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6.       Fazit

Es hat sich gezeigt, dass Berge und Bergsteiger in der Literatur der letzten 200 Jahre recht unterschiedlich gesehen wurden. Die literarisch vermittelten Eindrücke können in etwa folgendermaßen tabellarisch zusammengefasst werden:

Kapitel

Sichtweise des Berges

Sichtweise des Bergsteigers

5.1       Der Runenberg          

Ort der Erkenntnis

Mensch, der über die Kunst Erkenntnis gewinnt

5.2       Der Alpenkönig und der Menschenfeind

Ort der Erkenntnis

Mensch, der dank der Natur (des Alpenkönigs) Erkenntnis gewinnt

5.3       Bergkristall

Ein Ort, der Dörfer, Familien, Menschen verbindet

Suche nach den kleinen Dingen des Lebens.

5.4       Die Schriften des Waldschulmeisters

Die Waldgegend bzw. der Berg als Gegensatz zum Fortschritt

Derjenige, der dem Fortschritt entflieht, der noch in der Natur lebt

5.5       Die Geier-Wally

Ort der Freiheit, der Emanzipation, der Wahrheit

Verkörperung von Freiheit und Willenskraft

5.6       Der König der Bernina

Ort der Schönheit, der Fremdenverkehr ermöglicht

Der Bergsteiger als der ewig Suchende

5.7       Matterhorn

Ort der Selbsterkenntnis, der Freiheit – dem Alltag enthoben

Bergsteiger, der vor dem Alltag flüchtet, aber letztlich die Kraft aus den Bergen mit in den Alltag, ins tägliche Leben, nimmt

5.8       Der Ersten Weltkrieg und seine Folgen

Ort des Krieges, des Heldentums und des Missbrauchs für politische Zwecke

Bergsteiger und Kriegsheld fallen zusammen; fortan wird der Bergsteiger zum außergewöhnlichen Helden

5.9       Schnee auf dem Kilimandscharo

Ort der Erkenntnis und des Todes

Tod des Körpers als geistige Freiheit, als Lösung von den Fesseln der Zivilisation

5.10     Der Berg der Klagen

Ort der Freiheit und der Gefahr, die Menschlichkeit zu verlieren

Einsamer Mensch, der in der Natur sein Ich und die Realität verliert;

5.11     Bergfahrt                    

Ort der Selbsterkenntnis, in der es keinen Gott gibt

Wird zu einem Symbol des Sozialismus; die Trennung der Menschen bedeutet den Tod

5.12     Berg ohne Gnade

Symbol für kommunistische Ideale, denn nur gemeinsam kann man den Berg besteigen

Bergsteiger als der wahre Kommunist, der dem Kapitalismus abschwört

5.13     Mallorys zweiter Tod

Mount Everest als Ostpol, als Symbol für die größte Herausforderung des Menschen nach Nord- und Südpol

Mallory bzw. Messner als der Tatmensch, als derjenige, der Außergewöhnliches vollbracht hat

Auffallend ist, dass dem Berg als Medium der Selbsterkenntnis sehr viel Bedeutung beigemessen wird, dass der Mensch hier „nicht nur körperlich frisch und leistungsfähig“[1] wird, sondern dass vor allem „auch Geist, Gemüt und Charakter“[2] gestärkt werden, eine Erkenntnis, die in der Romantik etwa durch die Kunst oder durch Geister vermittelt wird.

Andererseits zeigt sich vor allem bei literarischen Werken, die „projektiv-aneignende“[3] Interpretationen für  wissenschaftliche verkaufen, die Gefahr, erst überhaupt nicht nach dem ‚Gewebe von Überzeugungssystemen’ des Textproduzenten zu fragen, sondern „das Überzeugungssystem des Interpreten bzw. des Analysierenden [...] direkt zur Analyse bzw. Interpretation“[4] zu verwenden. Beispiele hierfür finden sich im Kapitel Der erste Weltkrieg und seine Folgen, aber auch in Berg ohne Gnade oder Mallorys zweiter Tod, wo es zu einer teilweise frei erfundenen „Sinn-Besetzung“[5] kommt. Eine solche pseudowissenschaftliche Herangehensweise vereinfacht es, bspw. den Tod am Berg zum Heldentod, F.A. Cook zum Opfer des Kapitalismus und der Religion oder George L. Mallory zum Propheten zu stilisieren.

