyse ist bestrebt, eine konkrete Weltauffassung z.B. religiöser Art auf eine allgemeine Denkform zurückzuführen. Wird der Ausdruck ‘Fundamentalismus’ nun nicht nur auf einzelne Weltauffassungen, die sich zeitlich und räumlich zuordnen lassen, bezogen, sondern auch auf eine Denkform, so sind damit die Weichen für einen gewissermaßen überhistorischen Fundamentalismusbegriff gestellt, denn eine allgemeine Denkform kann zu ganz unterschiedlichen Zeiten und an ganz unterschiedlichen Orten aktualisiert werden. Eine solche Aktualisierung besteht, so postuliere ich, immer darin, dass das allgemeine Muster ‘absolute’ Wahrheit unbezweifelbare Dogmenkompromißlose Umsetzung (umfassender politischer Gestaltungswille) mit inhaltlich bestimmten Annahmen gefüllt werden, die im jeweiligen sozio-kulturellen Kontext naheliegen.

Wird zwischen historisch-konkreten religiösen Fundamentalismen und der überhistorischen Denkform des religiösen Fundamentalismus unterschieden, so muss auf der letzteren Ebene durchweg mit Unterscheidungen gearbeitet werden, die ebenfalls diverse historische Konkretisationen zulassen. Auf der überhistorischen Ebene können wir zunächst einmal zwei Grundformen der Religiosität, der religiösen Gläubigkeit unterscheiden. Zwei Begriffspaare sollen zur vorläufigen Orientierung dienen: die Gegenüberstellung von strengen  und gelockerten Formen religiöser Gläubigkeit sowie von geschlossener und offener Religiosität.

Wenn wir den Ausdruck ‘Fundamentalismus’ auf der überhistorischen Ebene wertneutral einführen wollen, so spricht nichts dagegen, den religiösen Fundamentalismus im weiten Sinn einfach mit der strengen oder geschlossenen religiösen Gläubigkeit gleichzusetzen. Als Synonym für ‘Denkform des religiösen Fundamentalismus im weiten Sinn’ verwende ich auch ‘religiöser Fundamentalismus 1’, kurz ‘RF 1’.

Strenge oder geschlossene religiöse Gläubigkeit (RF 1) gibt es nun zu unterschiedlichen Zeiten und in ganz verschiedenen Gestalten. Mich interessieren vorrangig diejenigen Gestalten, die im 19. und 20. Jahrhundert aufgetreten sind  bzw. im 21. Jahrhundert auftreten werden, während die älteren Versionen nur am Rande thematisiert werden können. Ich unterscheide schlicht zwischen älteren und neueren Konkretisationen des religiösen Fundamentalismus (RF 1). Wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, sind im folgenden stets die neueren, die ‘modernen’ Ausdifferenzierungen der strengen religiösen Gläubigkeit gemeint.[3]

Dieser erste Vorbegriff der Denkform des religiösen Fundamentalismus soll durch einen zweiten ergänzt werden. Leitend ist dabei der Aspekt ‘politischer Gestaltungswille’. Strenge oder geschlossene religiöse Gläubigkeit kann mit unterschiedlichen Haltungen zur Welt und zur politischen Sphäre verbunden sein. Mindestens drei Haltungen lassen sich unterscheiden: das gänzliche Fehlen eines politischen Gestaltungswillens, die Beschränkung des Gestaltungswillens auf einen relativ kleinen Bereich (dem die jeweilige ‘Mehrheitsgesellschaft’ gegenübersteht) und der umfassende politische Gestaltungswille (der die ganze Gesellschaft – und im Extremfall die ganze Welt – nach den eigenen religiösen Überzeugungen formen will).

Ich schlage nun vor, die mit einem umfassenden politischen Gestaltungswillen verbundene strenge oder geschlossene religiöse Gläubigkeit als Fundamentalismus im engeren Sinn zu bezeichnen. Als Synonym für ‘Denkform des religiösen Fundamentalismus im engeren Sinn’ verwende ich auch ‘religiöser Fundamentalismus 2’, kurz ‘RF 2’.

Auch dieser Typ des Fundamentalismus tritt zu unterschiedlichen Zeiten und in ganz verschiedenen Gestalten auf. Wiederum interessieren vorrangig die neueren, die ‘modernen’ Ausgestaltungen von RF 2. Und wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, sind im folgenden stets die ‘modernen’ Versionen von RF 2 gemeint.

Grundsätzlich ist festzuhalten: RF 2 impliziert RF 1, aber nicht umgekehrt. RF 1 kann auch völlig a-politisch sein oder sich damit begnügen, ein relativ kleines Lebensumfeld gemäß den eigenen Überzeugungen zu gestalten.[4]


[3] Aus der Zielsetzung der Denkformanalyse ergibt sich, dass ich den Begriff des (religiösen) Fundamentalismus nicht von vornherein nur auf spezifisch moderne Formen der Religiosität anwende. Das schließt freilich nicht aus, dass auf einer anderen Argumentationsebene spezielle Fundamentalismusbegriffe gebildet werden können, die genau auf diese modernen Phänomene zugeschnitten sind.

[4] Riesebrodt etwa hält fest: „Keineswegs alle fundamentalistischen Bewegungen politisieren sich ja in dem Sinne, daß sie entweder die politische Herrschaft für sich selbst oder zumindest für ihre Prinzipien auf der staatlichen Ebene anstreben. Im Gegenteil, viele schaffen v.a. ein religiöses Milieu, in dem die ideale Ordnung gelebt werden kann, und halten sich ansonsten von der verderbten Welt fern.“ (M. Riesebrodt: Fundamentalismus, Säkularisierung und die Risiken der Moderne. In: H. Bielefeldt/W. Heitmeyer (Hg.): Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus. Frankfurt a.M. 1998, S. 77.)

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