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5.8 Der Erste Weltkrieg und seine Folgen

5.8.1 Hypothese

Im Ersten Weltkrieg verwischt an der Südfront, wo der Krieg im Hochgebirge stattfindet, die Grenze zwischen Bergsteiger und Kriegsheld. Dieses Muster nutzen nachfolgende politische Bewegungen aus, um aus Bergsteigern Übermenschen zu machen, die keiner Gefahr trotzen, die eher für ein unbekanntes Ziel sterben, als ihren Weg aufzugeben.

5.8.2 Bergsteiger – Kriegsheld – politisch missbrauchtes Werkzeug

Mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich das Bild des Bergsteigers. Nachdem Italien seit 1914 „immer mehr Artilleriestellungen anlegte, Straßen zur Grenze hin ausbaute, Bergsteige für Truppenbewegungen befestigte und die Einrichtung von Militärlagern vornahm“[1], war klar, dass es früher oder später zur Kriegserklärung kommen würde. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde die „Tiroler Verteidigungsfront in fünf Subrayone eingeteilt“[2], wobei das Zinnengebiet und die Gebiete um den Monte Cristallo, die nachfolgend etwas genauer beleuchtet werden, zum Subrayon V[3] gehörten. Dieser

erstreckte sich über eine schwer zugängliche Gebirgszone mit hochaufragenden Bergen und tief eingeschnittenen Tälern [...]. Für die Angreifer bildete diese Hochgebirgsgegend [- im Unterschied zur West- und Ostfront, wo sich die Kampfhandlungen in großräumigen, weiten Flächen abspielten, J.R. -] ein schweres Hindernis[4].

Generell war „die Tiroler Grenze [...] zu Kriegsbeginn 1915 meist offen und an der Dolomitenfront nur durch gänzlich veraltete [...] Befestigungen gesperrt“[5], die außer durch „Marsch-, Landsturm- und Reservebataillone [...] [von] Standschützenformationen“[6] gesichert wurde. Dass diese zahlenmäßig unterlegenen Einheiten einer italienischen Übermacht standhielten, liegt vor allem im Wissen, dass ein Zurückweichen den Verlust des eigenen Hauses, der Dörfer zur Folge gehabt hätte, die sich unmittelbar hinter der Front befanden. Eine getrennte Einheit, die so genannte Bergführerpatrouille, bestehend aus den Bergführern „Sepp Innerkofler mit seinem 19jährigen Sohn Gottfried, [...] Piller, Forcher, Rogger usw. [...,] unternahm unter Sepp Innerkofler viele schwierige und erfolgreiche Beobachtungspatrouillengänge“[7].

Innerkofler, „pünktlich und verläßlich“, hatte „sich als Bergführer einen guten Ruf erworben“[8] und meldete sich 1915 freiwillig zum Dienst bei den Standschützen. Er, der „bisher nie zum Waffendienste geeignet befunden worden und daher soldatisch nicht ausgebildet war“, hatte durch seine Leidenschaft für die Jagd und seine Kletterfertigkeit, seine „hervorragenden alpinistischen Kenntnisse im Kampfgebiet“[9] diesen Mangel kurzfristig wettgemacht, was sein militärischer Aufstieg und seine zahlreichen Auszeichnungen – Standschützen-Oberjäger, Kleine und Große Silberne, posthum die Goldene Tapferkeitsmedaille – belegen. Seine „‚Fliegende Patrouille’, eine Einsatzgruppe, die rastlos auf den verschiedensten Gipfeln auftauchte und sich vom Feind sehen ließ, um den Anschein zu erwecken, daß alle diese Berge besetzt seien, [...] fest in der Hand österreichischer Truppen“[10], erfüllte eine rasche und wichtige Aufklärungsarbeit in unwegsamstem Gebirge. Dabei hatte Sepp Innerkofler des öfteren auf die strategische Wichtigkeit des Paternkofels hingewiesen, der jedoch von den Italienern ungehindert besetzt werden konnte.

Als die österreichische Heeresleitung die zentrale Bedeutung dieses Berges, der nun in italienischer Hand war, erkannte, erfolgte unter Hauptmann von Wellean der Auftrag, „den Paternkofel im Handstreich zu nehmen“[11]. „Ein alpinistisch so schwieriger Angriff, wie der auf den Paterngipfel, war aber nur von ausgesuchten, tüchtigen Bergführern und Soldaten zu wagen“[12], die dem Kommando Innerkoflers unterstellt wurden. Dieser war jedoch „mit der Aktion überhaupt nicht einverstanden“[13], denn „die Gefahr des Mißlingens sei zu groß“[14]. 

