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5.13 Reinhold Messner: Mallorys zweiter Tod[1] (2000)

Reinhold Messner, geb. 1944 in Südtirol, ist dem berginteressierten Publikum primär als jener Mensch bekannt, der alle vierzehn Achttausender der Erde als Erster bestieg. Messner ist Autor zahlreicher Sachbücher zum Thema Bergsteigen und lebt nach der Devise: „Der Umweg ist das Ziel.“[2] Das Buch Mallorys zweiter Tod (2000) ist eine Kombination aus literarischem Werk und Sachbuch, das das Verschwinden George L. Mallorys und Sandy Irvines 1924 zum Inhalt hat.

Inhaltsangabe:

George Leigh Mallory verschwand 1924 mit seinem Seilpartner Andrew Comyn (Sandy) Irvine bei der Besteigung des Mount Everest. Seit damals kursiert die Frage, ob sie als Erste den Gipfel des höchsten Berges der Welt erreicht haben könnten oder ob sie gescheitert sind. Als Beweis hierfür könnte ein Fotoapparat dienen, den die beiden bei sich trugen. Deshalb machte sich 1999 eine Expedition auf die Suche nach ihren Leichen und dem Fotoapparat. Die Sensation schien perfekt, als der Körper Mallorys gefunden wurde, doch blieb der Fotoapparat verschollen. Messners Buch kreist nun um Gedanken, die Mallory zu seinem zweiten Tod – dem Auffinden seiner Leiche – gehabt haben könnte, um die Motive der Expedition, ob Mallory und Irvine 1924 den Gipfel erreicht haben oder nicht.

5.13.1 Hypothese

Messner stellt sich in die Nachfolge von George L. Mallory. Ausgehend von einer höheren Legitimation, über Mallory schreiben zu dürfen, stellt er die Ereignisse vom Verschwinden Mallorys 1924 und dessen Auffinden 1999 aus Mallorys Perspektive dar, der ‚einzig wahren’, die jedoch Messners eigenen Ansichten entspricht.

5.13.2 Mythos Mallory und intertextuelle Bezüge

1922, bei dem Abstieg einer Vierergruppe am Mount Everest, kommt es zu einer äußerst kritischen Situation. Die letzten drei der Gruppe rutschen aus und rasen zu Tal. Nur einer steht noch: „Schon als er hinter sich verdächtige Geräusche hört, stößt er den Pickel tief in den Firn, schlingt das Seil herum, legt sein ganzes Gewicht darauf und stemmt sich gegen den Zug. [...] Plötzlich strafft sich das Seil, gibt ein wenig nach, surrt – und hält.“[3] Der die anderen hielt, ist George L. Mallory: „Mitte dreißig ist er, und ein für sein Alter knabenhaftes Gesicht deutet auf seine unverwüstliche Gesundheit hin. Seine Ironie, die drahtige Gestalt, sein schwebender Gang sind 1922 schon Legende.“[4]

Sein Verschwinden in den Gipfelregionen des Mount Everest war die Geburtstunde des Mythos von George L. Mallory, der fortan für den „Typ des kühnen, vor keinem Rückschlag kapitulierenden Tatmenschen [...]“[5] steht, der sich als „eine Art Achilles der Berge“[6] zeigt, selbst im Tod kein gewöhnlich Sterblicher, der verwest, sondern eine „Marmorleiche, unversehrt wie ein griechischer Gott“[7], ein Gott, dem Messner die Worte in den Mund legt: „Ich bin ein Mythos.[8]

Dabei erinnern sowohl die Leiche, „die im Schutt festgefroren“[9] war, als auch der exponierte Fundort der Leiche an den an den Kaukasus geschmiedeten Prometheus, eine Verbindung, die 1999 bei der Entdeckung der Leiche ins Spiel gebracht wird: „Der Anblick des Lochs, das Goraks in die rechte Gesäßhälfte gehackt hatten, war entsetzlich.“[10] Mallorys Körper wird von seinen Entdeckern mit Steinen bedeckt,  eine Tat, die Messners Mallory mit den Worten „Natürlich werden sie nachträglich behaupten, sie hätten [...] meinen [Mallorys, J.R.] Leib mit Steinen geschützt vor Sturm und auch vor Raubvögeln“[11] kommentiert.

