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Einleitung: Zugriff auf das Thema

Mein Interesse an der öffentlichen Fundamentalismusdebatte und an der Fundamentalismusforschung ist nicht primär religionswissenschaftlicher, religionssoziologischer oder historischer, sondern philosophischer Art. Das spezielle philosophische Interesse ergibt sich aus der langjährigen Beschäftigung mit Problemen der Ideologieforschung, der Illusionstheorie und der Weltanschauungsanalyse.[1]

Mit diesem theoretischen Kontext, der bald deutlichere Konturen gewinnen wird, hängt das Hypothesengefüge zusammen, das ich in meinem Versuch über den Fundamentalismus anwenden und erproben möchte. Dazu gehören folgende Annahmen und Überlegungen:

1. Unterschiedlichen konkreten Weltauffassungen, wie sie z.B. für bestimmte religiöse Strömungen prägend sind, kann ein und dieselbe Denkform zugrundeliegen. Ich behaupte, dass sich die Vielfalt der Weltauffassungen, deren Inhalte stark voneinander abweichen, auf wenige allgemeine Weltauffassungstypen, die auch als allgemeine Denkformen bezeichnet werden sollen, reduzieren lässt. Jede einzelne Weltauffassung kann demnach als Ausdifferenzierung oder Konkretisation einer allgemeinen Denkform begriffen werden, die in dem unproblematischen Sinn ‘überhistorisch’ ist, dass sie in unterschiedlichen historischen Konstellationen aktualisierbar ist und faktisch auch aktualisiert wird. In traditioneller Redeweise lassen sich die allgemeinen Denkformen als Grundmöglichkeiten des menschlichen Geistes begreifen.

Diese Annahme hat auch Konsequenzen für den Fundamentalismusbegriff bzw. für jedes andere Etikett, das an die Stelle des Ausdrucks ‘Fundamentalismus’ tritt: Nicht nur eine bestimmte Art von Religiosität kann dann ‘fundamentalistisch’ genannt werden (amerikanischer, islamischer Fundamentalismus usw.), sondern auf einer höheren Abstraktionsebene auch die allgemeine Denkform, welche diesen und weiteren Ausdifferenzierungen zugrunde liegt.

2. Weltauffassungen können grundsätzlich in religiöse und nicht-religiöse bzw. profane unterteilt werden. Religiöse Weltauffassungen beruhen auf einer supra-naturalistischen Ontologie (die mit über-natürlichen Größen irgendwelcher Art rechnet), profane Weltauffassungen hingegen auf einer naturalistischen Ontologie (die ausschließlich mit natürlichen Größen rechnet – im weiten Sinn des Wortes, demzufolge auch sozio-kulturelle Größen natürlich, d.h. vor allem: nicht über-natürlich sind).

3. Im Feld profaner Weltauffassungen muss ebenfalls zwischen allgemeinen Denkformen und ihren vielfältigen Ausdifferenzierungen unterschieden werden. Darüber hinaus gilt, dass die allgemeine fundamentalistische Denkform der Unterscheidung zwischen religiösen und profanen Weltauffassungen gewissermaßen vorgelagert ist, d.h. sie kann sowohl religiöse als auch profane Konkretisationen erfahren. Neben den religiösen Fundamentalismen gibt es demnach auch profane Fundamentalismen. Die Logik der Fundis kann überall zur Geltung kommen.

4. Jede Weltauffassung lässt sich, zumindest bis zu einem gewissen Grad, verstehen¸ wenn man ihre Prinzipien richtig rekonstruiert hat. Und die Denkformanalyse, welche auf allgemeine Denkmuster und ‘formale’ Grundlagen ausgerichtet ist, die unterschiedlichen Konkretisationen gemeinsam sind, trägt zum besseren Verständnis in nicht unerheblichem Maß bei. Die fundamentalistische Denkform und ihre Ausdifferenzierungen zu verstehen, ist also eine wichtige Aufgabe.

5. Weltauffassungen können auch kritisiert werden, und zwar sowohl auf der Ebene der jeweiligen Konkretisation, als auch auf der Ebene der allgemeinen Denkform. Das bedeutet für die Fundamentalismuskritik: Die Kritik kann sich z.B. speziell gegen den amerikanischen Fundamentalismus richten, aber auch allgemeiner gegen den religiösen Fundamentalismus und schließlich ganz generell gegen fundamentalistisches Denken überhaupt.

