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5.1 Ludwig Tieck: Der Runenberg [1] (1802)

Ludwig Tieck (1773-1853) „hat in seinem langen Leben ein umfangreiches, ebenso vielfältiges wie disparates Werk hinterlassen“[2], wobei „das romantische Jugendwerk sein Bild [...] geprägt hat“[3], so auch die 1802 erschienene Novelle Der Runenberg.

Inhaltsangabe:

Christian verlässt sein elterliches Haus und bricht in die Berge auf. Dort arbeitet er als Jäger und Vogelfänger, bis ihn die Einsamkeit übermannt und sein Gemüt trübselig wird. Ein Fremder, der sich später als Bergarbeiter herausstellt, weist ihm den Weg auf den Runenberg, wo Christian von einer wunderschönen Frau eine magische Tafel erhält. Als er am nächsten Tag erwacht, ist die Tafel auf unerklärliche Weise verschwunden. Er gelangt in ein Dorf, gründet eine Familie, holt seinen Vater zu sich. Doch als Christian später die magische Tafel wieder entdeckt, gibt er seine bürgerliche Existenz auf und verschwindet. Jahre später kommt er noch einmal zurück, schenkt seiner Frau ein paar ‚Schätze’, für sie wertlose Steine, ehe er für immer mit einem entsetzlichen Waldweib verschwindet.

5.1.1 Hypothese

Im Runenberg findet sich die literarische Umsetzung der romantischen Naturphilosophie Schellings. Die Kunst, die Christian auf dem Runenberg empfängt, wird zum Mittel, um zu den Urkräften der Natur zurückzukehren.

5.1.2 Philosophischer Hintergrund

Das frühromantische Weltbild wurde durch den Naturphilosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) bestimmt. „Schelling erkannte, daß die Natur mehr ist als nur ein Produkt des Ich, eine Schranke, die das Subjekt sich selbst setze, um sich daran zu bewähren“[4], grenzt sich damit klar von Fichte ab. Für Schelling ist die Natur die Welt des Objektiven, denn nur „weil die Natur in ihrem inneren Wesen immer schon Leben ist, können die Erscheinungen des Lebens auftauchen“[5]. Sie bildet den „schöpferischen Urgrund allen Seins“[6]. Das Ziel ihrer stufenartigen Entwicklung, „die von den Pflanzen über die Tiere zum Menschen führt, ist nach Schelling der Geist. Alles in der Natur strebt darauf zu, Geist zu werden“, dessen höchster Ausdruck die aus dem Fühlen des Menschen geweckte Kunst ist. „Diese Gedanken nahmen die Romantiker, vor allem Novalis, auf und gingen den Weg zurück: Das Kunstwerk wurde zum Mittel, zu den geheimen Kräften der Natur zurückzukehren.“[7]

5.1.3 Tieck und Novalis

Tieck zog 1799 nach Jena, wo neben der Bekanntschaft mit Schelling und Fichte die für ihn „bedeutendste neue Freundschaft [...], die Bekanntschaft mit Friedrich von Hardenberg (Novalis)“, entstand. „Tieck und Novalis fanden aneinander aufmerksame Gesprächspartner und teilnahmsvolle Förderer ihrer gegenseitigen literarischen Pläne.“[8] Als Novalis 1801 verstarb, hinterließ er im Gedicht An Tieck[9] diesem sein gesamtes literarisches Erbe mit den Worten: „Du bist der Erbe meiner Habe“[10]. Bereits 1802 gibt Tieck Novalis’ letztes Romanfragment, den Heinrich von Ofterdingen, heraus. Dem folgt, gemeinsam mit Friedrich Schlegel, die Ausgabe zu Novalis Schriften (ebenfalls 1802) in 2 Bänden. Tieck war mit den philosophischen Ansichten Novalis’ – und damit auch jenen Schellings – klar vertraut, doch schon früher schreibt er in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797):

Die eine dieser wundervollen Sprachen redet nur Gott; die andere reden nur wenige Auserwählte unter den Menschen, die er zu seinen Lieblingen gesalbt hat. Ich meine: die Natur und die Kunst.[11]

5.1.4 Überzeugungssystem

Novalis betrachtete das Kunstwerk als eine Möglichkeit, zu den geheimen Urkräften der Natur zurückzukehren, eine Theorie, die Tieck durch die gegenseitigen Gespräche und durch die Edition der Schriften Novalis’ sicherlich vertraut war. Störigs Satz: „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer, wunderbarer Schrift verschlossen liegt“[12] drückt die Philosophie Schellings, das Verständnis des Novalis und die entsprechende Umsetzung dieser Naturphilosophie in Tiecks Runenberg treffend aus.