Wie aus diesen Zitaten leicht ersichtlich ist, setzt Messner den Mythos Mallory in eine entsprechende mythologische Tradition, die „mythische Erzählungen oder Elemente aus solchen Erzählungen“[12] – hier der griechischen Heldengeschichten um Achilles, Alexander d. Gr., Prometheus – verarbeitet, und die alle in der Tradition des Aufbruchs nach Osten – Achilles nach Troja, Alexander nach Indien und Prometheus, der an den Kaukasus geschmiedet wird – stehen. Besonders Alexander der Große ist als Vorgänger Mallorys geradezu prädestiniert: Im Straßburger Alexander (ca. 1170)[13] findet sich die Reise Alexanders in den Osten, zunächst nach Indien, „zuletzt [...] bis an die Pforten des Paradieses, wo er jedoch zurückgewiesen wird“[14]. Alexanders Motivation zeigt sich in den Versen 4885 ff.:

ih mûz beginnen / ettewaz daz mir wol tût. / Hêten si alle uheren mût, / di in der werilde wollent wesen, / waz solde in danne daz leben?[15]

Diese Reise wird in Arnolt Bronnens Ostpolzug[16] (1926) neu umgesetzt, wobei der Himalaja für Alexanders Paradies steht. Indem Messner in Mallorys zweiter Tod (2000) häufig auf Bronnen zurückgreift, sich vor allem sprachlich und gedanklich am Ostpolzug orientiert, stellt er seinen Mallory in diese literarische Tradition.

5.13.3 Messner und Mallory

„So gut, wie viele es wünschen, war ich als Felskletterer nicht, und vielleicht hat Longstaff Recht, wenn er meinen Ruf als Bergsteiger weniger auf gelungene Touren zurückführt als vielmehr auf all die Berge, an denen ich gescheitert bin“[17], lässt Messner seinen Mallory sagen. Scheitern beinhaltet aber – sofern man über die nötige Konsequenz verfügt – immer einen Lernprozess und einen Neuanfang: „Beim Scheitern nämlich erleben wir Menschen mehr von unserem Menschsein als bei den Erfolgen.“[18] Hier findet sich eine direkte Verbindung zum Autor Reinhold Messner, der sich selbst mit den Worten „Ich bin öfters gescheitert als alle anderen“[19] in Mallorys Nachfolge stellt bzw. Mallory zu seinem Vorgänger erklärt, womit das Scheitern bzw. das Scheitern-Können zum markantesten Kennzeichen außergewöhnlichen bergsteigerischen Tuns wird. Wie wichtig dieses Scheitern für den Mythos Mallory und für Messner ist, zeigt sich in der Aussage:

Mallory musste scheitern, und nur weil er auf dem Weg zum höchsten aller Ziele ohne Zeugen verschwand, ist er unser aller Wunschsieger geworden; der Mount Everest als Metapher für das Unmögliche und Mallory das personifizierte Streben danach.[20]

Mit der weiteren Textpassage: „Ich habe den Mythos Mallory nicht irgendwoher. Sein Leben, seine Träume und Wünsche sind mir vertraut, und wenn ich meine zitternden Hände ansehe beim Schreiben, weiß ich, wie es damals beim Sterben war“[21], stellt Messner eindeutig klar, dass er den Mythos Mallory nicht ‚irgendwoher’ hat und verleiht somit seiner Interpretation dieser Tragödie eine ‚höhere’ Einsicht in die Fakten, ist Messner es doch, der den zum Mythos gewordenen Mallory aus seinem Innersten heraus versteht. So könnte nachfolgendes Zitat auf beide zutreffen:

Vielleicht gibt es einen Übermenschen, der stundenlang gegen die Teufelei des Sturms, die Hoffnungslosigkeit, des Wahnsinns ankämpfen kann, aber niemals wird man eine Truppe finden, deren Ausdauer auf eine solche Probe gestellt werden darf, es sein denn, ich gehe an ihrer Spitze.[22]

