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5.2 Ferdinand Raimund: Der Alpenkönig und der Menschenfeind [1] (1828)

Ferdinand Raimund (1790-1836), dessen „Vorfahren aus Böhmen nach Wien gekommen“[2] waren, hatte ein gespaltenes Wesen: „Einerseits gibt es da die polizeiamtlich bekannte ‚heftige Gemütsart des Ferdinand Raimund’,“[3] den von „Melancholie, Menschenscheu, Hypochondrie, Zweifel und der Modekrankheit der Zeit, dem Weltschmerz“, angefressenen Menschen, welcher sich in Der Alpenkönig und der Menschenfeind spiegelt, der andererseits bei „seinem Publikum doch als Volkskomiker“[4] angesehen war.

Inhaltsangabe:

Rappelkopf, der krankhaft überall Verschwörung und Komplotte wittert, wird von Astragalus, dem Alpenkönig, heimgesucht, welcher ihm durch Gestaltentausch – Rappelkopf wird zu seinem Schwager (Herr von Silberkern), der richtige Silberkern derweil von einem Alpengeist in den Bergen aufgehalten, Astragalus zu Rappelkopf – sein eigenes Wesen vor Augen führt. Als Folge dieser handgreiflichen Spiegeldarstellung, die Rappelkopf seine von Paranoia und Widerwärtigkeit geprägte Gestalt vor Augen führt, gelangt er zur Selbsterkenntnis, womit aus dem früheren Menschenfeind ein Menschenfreund wird.

5.2.1 Hypothese

Der Alpenkönig und der Menschenfeind weist romantische Züge auf. Neben Märchen- und Geisterwesen zeigt sich der Alpenkönig als Verkörperung der Natur, der Bergwelt, die den Menschen heilen kann.

5.2.2 Intertextuelle Bezüge

In Raimunds Stück finden sich unter anderem intertextuelle Bezüge zu den Werken Molières. Wird in den Lexika gerne auf Der Menschenfeind (1666) verwiesen, so zeigen sich in Form der diversen Verwandlungskünste genauso deutliche Parallelen zu Molières Amphitryon (1668). Das Erkennen des eigenen Ichs im gegenüber ist ein beliebtes Motiv der Romantik, etwa in Jean Pauls Roman Siebenkäs (1796), in dem „das Wort ‚Doppelgänger’“[5] erstmals geprägt wird.

Sorge um die eigene Identität ist ein Thema von existentiellem Ausmaß bei einer Reihe romantischer Autoren. Das Weltgefühl der Zerrissenheit, [...] der gestörte Einklang des Menschen mit seiner Umwelt [...] – all das gipfelt in der Ichspaltung des Individuums.[6]

Weitere intertextuelle Bezüge finden sich im Namen des Alpenkönigs Astragalus. Aus den Handlungen der Figur zeigt sich, dass sich dieser aus den Wörtern ‚Astral’ und ‚Gallus’ zusammensetzt. Im Spätmittelalter findet sich eine naturmystische Auffassung von Astralgeistern, so etwa bei Paracelsus (1493-1541), wo es heißt: „[N]un ist das Gestirn der Geist, der da formiert und an sich zeucht und imprimiert und ist der Zimmermann der Imagination“[7]. Auf dieselbe Art ist auch die Schlussszene in Der Alpenkönig und der Menschenfeind, die im „Tempel der Erkenntnis“ spielt, inszeniert: „Auf der Hinterwand eine große Sonne [das Gestirn, JR], in deren Mitte die Wahrheit schwebt.“[8] Da Astragalus der große Heiler des Rappelkopf ist, sozusagen sein Arzt, ergibt sich eine weitere intertextuelle Parallele. Gallus von Prag (gest. nach 1478) war böhmischer „Leibarzt Karls IV.“, der „auf dem Sektor osmischer Repellentien die spätm[ittel]a[lterliche] Pestprophylaxe maßgebl[ich] geprägt“[9] hat. Da Raimunds Vorfahren aus Böhmen kamen, war ihm Gallus sicherlich bekannt. Aus der Kombination der beiden – Astralgeister und Gallus – ergibt sich demnach der Alpenkönig Astragalus, der Rappelkopf sich selbst erkennen lässt, sodass er sich am Schluss des Werkes als „pensionierter Menschenfeind“[10] betrachtet.