Die Diskussion, ob Bildung und Wohlstand nicht gleichzeitig die Urwüchsigkeit einer Landschaft und deren Bewohner bedrohen, findet sich früh in der Literatur. Rosegger zeigt die beiden Aspekte nebeneinander, ohne – und hier hat sich auch nach dem ‚Jahr der Berge 2002’ nichts geändert – eine definitive Lösung bieten zu können, genauso wie Heer den Tourismus als lebenswichtige Finanzquelle erkennt, die Arbeitsplätze schafft. Wichtig erscheint hier die Überlegung Theodor Wundts, dass es nicht zu einer Übererschließung der Alpen kommen darf, dass zumindest „die Hochregionen [...] unberührte und ausschließliche Naturstätte sein“[6] sollten.

Äußerst interessant ist Lalićs Warnung vor der Vereinsamung des Menschen in der Natur. Bei ihm verliert der Mensch, der zu lange allein in der Wildnis lebt, sein Ich, die Realität. Der Mensch kann langfristig nicht alleine existieren, denn er braucht Menschen, um Mensch sein zu können, um zu leben.

Ein weiterer faszinierender Aspekt dieser Untersuchung war es festzustellen, dass sich durch das Vorhandensein von Geistern – etwa Astragalus oder der Geist Mallorys – eine Beziehung zwischen den ersten Werken der Romantik und dem Buch Messners findet.

Was bleibt jedoch dem Leser nach 200 Jahren Literatur, die sich mit Bergen und Bergsteigern befasst? Vielleicht die Erkenntnis, dass das eigene Ich in den Bergen durch Reduktion erfahrbar wird, dass unnütze Gedanken des Alltags als solche erkannt und ausgeschwitzt werden, dass es das „Schöne am Weg“[7] erneut zu entdecken gilt, welches in den Bergen durch eine Verminderung der äußeren technischen und zivilisatorischen Einflüsse wieder fassbar und erfahrbar wird. Fallen die Antworten zu diesen Überlegungen in den betrachteten Werken – von Tieck bis Messner – recht unterschiedlich aus, so sind sie doch durch das Element des Blicks nach innen, der Selbsterkenntnis, die der Mensch am Berg finden kann, verbunden.

In Ich und die Berge (1917) schreibt Theodor Wundt:

Der dort oben immer wieder nach innen gerichtete Blick ließ mich das äußere Leben mehr und mehr als das ansehen, was es in Wirklichkeit ist, eben als eine Äußerlichkeit, mit der man sich humorvoll abfindet, und der Umgang mit der Natur wendete den Blick immer wieder auf das Große und Natürliche. Einen starken Einfluß hat dabei auch der Umgang mit den besseren Führern auf mit gehabt [...]. Bei ihnen habe ich Achtung vor dem Menschen   a n   s i c h gelernt, sie haben mir mehr gesagt, als manche ‚Kulturträger’ mit ihrem Ehrgeiz, ihrer Eitelkeit, Nervosität, Empfindlichkeit und was sonst noch solche liebliche Dinge sind.[8]

Damit schließt sich der Kreis zu Kofi A. Annans eingangs zitierten Überlegungen zum ‚Internationalen Jahr der Berge 2002’, wo Berge durch ihre Größe „Demut gebietend und erhaben zugleich“ wirken. Es gilt, ein „Kulturerbe der Bergvölker“ zu schützen und zu pflegen, und es muss allen daran gelegen sein, auch künftigen Generationen die Teilhabe an diesem „Reichtum der Bergregionen der Welt“[9] zu sichern, eine innere Herausforderung, der sich die Literatur – etwa Theodor Wundt – schon früh gestellt hat und der sich jeder Bergsteiger – egal ob Wochenendtourist oder Profibergsteiger – auch nach dem ‚Internationalen Jahr der Berge 2002’ stellen muss.

 


[1] Wundt: Wanderleben 1917, S. 361

[2] Wundt: Wanderleben 1917, S. 361

[3] Tepe: Mythos & Literatur 2001, S. 125

[4] Tepe: Mythos & Literatur 2001, S. 125

[5] Tepe: Mythos & Literatur 2001, S. 125

[6] Wundt: Wanderleben 1917, S. 365

[7] Wundt: Wanderleben 1917, S. 363

[8] Wundt: Wanderleben 1917, S. 360

[9] Annan: Berge 2002, S. 3


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