Messner stellt sich auf diese Weise indirekt auf eine Stufe mit Mallory, verleiht sich selbst dessen mythische, übermenschliche Züge, sieht sich als jemand, der eine besondere Legitimierung hat, über Mallory zu schreiben, denn für ihn war Mallory „ein Prophet“: „Um den Mythos Mallory zu verstehen, ist zu bedenken, dass Propheten die Geschichte nachhaltiger beeinflussen als Eroberer oder Rekordhalter.[23]

Wenn nun nach Messner nur in den Schriften Mallorys „alle Antworten auf unsere Fragen versteckt“ sind, es aber einer höheren Legitimierung bedarf, um diese zu verstehen, so zeigt sich hier ein gefährlicher Zug der messnerschen Interpretation, ein Zug, der Tendenzen zu radikaler Dogmatisierung aufweist. „Was [...] genau passiert ist im Gipfelbereich des Mount Everest, will ich [das wäre Reinhold Messner, J.R.] erzählen.“[24]

Diejenigen, die diese Berufung nicht haben, können das Werk nicht richtig verstehen und die anderen, denen das Verständnis fehlt, können Messners Werk nicht beurteilen: „Ich bin dagegen, dass Leute über meinen ersten Tod spekulieren, die nicht recherchieren können. Liest mich denn niemand?“[25] So verweigert Messner jenen, die nicht am Second Step waren, eine Kenntnis der Sache, denn „die Leute daheim auf ihren Barhockern sollten sich doch einmal diese Abstürze anschauen. Berge sind anders als auf Fotografien. Alle diese Bilder sind nichts als verlogene Welt, Selbsttäuschung.“[26]

Wenn nun der Nicht-Bergsteiger sich nicht zur Thematik äußern darf, die Lösung des Rätsels Mallory nur in Mallorys eigenen Schriften zu finden ist, es jedoch einer höheren Legitimierung zu deren Interpretation bedarf, so befinden wir uns in der Tradition einer hermeneutischen Textauslegung, die stark an die Scholastik erinnert: „Der autoritative Text, dessen Wahrheit unterstellt wird, ist immer auch der Auslegung bedürftig; der Magister hat allererst zu determinieren, in welchem Sinne er wahr ist.“[27] Als dieser Magister sieht sich Reinhold Messner, der den Unwissenden die Botschaft auslegt. Letztere haben diese zu akzeptieren, denn kritische Reflexionen Nicht-Eingeweihter bzw. der ‚Barhocker’ werden nicht geduldet.

Für Messner ist klar, dass der „Second Step [...] 1924 nicht kletterbar“ war und dass „Mallory und Irvine nur nach der Umkehr am Second Step verunglückt sein“[28] können. Dadurch, dass nur Höhenbergsteiger dies beurteilen können, wird Messners Sicht der Dinge in eine dem gewöhnlichen Sterblichen (‚Barhocker’) entrückte Sphäre versetzt, die Messner mit den Worten „Nein, ich habe bei meiner Spurensuche nichts erfunden, auch aus Respekt vor Mallory hätte ich das nicht getan“[29] absichert.

5.13.4 Überzeugungssystem

Messners Hinweis bezüglich des Namens seines Großvaters Troi, „aus dem Ladinischen übersetzt: der Weg“[30], der fast schon Prädestinierung für einen Aufbruch ist, das Anknüpfen über Bronnens Ostpolzug (1926), an die literarische Tradition der Alexanderdichtung und damit der indirekte eigene Eintritt in diese Tradition, die ‚wahre’ Erkenntnis, die Messner über Mallory und das Bergsteigen postuliert, die Verweigerung der Erkenntnis für all jene, die nicht Höhenbergsteigerei betreiben bzw. nicht am Second Step waren, das Hineinlegen der eigenen Ansichten in den toten George L. Mallory ergeben das Bild eines überdimensionalen Höhenbergsteigers, der „auf dem einzigen richtigen Weg zum Gipfel“[31] (auch der Erkenntnis) ist. Messners Aussagen dürfen vom Fußvolk nicht kritisiert werden, da diesem die nötigen Kenntnisse fehlen. Ähnliche – aber ironisch gemeinte – Ansichten finden sich bei Molière:

Natürlich! Was die Herrschaft sagt, / Muß immer tief und geistreich sein, / Doch wenn der Knecht ein Wörtlein wagt, / Dann sind es blöde Faselein.[32]

Messner hat den Mount Everest als erster Mensch ohne Sauerstoff bestiegen, denn er filmte, wie Habeler nach ihm am Gipfel ankam. Zwei Jahre später hat er ihn sogar im Alleingang bestiegen und somit eine alpinistische Glanzleistung vollbracht. Doch parallel dazu werden die Leistungen der anderen immer mehr degradiert: Hillarys Erreichen des Gipfels fällt schon unter Banalität („Wären Mallory und Irvine bis zum Gipfel gekommen, ihre Besteigung wäre heute Historie, banal“[33]), Skiabfahrten werden kategorisch negiert („Aber heruntergefahren ist noch niemand vom Mount Everest“[34]), Ankers Glanzleistung, den Second Step geklettert zu sein, ins Lächerliche gezogen („Sie müssen es zurück schaffen, um einzugehen [...] als diejenigen, die sechs Meter am Mount Everest in kletterbares Gelände verwandelt haben.[35]). Auf die Frage nach dem Wieso bleibt nur eine Antwort: Weil diese Taten nicht von Messner vollbracht wurden, denn „Taten gibt man ihren Namen / Nach dem nicht, was sie sind, nach dem nur, wer sie tut.[36] Dieser Eindruck wird von Thomas Hegemann in dem Interview Annapurna-Nordwestwand[37] (1985) bestätigt: „[S]obald nicht mehr von ihm und seinen Ideen die Rede ist, schaltet Reinhold Messner innerhalb von Sekunden ab, hört nicht mehr hin.“[38]

Messner betrachtet somit sämtliche Ereignisse einer Tour nur aus seiner egomanischen Perspektive. Was ihn nicht kümmert, scheint nicht zu existieren, und was ihm zuwider ist, wird ausgeblendet. Entspricht etwa ein Partner nicht mehr seinen Vor-stellungen, betont er Messner zu wenig, versucht womöglich sich neben ihm zu profilieren oder von ihm zu distanzieren, so spricht Messner, zum Beispiel nach der Besteigung des Mount Everest 1978 mit Peter Habeler, von „Enttäuschung mit Partnern“[39] und verlogener „Kameradschafts-Ideologie“[40], auch wenn Habeler den schneeblinden Messner nach der Gipfelbesteigung ins Tal bringen musste. Reinhard Karl, Augenzeuge dieses Moments und erster Deutscher auf dem Gipfel des Mount Everest, schreibt dazu:

Er [Reinhold Messner, J.R.] weint, er kann kaum noch etwas sehen. [...] Halb blind tastet Reinhold nun die Eiswände hinab. Bulle beruhigt ihn und gibt ihm Augentropfen. [...] Völlig apathisch liegt er im Zelt. Ich muss ihm die Hand mit der Blechtasse zum Mund führen. Als er selbst danach greifen will, gehen die Finger ins Leere. Er kann nicht einmal die Tasse richtig sehen.[41]

Für eine „Zweckgemeinschaft“[42], eine Seilschaft auf Zeit, ist das eine Nebensächlichkeit, die in Messners Buch Berge versetzen (2001) einfach ausgeblendet wird, eine genauso eigentümliche ‚Lösung des Gordischen Knotens’ wie jene Alexanders.

„Wie immer, wenn es uns selbst betrifft und unsere Träume, wollen wir belogen werden. Also lasst euch belügen, reimt aus einem Wust von Wunschdenken, Heldentum und Volksverführung jene Geschichte, die ihr glauben wollt“[43], scheint Messner zu sich selbst zu sagen, denn die Anreicherung von Fakten mit nicht-faktischem Material ist letztlich nichts anderes als die Anpassung der Wahrheit an Messners Überzeugungssystem. Dieses Überzeugungssystem zeigt sich des Weiteren in Messners folgender Aussage: „[I]n meinem Paß steht heute auch ‚Bergbauer’ als Berufsbezeichnung“[44], wenngleich er im Winter in Meran, der zweitgrößten Stadt Südtirols, wohnt, demnach sozusagen nur ein ‚Sommer-Bergbauer’ ist.