5.2.3 Überzeugungssystem

Im Schlussgesang schreibt Ferdinand Raimund:

Der Mensch soll vor allem sich selber erkennen, / Ein Satz, den die ältesten Weisen schon nennen, / Drum forsche ein jeder im eigenen Sinn: / Ich hab mich erkannt heut, ich weiß, wer ich bin.[11]

Die Heilung Rappelkopfs, der einige biografische Bezüge zu Raimund aufweist, der „den Wald durchrannte / Mit Ebersgrimm, auf Bergesgipfel saß / und seinen Fluch nach allen Winden sandte“[12], erfolgt durch den Alpenkönig. Es ist bezeichnend, dass hier die Bergwelt als Kulisse fungiert, wie die zahlreichen Bühnenbeschreibungen immer wieder betonen. Astragalus, der Alpenkönig, lebt in einem „Eispalaste“[13], einem kristallenen Schloss, „das der Sterne Antlitz schaut“,  mitten in den Bergen. Diese Welt ist ein Ort der Schönheit, der Heilung und der Hilfe. Verirrte mit Pilgerstab führt er „zum Erkenntnistempel hin“[14], eine Aussage, die sich bis heute in der Bergliteratur findet, nämlich dass man beim Bergsteigen Erkenntnis über die eigene Person, die eigenen Fähigkeiten gewinnt. So schreibt Reinhold Messner in Rettet die Alpen (2002): „Wer etwas über sich erfahren will ‚zwischen Himmel und Erde’ gehe dorthin, wo die anderen nicht sind, und lerne seine eigene Beschränktheit kennen.“[15] Astragalus’ zeigt sich bereits zu Beginn als mitfühlendes Wesen, der Malchen, Rappelkopfs Tochter, und August die baldige Heirat ermöglichen und Rappelkopf zum Menschenfreund bekehren will.  

Rappelkopf wiederum wittert immer und überall Verrat und Attentat. Trefflich findet sich dies im 1. Aufzug, 14. Auftritt im Gespräch mit seinem Diener Habakuk, welcher von Rappelkopfs Frau Sophie den Auftrag erhalten hat, einen „Zichori“ auszustechen, aber des Messers wegen – und weil Rappelkopf ihn nicht ausreden lässt – für einen gedungenen Mörder gehalten und als „Bandit von Treviso“[16] bezeichnet wird.

Nach dem erzwungenen Rollentausch erkennt Rappelkopf – nun in der Rolle Silberkerns, des Bruders seiner Frau Sophie – im Laufe der Handlung all seine Fehler. In dieser Rolle kann ihm Habakuk die Geschichte mit dem Messer erklären, dass Rappelkopfs Frau wegen ihrer Liebe zu ihm unglücklich ist und sich deshalb die Augen ausweint, während Rappelkopf ihm endlich zuhört. Als er seinem wahren Ich gegen-übersteht, ist er zunächst noch „entzückt“[17], doch kurze Zeit später wird ihm sein Spiegelbild bereits „zuwider“[18], bekommt er „einen ordentlichen Haß auf“[19] sein Gegenüber, während er die anderen Personen um sich herum mehr und mehr zu schätzen weiß. Selbst August, der Geliebte seiner Tochter, den er ebenfalls in das Komplott um seine Person verstrickt wähnt, wird in seinen Augen „ein passabler Mensch“, den er „verkannt“[20] hat. Als Astragalus – in der Rolle des Rappelkopf – sich in den Fluss stürzt, ist die Trennung von Rappelkopfs altem Ego definitiv vollzogen. Die Frage: „Ja leb ich denn noch?“[21] beinhaltet bereits die Antwort, dass Rappelkopf endlich wieder zum Leben zurückgefunden hat. Dieses Wiederfinden des Lebens entspricht der Intention, die Astragalus beim Rollentausch vorschwebte. Rappelkopfs Scheuklappen lösen sich, er nimmt Frau und Kind wieder wahr, gibt August seine Tochter zur Braut und lebt fortan für seine Familie. Nachdem der richtige Silberkern ihm eröffnet, Rappelkopfs Vermögen gerettet zu haben, meint Rappelkopf, nunmehr „ein pensionierter Menschenfeind“[22] zu sein.

