Theodor W. Adorno
Der Titel von Adornos Auseinandersetzung mit Comte, "Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien", kann leicht in die Irre führen, geht es sich Adorno doch um nichts weniger als um Erläuterungen, Interpretationen oder sonstige Bemerkungen zu den Begriffen Statik oder Dynamik. Kurz gesagt: Adorno kommt es weniger auf eine inhaltliche denn vielmehr auf eine formelle Analyse an. Es geht sich statt dessen um das Begriffspaar Statik und Dynamik als Paar. Es geht sich um eine Kritik an einem "gesunde(n) Menschenverstand", der lediglich Oppositionen zu sehen vermag, wo in Wahrheit Differenzen herrschen:
"Der gesellschaftliche Prozeß ist weder bloß Gesellschaft noch bloß Natur, sondern Stoffwechsel der Menschen mit dieser, die permanente Vermittlung beider Momente."
Damit macht Adorno aber nicht halt, sondern erschließt erst sein eigentliches Thema: die Ideologiekritik.
"Der gesunde Menschenverstand, der frisch-fröhlich Statisches und Dynamisches in der Gesellschaft trennt, verdankt seine Gesundheit der Naivetät, mit der er seine eigenen Bestimmungen als solche des Objekts zurückspiegelt. Die Orientierung an natürlichen, konstanten Bedürfnissen einerseits und bloß von Menschen gesetzten und darum geschichtlich wandelbaren andererseits ist, als pures Produkt der Klassifikation, abstrakt."
Nachdem er den – von Comte theoretisch zwar geleugneten, nichtsdestoweniger aber praktizierten – Primat der Statik vor der Dynamik herausgearbeitet hat, stellt Adorno die Frage nach dessen Entstehungsbedingungen:
"Um zu begreifen, weshalb an Konstruktionen wie der statischer Gesetze so hartnäckig festgehalten wird, ist auf deren Ursprung bei Comte zurückzugehen. (...) Seit Comtes Zeiten hat der Positivismus, gleichsam als Ersatz fürs idealistische System, die bis auf Leibniz zurückdatierende Vorstellung einer durch die Einheit der Methode über alle Divergenzen der Gegenstände hinweg ermöglichte Einheitswissenschaft gepflegt. Die vom positivistischen Prinzip bewirkte Dekomposition der Welt in atomistische, begriffslose, vom Begriff nur durch Abkürzung zusammengefaßte Tatsachen soll konterkariert werden vom Urheber jener Aufspaltung, der Wissenschaft selbst. Ihre in sich einstimmige Organisation will die Totalität, den geistig überwölbenden Kosmos ersetzen, aus dessen irrevokablem Zerfall die Gegenstände als ‚Tatsachen‘ hervorgingen. Darin entspringt die Versuchung, Ordnungsschemata, die einzig der Klassifikation eines als unstrukturiert vorgestellten Materials sich verdanken, dann dem Material zuzuschreiben, als wären sie dessen Struktur. (...) die zurichtende Veranstaltung erschien als Beschaffenheit der Sache selbst."
So erklärt sich auch der soziologische Biologismus Comtes, der sich vor allem im Bild der Gesellschaft als Organismus ausdrückt:
"Die Kontamination von Wissenschaftssystematik und objektiver Struktur wird in einem Dokument der wilden Pionierzeit des Positivismus wie dem Comteschen ‚Cours de la philosophie positive‘ greifbar im Analogieschluß vom Verhältnis anatomischer und physiologischer Bestimmungen des Organismus auf die Gesellschaft."
Genauso wie der Statik der Primat vor der Dynamik eingeräumt wird, favorisiert Comte die Ordnung gegenüber dem Fortschritt. Nach Adorno ist aber nicht nur jener Primat kritikabel, sondern auch die Gleichsetzung von Ordnung mit Statik und Fortschritt mit Dynamik:
"Die einfachste material-soziologische Besinnung belehrt darüber, daß die Statik von Zuständen und Ordnungen eins ist mit jenen Erstarrungsphänomenen, die, zumal im Kontext eines sich fortbewegenden Ganzen, die statische Ordnung untergehen lassen wie einst das Byzantinische Reich und später die türkische Herrschaft. Umgekehrt müßte man, wäre der Begriff des dynamischen Gesetzes nicht vorweg willkürlich-positiv eingeengt, das Krisengesetz innerhalb einer sich selbst überlassenen liberalistischen Marktgesellschaft den dynamischen Gesetzen zurechnen; und Krisen wären schwerlich ungebrochen dem Begriff des Fortschritts zu subsumieren."
Wo aber Erkenntnis Anspruch auf den größten Reinheitsgehalt erhebt, ist Interesse bekanntlich am größten:
"Was sich agitatortisch mit der Würde der ‚unwiderruflichen philosophischen Analyse‘ bekleidet; was da behauptet, es sei, auf unerschütterlichen rationellen Grundlagen aufgebaut‘, folgt in Wahrheit Comtes politischem Interesse."
Es ist nicht so sehr die inhaltliche Bestimmung der statischen oder dynamischen Gesetzmäßigkeit als vielmehr die Form "der Scheidung von Statik und Dynamik", die "an sich bereits ideologisch" ist:
"Die Differenz der Hegelschen Konzeption des Verhältnisses von Statik und Dynamik und der Comteschen läßt an der Sprache sich ablesen. Während Comte aus Statik und Dynamik zwei getrennte Ressorts der Soziologie macht und durch die Form solcher Koordination virtuell schon die Dynamik stillsteht, reicht umgekehrt diese bei Hegel bis in die logischen Strukturen hinein, die Urbilder von Invarianz. (...) Dahinter darf Soziologie nicht zurückbleiben."
Wie man sieht, vermeidet Adorno tunlichst die Sombartsche Gleichsetzung Comtes mit Hegel.