6. Kritik an einer Weltauffassung, auf welcher Ebene sie auch vorgebracht werden mag, ist stets positionsgebunden, sie spricht aus, was aus der Sicht einer ganz bestimmten (philosophischen, theoretischen, religiösen usw.) Position an einer bestimmten Denkweise auszusetzen ist. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die grundsätzliche Kritik an einer Denkform bzw. an einer ihrer Ausdifferenzierungen von den Kritisierten tatsächlich akzeptiert wird. Deshalb ist es jedoch nicht sinnlos, eine solche Kritik zu üben, man sollte sich nur über ihren Status als positionsgebundene Kritik mit eingeschränkter Akzeptanz im klaren sein.

7. Die allgemeine Denkform, die ich als fundamentalistisch bezeichne (für die aber auch ein anderer Ausdruck gefunden werden könnte), lässt sich durch drei bzw. vier Elemente kennzeichnen. Erstens wird für die Grundannahmen der jeweiligen religiösen oder profanen Weltauffassung ein Anspruch auf ‘letzte’ oder ‘absolute’ Wahrheit erhoben, zweitens haben diese Grundannahmen den Status von unbezweifelbaren Dogmen und drittens wird angestrebt, der ‘großen’ Wahrheit kompromißlos zu folgen.

Diese Kombination ist nicht notwendigerweise mit einer starken Politisierung verbunden, die häufig als für fundamentalistische Strömungen charakteristisch betrachtet wird – sie lässt sich auch z.B. bei religiösen Bewegungen finden, die sich von der ‘Mehrheitsgesellschaft’ abgrenzen und auf einem begrenzten Terrain konsequent nach ihren Prinzipien leben. Zur Politisierung kommt es jedoch, wenn als viertes Element ein umfassender politischer Gestaltungswille hinzutritt.

8. Die Denkformanalyse kann für eine generelle Fundamentalismuskritik genutzt werden, die wiederum Konsequenzen für alle Varianten des Fundamentalismus hat. Eine solche Kritik muss sich vor allem mit dem stets erhobenen Anspruch auf ‘absolute’ Wahrheit und und dem Anspruch, über unbezweifelbare Dogmen zu verfügen, beschäftigen. Die Elemente drei und vier beruhen ja auf den Elementen eins und zwei, wie die folgenden Überlegungen zeigen: Wenn wir tatsächlich über eine ‘absolute’ Wahrheit mit lebenspraktischer Bedeutung verfügen würden, dann wäre es am besten, wenn wir sie kompromißlos umsetzen würden. Und wenn sie darüber hinaus eine allgemeine politische Bedeutung haben sollte, so wäre es naheliegend, kompromißlos die umfassende politische Gestaltung der jeweiligen Gesellschaft gemäß der ‘großen’ Wahrheit anzustreben.

So viel vorab zu meinem Hypothesengefüge. Noch einmal zur Terminologie. Der Ausdruck ‘Fundamentalismus’ ist, als eine Art Etikett verstanden, prinzipiell verzichtbar und durch einen anderen ersetzbar. Welches Schild auf einen Kasten geklebt wird, ist freilich weniger wichtig als die Sachen, die in ihm enthalten sind. Ich schlage daher vor, an dem einmal eingeführten Etikett festzuhalten und geeignete Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um einen in kognitiver Hinsicht schädlichen Gebrauch zu vermeiden.

Schädlich für die Erkenntnis ist es z.B., wenn der Ausdruck ‘Fundamentalismus’ von vornherein und ausschließlich (ab)wertend verwendet wird, wenn der Begriff direkt als Kampf- oder sogar als Diffamierungsbegriff dient. Ein solcher Gebrauch erschwert oder verhindert ein Sich-Einlassen auf die Eigenart der verhandelten ‘Sache’. Ich beginne folglich damit, gezielt einen nicht-(ab)wertenden, d.h. einen ‘neutralen’ Begriff der fundamentalistischen Denkform zu bilden. Ein solcher ‘neutraler’ Begriff erlaubt sowohl eine Bejahung, als auch eine Verneinung oder Kritik dieser Denkform. Später werde ich dann selbst einen kritischen Begriff des Fundamentalismus hinzufügen..