Betrachtet man ein derart dogmatisches Überzeugungssystem jedoch kritisch, so zeigt sich, dass in Mallorys zweiter Tod weder das Rätsel um George L. Mallory gelöst wurde noch gelöst werden kann, ehe nicht besagte Kamera gefunden wird, und dies kann nicht dadurch geschehen, dass Messners oder Mallorys Schriften durchsucht werden, sondern nur dadurch, dass am Mount Everest selbst nach dem verschwundenen Fotoapparat gesucht wird. Einige Erkenntnisse hat die erste ‚Mallory & Irvine Research Expedition’ 1999 schon gebracht, die zweite Expedition 2001[45] musste aufgrund einer Rettungsaktion und wetterbedingt abgebrochen werden, konnte jedoch mit einigen neuen Details, etwa Sauerstoffflaschen, einer Zelt-stange, Keksen, Tee, aufwarten. Vielleicht bringt irgendwann eine Expedition eine definitive Lösung. Wenn nicht, bleibt der Mythos um George L. Mallory so lange erhalten, solange sich die ‚Barhocker’ über ihn unterhalten und spekulieren. Verbietet man ihnen aber den Mund, so wird die Geschichte sich über den Mythos legen, und irgendwann wird niemand mehr wissen, wer George L. Mallory, wer Andrew Comyn Irvine, wer Reinhold Messner war, womit der Leser bereits mitten in der Kritik des messnerschen Überzeugungssystems angelangt ist.

5.13.5 Kritik

Zunächst gilt es festzuhalten, dass Messner den Second Step nie geklettert ist. Im Unterschied zu Mallory, der 1924 mit Irvine den Grat kletterte, querte Messner bei seiner Alleinbegehung der Nordroute des Mount Everest 1980 unterhalb des Grates zur Norton-Schlucht[46], von wo aus er dann Richtung Gipfel weiterstieg, umging somit alle drei Felsstufen: „Ich habe mich spontan entschlossen, in die Nordhänge des Mount Everest zu gehen, und dies, obwohl ich nach Mallory und Irvine habe Ausschau halten wollen.“[47] Diese Abweichung von Mallorys Route ist dem Ausschnitt der Mount-Everest-Karte[48] deutlich entnehmbar. Der Einzige, der die zweite Stufe jemals nachweislich geklettert ist, ist Conrad Anker, nicht Reinhold Messner. Anker war es auch, der 1999 Mallorys Leiche fand, und dieser Fund scheint Messner schwer im Magen zu liegen. Die literarische Figur des George L. Mallory aus Messners Buch fertigt seine Entdecker mit Worten ab: „Mich ekelt vor soviel Ehrerweisung. Und diese Heuchelei! Nein, ich will nicht von Leichenfledderei reden, aber von Pietät hörte ich nichts, als man meine [Mallorys, J.R.] Taschen ausräumte.“[49]

Doch ist genau dieses Auffinden der Leiche Mallorys eine wissenschaftliche Tat, nicht Messners Interpretation der Schriften Mallorys, besonders, da vom letzten Tag keine Aufzeichnungen existieren – wie auch, wenn Mallory dabei starb? Parallel dazu stellt sich die Frage, wie sich Messner Jahre zuvor bei der Entdeckung des ‚Ötzi’, des Mannes vom Hauslabjoch, verhalten hatte. „Je mehr wissenschaftlich belegte Daten und Fakten zum Mumienfund am Hauslabjoch bekannt wurden, um so mehr wurde meine Phantasie angeregt“[50], schreibt er, und einige Seiten später: „Ich habe den Toten nicht beweint, sondern als Botschafter begrüßt. Als Botschafter einer früheren Zeit. Ich warte mit Neugierde auf die Forschungsergebnisse.“[51]