Christian hat die Bergwelt über ein Buch kennen gelernt, „und darnach richtete“ er seinen „Weg ein“[13], verlässt somit sein Elternhaus und Heimatdorf, „um sich aus dem Kreise der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit zu entfernen“[14]. Diese Zivilisationsflucht schließt ihm „eine neue Welt“[15] auf, in der er zum Jäger wird, der auf Vogelfang geht, bis er plötzlich die „Strenge der Einsamkeit“[16] nicht mehr ertragen kann und „sich nach Menschen“[17] sehnt.

Doch noch mehr fühlt sich Christian zum Runenberg hingezogen, den er unter zahlreichen Gefahren erklettert: „[D]ie Felsen wurden steiler, das Grün verlor sich, die kahlen Wände riefen ihn wie mit zürnenden Stimmen an, und ein einsam klagender Wind jagte ihn vor sich her“. Nach Mitternacht erreicht er einen „schmalen Fußsteig, der hart an einem Abgrunde hinlief“, dem Ziel entgegen, wo er „ein Fenster [...], einen geräumigen Saal [...], eine große weibliche Gestalt“[18] sieht. Von dieser Frau erhält er eine Tafel, „die von vielen eingelegten Steinen, Rubinen, Diamanten und allen Juwelen glänzte“, die „eine wunderliche, unverständliche Figur mit ihren unterschiedlichen Farben und Linien zu bilden“ scheint. Als er die Tafel in die Hand nimmt, „fühlte [er] die Figur, die unsichtbar sogleich in sein Inneres überging“[19], demnach nicht „durch die Hülfe der Worte“, sondern „auf eine wunderbare Weise [...], sich in jede Nerve und jeden Blutstropfen, der uns angehört“[20], drängend.

Auch wenn er die Tafel vorübergehend verliert, so ruht diese geheimnisvolle Figur fortan in ihm. Christian kehrt zu den Menschen zurück, baut sich eine bürgerliche Existenz auf und holt seinen Vater zu sich. Doch als er eines Tages die Tafel wieder findet, hört er den Ruf des Waldweibes, gibt – so, wie die beiden Fremden des Textes – sein bürgerliches Leben definitiv auf und steigt in einen „alten Schacht“[21] des Berges hinab. Dieses Waldweib, das von Christian als wunderschöne Frau, von den anderen aber als „entsetzliche[s] Waldweib[]“[22] gesehen wird, erinnert an die mittelalterliche ‚Frau Welt’: „Frau Welt ist von vorn schön anzusehen, doch im Rücken von Würmern, Kröten und Schlangen zerfressen.“[23] Im übertragenen Sinne könnte man sagen, dass Christian die Natur als wunderschön und heilig empfindet, während die anderen die Natur als gefährlich, bedrohlich und tödlich sehen.

Christian ist folglich zuerst auf den Runenberg gestiegen, wo er den Schlüssel zu den Urkräften der Natur, zu einem neuen Sehen erhalten hat, um später in die Tiefen des Berges hinabzusteigen, zurück in den Schoß seiner ‚terra mater’. Die beiden Erzählabschnitte sind über die geheimnisvolle Tafel direkt verbunden.

Besonders wichtig ist außerdem das Motiv des Vogelfangs. Ist Christian zu Beginn der Erzählung mit seiner „Vogelherde“[24] beschäftigt, so zeigt sich bereits kurze Zeit später sein Verständnis, dass er selbst „wie ein Vogel [...] in einem Netz gefangen ist“[25]. Durch das Wiederfinden der Tafel gelingt es ihm, dieses Netz menschlicher Maßstäbe zu zerreißen, seine Eingliederung in das bürgerliche Leben als Odyssee, als Flucht vor sich selbst zu erkennen.

Doch könnte das Rätsel sich lösen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich ewig flieht.“[26] So muss Christian, dem die Erkenntnis der Natur durch die Aushändigung der Tafel offenbart wurde, in den Schacht hinabsteigen, „denn die Arbeit des Bergmanns ähnelt nicht nur der des Seelenforschers und kann daher symbolisch verstanden werden, sie ist letztlich in die äußere Natur verlegte Seelenforschung“[27]. Hier, im Schoß der Natur, in „Feuer und Licht“[28] kann Christian das, was in seinem „inwendigen Herzen begraben“[29] ist, entdecken: sich selbst.

Der Schlüssel hierzu war, wie bereits angemerkt, das Kunstwerk, die Tafel, und so ist Tiecks Werk als eine gelungene Umsetzung romantischer Philosophie zu verstehen, wo Christian auf dem Runenberg die Spitze des Geistes, die Kunst, verliehen wird, die ihn zum Ursprung der Natur zurückfinden lässt, für die anderen wahnsinnig, er selbst aber glücklich und mit offenem Herz.