Trotzdem übernahm er die Führung, erreichte den Gipfel, wo er jedoch von einer – bis heute ist nicht geklärt, ob österreichischen oder italienischen – Kugel getroffen wurde und tödlich abstürzte. Zwei Italiener, Loschi und Vesello, bargen die Leiche Innerkoflers und begruben ihn „mit allen Ehren auf dem Gipfel des Paternkofels“[15], ein ungewöhnliches Zeichen menschlicher Hochachtung mitten in einem brutalen Krieg. Innerkofler wurde zum Helden, der „den Opfertod für sein Heimattal erlitten hatte“[16]. Nach dem Krieg wurde die Leiche exhumiert und nach Sexten, seinem Heimatdorf, gebracht, wo er auf dem Friedhof die letzte Ruhestätte fand.

Im Cristallogebiet findet sich eine ähnlich interessante Figur: Leutnant Anton Plankensteiner, Kommandant der alpinen Abteilung, „Alpines Detachement 1’ (später 4) genannt“[17], verdiente sich hier besondere Anerkennung. „Trotz eines infolge früherer Verwundung kaum gebrauchsfähigen Armes“ führte er mit seiner Truppe „Patrouillengänge im schwierigen Hochgebirgsgebiet“[18] durch. Schemfil schreibt über Plankensteiner:

Dank der sorgfältigen Vorbereitung und der umsichtigen Führung waren seine Patrouillengänge im schwierigsten hochalpinen Gebiet stets von sehr gutem Erfolg begleitet. Beim Zusammenstoß mit dem Feinde ging er trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit immer als Sieger hervor, fügte ihm starke Verluste bei und machte eine große Zahl zu Gefangenen.[19]

So nimmt Plankensteiner etwa am 2. August 1915 mit nur zehn Mann zweiundzwanzig Italiener gefangen, ohne eigene Leute zu verlieren und meint anschließend, dass „das Terrain [...] nur für Alpinisten geeignet, mitunter sehr gefährlich“[20] ist.

Werden diese beiden Figuren des Ersten Weltkriegs betrachtet, so zeigt sich, dass der Bergsteiger durch seine Leistungen zum bewunderten Helden wird, der sich bei der Verteidigung der Hochgebirgsstellungen oder beim „Angriff zur Wiedergewinnung verlorengegangener Stellungsteile besonders“[21] auszeichnete. An der Südfront waren Bergsteiger und Ortskundige gefragt, die Schnee, Wind, Regen, Gewitter und der Übermacht des Gegners trotzten. So bildet sich um Bergsteiger und Hochgebirgstruppen der Mythos vom Verteidiger der Heimat, der nicht im Kampf, sondern durch den Versailler Vertrag von 1919 besiegt wurde. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelt sich eine verhängnisvolle Verknüpfung von Alpinismus und Heldentum, der für das Bergsteigen der nachfolgenden Jahrzehnte fatale Folgen hatte.

Wird der Bergsteiger im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg als Held gesehen, die Grundlage seiner Taten und seines Ausharrens in Dunkelheit, Schnee, Eis, Kälte und Hitze im Bergsteigen, im Willen zur Tat erkannt, dann ist es relativ einfach, den Bergsteiger zu einem Zeugen der Tatkraft zu stilisieren, der für den Kampf – egal ob gegen die Natur oder gegen den Feind – geradezu prädestiniert ist.

Die Berge werden zu einer Schule des heldischen Geistes, „sie lassen uns wieder Persönlichkeiten entstehen und lehren die Jugend tatenfreudige Männlichkeit“[22]. Männer, „die ihre Kraft erproben im Ringen mit den Naturgewalten“, eine Jugend, „die gestählt ist in der harten Schule des Lebens“ [23], die das Leben einsetzt, wenn der Ruf ertönt, werden zur Zukunft des Volkes. So wird z. B. der Nanga Parbat zu einem nationalen Symbol der Erreichung gesteckter Ziele unter Einsatz des Lebens, der „alpinistische Held [zum] [...] ‚Bezwinger des Unmöglichen’“. Nationale Aufrufe, wie „Weiche nicht vor dem Unglück zurück, gehe ihm noch kühner entgegen!“[24] oder das „Ziel um jeden Preis [...] erreichen“[25], kosten zahllosen Bergsteigern in den Alpen und im Himalaja das Leben.