Wo liegt also der Unterschied zwischen der Neugierde hinsichtlich George L. Mallory und ‚Ötzi’? Darf ein Toter des Industriezeitalters nicht geborgen werden, weil er kultivierter scheint? Darf Messner Bilder des toten Mannes vom Hauslabjoch in seinem Buch Rund um Südtirol[52] (1992) veröffentlichen, während er die Entdeckung Mallorys unter anderem mit „Wo hat’s schon eine ‚schönere Leich’’?“[53] ins Lächerliche zieht? Mallory wurde unter Steinen begraben, der ‚Ötzi’ ruht heute in einem eigenen Museum in Bozen – was erscheint ethisch vertretbarer? Des Weiteren findet sich in Mallorys zweiter Tod das Bild eines Totenschädels[54] eines unbekannten Bergsteigers. Ist dies korrekt, nur weil es sich um einen Unbekannten handelt? Wo befindet sich Messners Grenze zwischen ‚diesen Toten darf man abbilden, jenen aber nicht’? Entscheidet letztlich nur die Berühmtheit bzw. der Bekanntheitsgrad eines Toten, bei Messner somit der Name George L. Mallory, ob Bilder eines Verstorbenen veröffentlicht werden dürfen oder nicht?

Auch die Frage nach einem ‚Propheten’ Mallory drängt sich auf. Mallory hat weder etwas Zukünftiges vorhergesagt, noch war er der Verkünder und Deuter einer göttlichen Botschaft – und er hat sich sicherlich auch nie als Prophet gesehen. Auf die Frage, warum er den Everest besteigen wolle, gab er 1923 die berühmte Antwort: „Weil es ihn gibt.“[55] Mallory erscheint – hier vielen Menschen ähnlich – als ein Suchender, jemand, der hinter einer „trostlose[n] Welt aus Schnee und schwindenden Hoffnungen“ mehr vermutet: „[U]nd doch muß da noch etwas anderes sein.“[56]

So stellt sich die Frage, ob Mallorys ‚Prophetie’ mit der Besteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff zusammenhängt. Diese Überzeugung ist jedoch 1924 Edward Felix Norton zuzuschreiben, der glaubte, „dass ungeschwächte Bergsteiger unter günstigen Bedingungen auch ohne Sauerstoff auf den Gipfel kommen könnten“. Hingegen zeigt Mallorys Aussage von 1924: „Jetzt wusste ich, und dieser Entschluss war endgültig, Irvine und ich würden mit Sauerstoffgeräten steigen“[57], dass er aufgrund der Erfahrungen der Jahre 1921-24 nicht mehr von einer sauerstofflosen Bezwingung des Mount Everest überzeugt war. Weshalb hätte er sonst die Flaschen mitnehmen und benutzen sollen? Mallorys eigene Worte zeigen somit, dass ein ‚sauerstoffflaschenloser Prophet’ Mallory schwer fassbar ist und – zumindest 1924 – eher einem Wunschdenken entspricht denn Mallorys eigenen Aufzeichnungen desselben Jahres.

Wird ein ‚Prophet’ Mallory hingegen aus dem Blickwinkel der mittelalterlichen Typologie betrachtet, so ergeben sich interessante Erkenntnisse:

Unter Typologie als hermeneutische Methode versteht man ein Auslegungsverfahren, das in Personen [...], von denen im Alten Testament berichtet wird, Vorabbildungen und Vorausdarstellungen entsprechender Personen [...] im Neuen Testament sieht.[58]

Unter diesem Aspekt der Wiederholung, „demzufolge ein wirklich vorgefallenes historisches Ereignis als reale Prophetie eines anderen vorgefallenen oder erwarteten Ereignisses gedeutet wird“[59], erscheint Mallory als „Präfiguration“, als Typos der Alten Alpinistik, der die Besteigung des Mount Everest verheißt, während Messner sein Antitypos ist, die Erfüllung[60] dieser Prophetie. Aus der Kombination dieser Prophetie, des ‚höheren’ Verständnisses für Mallorys Taten und der Parallelisierung seiner Denk- und Handlungsweisen mit Messners Denken und Tun ergibt sich der Verdacht, Messner baue an seinem eigenen, an Mallory anknüpfenden Mythos, was sich in folgender Textpassage zeigt: „Der Geist Mallorys ist dort oben geblieben, und ich spürte ihn nicht nur bei meinem Alleingang über die Nordflanke [...]. Als wäre sein Aufstieg nie wirklich zu Ende.“[61]