Der kristallene Palast, klar und durchsichtig, die Sonne mit der Wahrheit im Zentrum, das Leid, das nun vorüber ist und die erfüllte Liebe ziehen sich wie Fäden zur Figur des Astragalus hin, werden in ihm, der Malchen den Kranz aus Alpenrosen aufsetzt, gebündelt. So ist Astragalus, der König der Alpen, der in der Natur, abseits von den Menschen lebt, zum Symbol des Glücks, der Selbsterkenntnis und der Selbstüberwindung des Menschen geworden.

Das Werk hat demnach auch eine soziale Stoßrichtung, die den sich von der Natur entfremdenden Menschen wieder zu seinen Wurzeln zurückführen will. Der wahre Reichtum kommt demnach nicht durch Geld, nicht durch Maschinen und Technik, sondern aus der Familie, aus den sozialen Kontakten, eine Erkenntnis, die sich aus der Konzentration auf das Wesentliche – und genau dies erleichtert die Bergwelt – ergibt.

Unsere kognitiven Fähigkeiten nämlich wachsen mit der Reduktion auf das – und nur das –, was wir hören, sehen, fühlen wollen.[23]

Abschließend bleibt noch anzumerken, dass Raimund, im Unterschied zu Rappelkopf, diese Selbstüberwindung bzw. Selbsterkenntnis nicht geglückt ist, sodass er 1839 infolge Verdachts auf Tollwut, vor der er panische Angst hatte, Selbstmord beging.

5.2.4 Kritik

Wie im Runenberg ist es hier ein höheres Wesen, das dem Menschen die Einsicht bringt. Die Erkenntnis, dass er, Rappelkopf, einiges falsch gemacht, dass er sich zum Tyrannen entwickelt hat, wird ihm vom Alpenkönig vor Augen geführt. Die Verwandlung des Astragalus in Rappelkopf und die des Letzteren in seinen Schwager Silberkern geschieht in den Bergen, im Schloss des Alpenkönigs, genauso wie die Rückverwandlung und definitive Erkenntnis sich im Tempel der Erkenntnis ereignet. Auch hier kann gesagt werden, dass das Reich der Berge zu dieser Selbsteinsicht führt, dass dort der Geist klarer, der Mensch einsichtiger wird und zu sich selbst findet. Das, was in der Zivilisation wichtig war, besonders das Geld, hat am Schluss in der Bergwelt keine Wichtigkeit mehr, kommt aber genau dort durch den richtigen Silberkern zu Rappelkopf zurück. Die Berglandschaft fungiert somit als ein Ort der Selbsterkenntnis, der Reinigung, der Katharsis, sodass Rappelkopf vom Menschenfeind zum Menschenfreund werden kann.

 


[1] Raimund, Ferdinand: Der Alpenkönig und der Menschenfeind. In: Bruckner, Fritz / Castle, Eduard: Ferdinand Raimund. Sämtliche Werke, Bd. 2, Wien 1933, folgend zitiert als Raimund: Alpenkönig 1933

[2] Krywalski, Diether: Knaurs Lexikon der Weltliteratur. Autoren. Werke. Sachbegriffe. Augsburg 1999, S. 317,
folgend zitiert als Krywalski: Knaurs 1999

[3] Lutz, Bernd: Metzler Autorenlexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2. überarb. Auflage Stuttgart 1994, S. 671, folgend zitiert als Lutz: Metzler 1994

[4] Lutz: Metzler 1994, S. 671          

[5] Grenzmann: Romantik 1983, S. 137f.

[6] Grenzmann: Romantik 1983, S. 137f.

[7] Nobis, H. M.: Astralgeister. In: Bautier, Robert-Henri u.a. (Hrsg): Lexikon des Mittelalters, Bd. I. München 2002, S. 1133

[8] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 197

[9] Keil, G.: Gallus von Prag. In: Bautier, Robert-Henri u.a. (Hrsg.): Lexikon des Mittelalters, Bd. IV. München 2002, S. 1098f.

[10] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 200

[11] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 200

[12] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 106

[13] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 155

[14] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 96/97 

[15] Messner, Reinhold: Rettet die Alpen. Berg Heil – heile Berge?, München 2002, S. 61f., folgend zitiert als Messner: Rettet die Alpen 2002

[16] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 124

[17] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 177

[18] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 181

[19] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 184

[20] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 184

[21] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 197

[22] Raimund: Alpenkönig 1933, S. 200

[23] Messner: Rettet die Alpen 2002, S. 94


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