So schreibt Paul Bauer im Vorwort zu Kampf um den Himalaja (1934) vom „harten, kämpferischen, disziplinierten Geiste [...], den wir aus dem Weltkrieg mitgebracht und stolz und verschlossen in uns verwahrt hatten“[26], vom „heroischen Angriff auf den Mount Everest“[27] durch die Engländer, dass es undenkbar wäre, „daß es dort irgendwo eine Grenze geben soll, die der Mensch nicht überschreiten könnte. Alles in uns drängte danach, in diesen Kampf einzugreifen“[28], denn schließlich verband die Männer, „die 1929 und 1931 zum Kampfe zogen [...,] eine heilige Idee, wie sie die Kreuzfahrer geführt hatte“. Dies steigert sich zum Schluss in der Aussage, dass diese Bergsteiger „treu, wie germanische Krieger ihrem Herzog“ gegenüber diesen Weg beschritten, „ohne nach seinem Ende zu fragen. [...] Diesen Männern und vor allem dem von ihnen, der das letzte Opfer brachte, unserem edlen, treuen Hermann Schaller, gilt dieses Buch.“[29]

Der Bergsteiger wird zu einem Bild des germanischen Übermenschen, zu einem von einer heiligen Idee beflügelten Kreuzfahrer, der, ohne nach dem Ende des Weges zu fragen, treu bis in den Tod ist, bereit, auch das letzte Opfer im Kampf – das Leben – zu bringen, denn „das Höchste ist es doch, um ein solches Ziel ohne Wanken, ohne Zagen bis zuletzt gekämpft zu haben“[30]:

Schön muß es sein, mit dem Siegespreis dieses gewaltigen Berges nach Hause zu kehren, größer noch ist es, sein Leben hinzugeben um solch ein Ziel, den jungen Herzen kommender Kämpfer Weg und Flamme zu werden.[31]

Ähnliches findet sich in den Alpen. 1935 stürzen die Bergsteiger Walter Stösser und Theo Seybold an der Morgenhornwand ab. Paul Hübel schreibt in Der Bergsteiger Walter Stösser (1939):

Ihr erschaudert vor der Gewalt seiner Leidenschaft, der er sich selbst zum Opfer brachte. Wir, die solche leidenschaftliche Gewalt an uns selbst erlebten und ihren rätselhaften Bann kennen, wir verstehen Anfang, Weg und Ende. Es ist der kämpferische Weg, über dem die Gefahr steht wie das Glück des Sieges und das einzigartige Erleben.[32]

Dieses mehr und mehr verzerrte Bild des Bergsteigers, das aus dem so genannten Kriegshelden der Dolomitenfront, der in bestimmten Gebieten gezwungenermaßen ein Bergsteiger sein musste, einen Vorreiter des nationalsozialistischen Soldaten machte, konnte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg relativ lange halten. 1953 wurde erstmals der Nanga Parbat (8125 m) durch den Tiroler Hermann Buhl bestiegen. Karl Maria Herrligkoffer, der diese Expedition leitete, ließ die Teilnehmer am 26.05.1953 eine Art olympischen Eid leisten:

Wir geloben, in dem Ringen um einen der höchsten Gipfel unserer Erde ehrenhafte Kämpfer zu sein, die Gesetze der Kameradschaft zu achten und uns mit allen Kräften für die Erreichung des hochgesteckten Zieles einzusetzen, zum Ruhme der Bergsteigerei und zur Ehre unseres Vaterlandes.[33]

5.8.3 Kritik

Werden die Dolomitenfront der Jahre 1915 bis 1917[34] und deren Verteidiger betrachtet, so zeigt sich, dass Letztere Außergewöhnliches geleistet haben, indem sie in einem Hochgebirge primär der Natur, aber auch einem zahlenmäßig weit überlegenen Angreifer standhalten konnten, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die Dolomitenfront eine Verteidigungsfront war, in der es schon aufgrund der Geländebegebenheit kaum zu Angriffsmanövern kommen konnte. Da es dabei nicht nur um politische, sondern vielmehr um persönliche Interessen ging, etwa um das eigene Haus, das knapp hinter der Frontlinie lag, ist es besonders verständlich, warum die Kämpfer keinen Fuß zurückweichen wollten. Nicht zuletzt gilt es auch festzuhalten, dass die Standschützen in diesen Gebieten aufgewachsen waren, dass fast jeder auch Jäger war und die senkrechten Wandfluchten und Gipfel – etwa im Unterschied zu sizilianischen Truppen, die teilweise auf italienischer Seite an der Dolomitenfront zum Einsatz kamen – sehr gut kannten.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese Taten ideologisch und für politische Interessen missbraucht, wurde der Verteidiger der Front vorwiegend auf den Bergsteiger, nicht auf den Verteidiger von Haus und Hof reduziert, sodass sich mehr und mehr das Bild einer überdimensionalen Bergsteigerfigur findet, die über allem steht, die bereit ist, ihr Leben zu opfern und die dafür gepriesen und verherrlicht wird. Warum dies geschah, liegt auf der Hand, passte doch das Wort ‚Verteidigung’ überhaupt nicht in ein Konzept eines ‚Alles-oder-nichts-Bergsteigers’, genauso wenig wie in einen kommenden Zweiten Weltkrieg. Immer mehr Kriegsbegriffe vermischten sich mit der Bergsteigerliteratur, überall tauchten Kampf, Eroberung, Entbehrung, Sieg usw. auf, alles überstrahlt von Protagonisten, die irregeleitete Helden sind, „glückspielende, unbewußte Selbstmörder“[35], die ihr Leben Scheingöttern opfern:

Soviel ist sicher, daß es nicht edle Beweggründe sind, daß sich dabei nicht vornehme Charaktereigenschaften zeigen. Eitle Ruhmsucht und ein peinigendes Verlangen, berühmt zu werden, koste es, was es wolle, stehen zuoberst. Groß ist die Mitschuld von dritter Stelle an diesem Geschehen.[36]

Als wichtig erscheint der Hinweis, dass jedoch nicht jedes literarische Werk dieser Zeit notwendigerweise eine ideologische Verblendung beinhalten muss. Deshalb ist bei Büchern aus diesem Zeitraum eine Hinterfragung der Überzeugungssysteme der jeweiligen Autoren besonders wichtig, denn nur so können – auch enthusiastische – Darstellungen von ideologischen Verblendungen differenziert werden.

 



[1] Wieninger 1977, S. 286

[2] Schemfil, Viktor: Die Kämpfe im Drei Zinnen-Gebiet und am Kreuzberg in Sexten 1915 – 1917. 2. Auflage Innsbruck 1986, S. 16, folgend zitiert als Schemfil: Drei Zinnen 1986

[3] vgl. Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 17

[4] Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 21

[5] Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 16

[6] Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 17

[7] Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 26

[8] Wieninger: Südtiroler Gestalten 1977, S. 283

[9] Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 27

[10] Wieninger: Südtiroler Gestalten 1977, S. 287

[11] Wieninger: Südtiroler Gestalten 1977, S. 288

[12] Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 52

[13] Schemfil: Drei Zinnen 1986, S. 54

[14] Wieninger: Südtiroler Gestalten 1977, S. 288

[15] Wieninger: Südtiroler Gestalten 1977, S. 289

[16] Wieninger: Südtiroler Gestalten 1977, S. 290

[17] Schemfil, Viktor: Die Kämpfe am Monte Piano und im Cristallo-Gebiet (Südtiroler Dolomiten) 1915-1917. 2. Auflage Innsbruck 1984, S. 160, folgend zitiert als Schemfil: Cristallo 1984

[18] Schemfil: Cristallo 1984, S. 164

[19] Schemfil: Cristallo 1984, S. 170

[20] Schemfil: Cristallo 1984, S. 166

[21] Schemfil: Cristallo 1984, S. 227

[22] Amstädter, Rainer: Der Alpinismus. Kultur. Organisation. Politik. Wien 1996, S. 402, folgend zitiert als Amstädter: Alpinismus 1996

[23] Amstädter: Alpinismus 1996, S. 392

[24] Amstädter: Alpinismus 1996, S. 402

[25] Amstädter: Alpinismus 1996, S. 409                                  

[26] Bauer, Paul: Kampf um den Himalaja. Das Ringen der Deutschen um den Kantsch, den zweithöchsten Berg der Erde. München 1934, S. 7, folgend zitiert als Bauer: Kantsch 1934, S. 7; 1934 galt der Kantsch (= Kangchendzönga, 8586 m) als zweithöchster Berg der Welt, nicht der K2 (8611 m).

[27] Bauer: Kantsch 1934, S. 9

[28] Bauer: Kantsch 1934, S. 10

[29] Bauer: Kantsch 1934, S. 14

[30] Bauer: Kantsch 1934, S. 194

[31] Bechtold, Fritz: Deutsche am Nanga Parbat. Der Angriff 1934. München 1935, S. 49

[32] Hübel, Paul: Der Bergsteiger Walter Stösser. Erfurt 1939, S. 5

[33] Herrligkoffer, Karl Maria: Nanga Parbat 1953. Berlin 1954, S. 118

[34] 1996 sind der Autor dieser Arbeit und Franz Kofler die Südfront des Ersten Weltkrieges, vom Passo del Tonale (1885 m) über Riva del Garda (73 m) und quer durch die Dolomiten, abgewandert.

[35] Amstädter: Alpinismus 1996, S. 418

[36] Amstädter: Alpinismus 1996, S. 418


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