Wenn es „offensichtlich ein Stammtischsport geworden [ist], den Untergang Mallorys ergründen zu wollen“[62], doch genau deshalb sich ein Mythos um Georg L. Mallory bilden konnte, dann ist auch Messner letztlich nur einer der Stammgäste, da er weder die Leiche Mallorys gefunden hat noch den Second Step frei geklettert ist. Die von Messner Mallory in den Mund gelegte Aussage, dass Letzterer dagegen sei, „dass Leute über meinen ersten Tod spekulieren, die nicht recherchieren können. Liest mich denn niemand“[63], das Postulat Messners, dass man dort gewesen sein muss, um sich ein Bild des Second Step machen zu können, ohne jedoch selbst am Fuße der Felsstufe gewesen, ohne diese geklettert zu sein, lässt viele Frage offen, vor allem jene, inwieweit Messner selbst korrekt recherchiert bzw. interpretiert hat.

Messners abschließende Bemerkung „Nein, ich habe bei meiner Spurensuche nichts erfunden, auch aus Respekt vor Mallory hätte ich das nicht getan“[64] steht mit den genannten Kritikpunkten in großem Konflikt, denn die Frage, inwieweit sich Erfinden von falsch Interpretieren unterscheidet, nämlich so gut wie gar nicht, zeigt, dass vor allem dogmatische Werke äußerst vorsichtig zu lesen sind. Hätte Messner nichts erfinden wollen, hätte eine Übersetzung der Texte Mallorys genügt, versehen mit den entsprechenden technischen und historischen Daten, aber ohne abschätzige Äußerungen wie jenen zum Hillary-Step („Ein Spazierweg!“[65]), ohne Polemik bezüglich der Zunahme der Anzahl der Everestaspiranten, der Skiabfahrten, der Fotos usw.

 



[1] Messner: Mallory 2000

[2] Messner, Reinhold: Bis ans Ende der Welt. Alpine Herausforderungen am Himalaya und Karakorum. München 1990, S. 7

[3] Messner: Mallory 2000, S. 147

[4] Messner: Mallory 2000, S. 131

[5] Messner: Mallory 2000, S. 44

[6] Messner: Mallory 2000, S. 33

[7] Messner: Mallory 2000, S. 46

[8] Messner: Mallory 2000, S. 67

[9] Anker, Conrad / Roberts, David: Verschollen am Mount Everest. Dem Geheimnis von George Mallory auf der Spur. München 1999, S. 44, folgend zitiert als Anker: Mallory 1999

[10] Anker: Mallory 1999, S. 45; Anmerkung: Goraks sind die großen Raubvögel des Himalaja (a.a.O. S. 25)

[11] Messner: Mallory 2000, S. 27

[12] Tepe: Mythos & Literatur 2001, S. 80

[13] vgl. Bumke, Joachim: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. 4. Aufl. München 2000, S. 65, folgend zitiert als Bumke: Mittelalter 2000

[14] Bumke: Mittelalter 2000, S. 66

[15] aus: Straßburger Alexander, Vers 4885 ff. In: Kinzel, Karl: Lamprechts Alexander. Nach den 3 Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon u. den lateinischen Quellen. Halle 1884, S. 290f.; Übersetzung J.R.: Ich muss etwas / das mir gut tut, beginnen. / Hätten Sie alle eure Einstellung, / die in die Welt hinausziehen, / was würde ihnen das Leben bedeuten?

[16] Bronnen Arnolt: Ostpolzug, Berlin 1926

[17] Messner: Mallory 2000, S. 104

[18] Messner: Mallory 2000, S. 20

[19] Messner: Grenzen der Seele 1998, S. 119

[20] Messner: Mallory 2000, S. 213

[21] Messner: Mallory 2000, S. 20

[22] Messner: Mallory 2000, S. 123

[23] Messner: Mallory 2000, S. 200

[24] Messner: Mallory 2000, S. 16; Hervorhebung J.R.