5.1.5 Kritik

Zwar lässt sich Christians Handlungsweise aus dem romantischen Kontext heraus verstehen, doch trotzdem bleiben einige ethische Fragen offen, etwa das Zurücklassen von Frau und Kinder und deren Not am Schluss des Werkes. Andererseits ist die Tafel, die Christian am Runenberg erhält, ein Schlüssel zum Verständnis der Natur, ein Tor in eine Welt, in der er sich wohl fühlt. Der Berg als Symbol für die Sprache der Natur, der Schacht für das menschliche Unterbewusstsein, die ‚Terra mater’ für Mutter Natur bilden einen Pol einer natürlichen Welt, in der man sich geborgen fühlt, die einen aufnimmt und in der man aufgeht, die jedoch gleichzeitig einen Gegenpol zu einer entfremdenden Arbeit, zur Technisierung und zur industriellen Revolution repräsentiert.

Wenngleich Christian die menschlichen Denkmuster doch nicht ganz hinter sich lassen kann – weshalb würde er sonst in einen Schacht steigen, um nach Schätzen zu suchen? Müsste er nicht konsequenterweise nach Erkenntnis der Welt und des eigenen Ichs streben, losgelöst vom Materialismus? –, so gelingt ihm mit der gefährlichen Ersteigung des Runenberges, bei der er mit Abgründen, Gefahren und gegen den Aberglauben zu kämpfen hat, der Ausbruch aus der eingangs zitierten Vogelherde, damit der Eintritt in diese neue, von der Zivilisation abgeschiedenen Welt, ein Ideal, das so manchem romantischen Schriftsteller, etwa Joseph von Eichendorff, vorschwebte, das sich zwar literarisch, aber nicht praktisch verwirklichen ließ.


[1] Tieck, Ludwig: Der Runenberg. In: Frank, Manfred u.a. (Hrsg.): Ludwig Tieck. Schriften in zwölf Bänden. Bd. 6. Phantasus. Frankfurt a. Main 1985, folgend zitiert als Tieck: Runenberg 1985

[2] Paulin, Roger: Ludwig Tieck. Stuttgart 1987, S. 1, folgend zitiert als Paulin: Tieck 1987

[3] Paulin: Tieck 1987, S. 1    

[4] Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie. II. Teil. Neuzeit und Gegenwart. 11. verb. Aufl. Freiburg im Breisgau, 1981, S. 379, folgend zitiert als Hirschberger: Philosophie 1981

[5] Hirschberger: Philosophie 1981, S. 380; Hervorhebung J.R.

[6] Killinger, Robert: Literaturkunde. Entwicklungen. Formen. Darstellungsweisen. 3. Auflage Wien 1998, S. 164, folgend zitiert als Killinger: Literaturkunde 1998

[7] Killinger: Literaturkunde 1998, S. 164

[8] Paulin: Tieck 1987, S. 52

[9] Novalis: Das dichterische Werk. In: Kluckhorn, Paul / Richard, Samuel (Hrsg.): Novalis Schriften - Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1. 3. Auflage Stuttgart 1977, S. 411-413, folgend zitiert als Novalis: Gedichte 1977

[10] Novalis: Gedichte 1977, S. 412

[11] Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. In: Vietta, Silvio / Littlejohns, Richard (Hrsg.): Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1, Werke, hrsg. von Vietta, Silvio, Heidelberg 1991, S. 97, folgend zitiert als Wackenroder: Klosterbruder 1991

[12] Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Bd. 2. 11. überarb. und ergänzte Auflage, Frankfurt a. Main 1983, S. 123, folgend zitiert als Störig: Philosophie 1983

[13] Tieck: Runenberg 1985, S. 188

[14] Tieck: Runenberg 1985, S. 184

[15] Tieck: Runenberg 1985, S. 188

[16] Tieck: Runenberg 1985, S. 186

[17] Tieck: Runenberg 1985, S. 185

[18] Tieck: Runenberg 1985, S. 190f.

[19] Tieck: Runenberg 1985, S. 192

[20] Wackenroder: Klosterbruder 1991, S. 97

[21] Tieck: Runenberg 1985, S. 206

[22] Tieck: Runenberg 1985, S. 208

[23] Schulze, Ursula: Frau Welt. In: Bautier, Robert-Henri u.a. (Hrsg): Lexikon des Mittelalters, Bd. IV. München 2002, S. 881

[24] Tieck: Runenberg 1985, S. 184

[25] Tieck: Runenberg 1985, S. 187

[26] Störig: Philosophie 1983, S. 123

[27] Grenzmann Ludger: Romantik. In: Bark, Joachim / Steinbach, Dietrich / Wittenberg, Hildegard (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur. Band 2. Klassik / Romantik. Stuttgart 1983, S. 103, folgend zitiert als Grenzmann: Romantik 1983

[28] Tieck: Runenberg 1985, S. 208

[29] Tieck: Runenberg 1985, S. 207


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