Der folgende Text besteht, diese Unterscheidung zwischen einem neutralen und einem kritischen Fundamentalismusbegriff nutzend, aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es vorrangig um die verstehende Analyse einer bestimmten Denkform – die mit dem nicht-(ab)wertend aufzufassenden Etikett ‘Fundamentalismus’ versehen wird –, im zweiten Teil steht hingegen die kritische Analyse dieser Denkform auf der Tagesordnung.

Worin unterscheiden sich beide Herangehensweisen? Die verstehende Analyse ist bestrebt, die Grundannahmen der jeweiligen Denkweise freizulegen und aufzuzeigen, wie sie ‘funktioniert’, welche Logik am Werk ist. Die Ergebnisse einer verstehenden Analyse sind, wenn sachlich korrekt, für alle Positionen gültig; insbesondere müssen sich die Anhänger der untersuchten Denkform in der Analyse wiederfinden können. Ist das nicht der Fall, so muss sie revidiert werden.

Die kritische Analyse problematisiert hingegen die freigelegten Grundannahmen der jeweiligen Denkweise, und sie formuliert Einwände gegen deren ‘Funktionsweise’ und insbesondere gegen die praktischen Konsequenzen der Denkform. Die kritische Analyse ist, wie bereits erwähnt, stets positionsgebunden. Dass die Kritisierten der Kritik zustimmen bzw. zustimmen könnten, ist hier, anders als bei der verstehenden Analyse, nicht erforderlich. Insbesondere in ‘weltanschaulichen’ Auseinandersetzungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine grundsätzliche Kritik an einer Denkform von den Kritisierten tatsächlich akzeptiert wird.

Die Vorgehensweise in meinem Versuch über den Fundamentalismus als Denkform ist etwas ungewöhnlich. Für die meisten Untersuchungsschritte wird nämlich ein Bezugstext ausgewählt, und ich entfalte meine Überlegungen dann in intensiver und detaillierter Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Bezugstext. Nehmen wir als Beispiel den zum amerikanischen Fundamentalismus ausgewählten Aufsatz. Ich entnehme aus ihm erstens Informationen zu dieser Strömung (die als korrekt vorausgesetzt werden, obwohl sie im Einzelfall vielleicht noch problematisiert werden könnten). Zweitens konfrontiere ich die Argumentation mit meinem Hypothesengefüge und dessen theoretischen Hintergründen, um die Denkformanalyse voranzutreiben. In diesem Zusammenhang werden auch Kritikpunkte formuliert und Verbesserungsvorschläge gemacht.

Die Bezugstexte für die kritische Analyse der fundamentalistischen Denkform und ihrer Konkretisationen werden genutzt, um einerseits wichtige Einsichten für eine theoretisch begründete Kritik des Fundamentalismus zu gewinnen und um andererseits relevante Fehleinschätzungen offenzulegen, die vermieden werden sollten. Das kritische Gesamtkonzept erwächst so allmählich aus mehreren textnahen und theoriegeleiteten Kommentaren.

Insgesamt entwickle ich also eine (verstehende und kritische) Theorie des Fundamentalismus durch eine Kombination von theoriebezogenen Analysen einzelner Texte, von denen ich meine, dass sie in gewisser Hinsicht als repräsentativ gelten können.

Mein Versuch über den Fundamentalismus ist aus dem fächerübergreifenden Hauptseminar Fundamentalismus hervorgegangen, das von der Religionswissenschaftlerin Manuela Martinek konzipiert wurde und das ich zusammen mit ihr an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf veranstaltet habe. Die Bezugstexte waren in vielen Fällen auch Seminartexte; dadurch wahren meine Ausführungen eine Nähe zur Lehrveranstaltung.[2]


[1] Vgl. meine grundlegenden Arbeiten: Theorie der Illusionen (Essen 1988) und Illusionskritischer Versuch über den historischen Materialismus (Essen 1989). Der dort entwickelte Ansatz ist in zahlreichen Büchern und Aufsätzen der 90er-Jahre, die hier nicht einzeln aufgelistet werden sollen, angewandt und weiterentwickelt worden.

[2] Die folgende Abhandlung ist 1999/2000 verfasst und in der Folgezeit nicht weiter überarbeitet worden. Ich habe sie vor der Veröffentlichung in MIM 1 nur auf sprachliche Unebenheiten durchgesehen und an die neue Rechtschreibung angepasst.

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