[25] Messner: Mallory 2000, S. 26

[26] Messner: Mallory 2000, S. 104

[27] Schönberger, R.: Scholastik. In: Bautier, Robert-Henri u.a. (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters, Bd. VII. München 2002, S. 1523

[28] Messner: Mallory 2000, S. 213

[29] Messner: Mallory 2000, S. 206

[30] Messner: Grenzen der Seele 1998, S. 27

[31] Messner, Reinhold: Der gläserne Horizont: durch Tibet zum Mount Everest. München 1982, S. 273, folgend zitiert als Messner: Horizont 1982

[32] Molière: Amphitryon. In: Molière. Werke. Übertr. von Luther, Arthur / Schröder, Rudolf Alexander / Wolde, Ludwig. Leipzig 1968, S. 613, folgend zitiert als Molière: Amphitryon 1968

[33] Messner: Mallory 2000, S. 200

[34] Messner: Mallory 2000, S. 40; Hinweis: Hans Kammerlander fuhrt bereits 1996 vom Mount Everest mit den Skiern über die Nordseite ab. vgl. Kammerlander: Bergsüchtig 2000, S. 309ff.

[35] Messner: Mallory 2000, S. 196

[36] Molière: Amphitryon 1968, S. 592

[37] Kammerlander, Hans: Abstieg zum Erfolg, 2. Auflage München 2001, S. 110-138, folgend zitiert als Kammerlander: Abstieg 2001

[38] Kammerlander: Abstieg 2001, S. 133f.

[39] Messner, Reinhold: Berge versetzen. Das Credo eines Grenzgängers. München 2001, S. 175, folgend zitiert als Messner: Berge versetzen 2001

[40] Messner: Berge versetzen 2001, S. 175

[41] Dauer, Tom: Reinhard Karl. Ein Leben ohne Wenn und Aber. Zürich 2002, S. 170f.

[42] vgl. Messner: Berge versetzen 2001, S. 172

[43] Messner: Mallory 2000, S. 193

[44] Messner: Grenzen der Seele 1998, S. 24

[45] Hemmleb, Jochen: Mallory & Irvine. Die zweite Suche. Das höchste Fundbüro der Welt. In: Alpin. Das Bergwelt Magazin 11 (2001), S. 64 bis 67

[46] vgl. Messner: Horizont 1982, S. 236

[47] Messner: Horizont 1982, S. 237

[48] vgl. Messner: Horizont 1982, S. 308

[49] Messner: Mallory 2000, S. 26

[50] Messner, Reinhold: Rund um Südtirol. München 1992, S. 122, folgend zitiert als Messner: Südtirol 1992

[51] Messner: Südtirol 1992, S. 125

[52] Messner: Südtirol 1992; Bilder des Mannes vom Hauslabjoch (= ‚Ötzi’) finden sich auf der Innenseite des Deckblattes, auf S. 103 und S. 122

[53] Messner: Mallory 2000, S. 192

[54] vgl. Messner: Mallory 2000, S. 207

[55] Firstbrook, Peter: Verschollen am Mount Everest. Die spektakuläre Suche nach George Mallory. Nürnberg 1999, S. 172, folgend zitiert als Firstbrook: Mallory 1999

[56] Firstbrook: Mallory 1999, S. 173

[57] Messner: Mallory 2000, S. 174

[58] Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik. 4. Auflage München 2001, S. 81, folgend zitiert als Weddige: Mediävistik 2001

[59] Weddige: Mediävistik 2001, S. 81

[60] Schrenk, S.: Typologie. In: Bautier, Robert-Henri u.a. (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters. Bd. VIII. München 2002, S. 1133

[61] Messner: Mallory 2000, S. 20, Hervorhebung J.R.

[62] Messner: Mallory 2000, S. 181

[63] Messner: Mallory 2000, S. 26

[64] Messner: Mallory 2000, S. 206

[65] Messner: Mallory 2000, S. 64


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