CultD

dietmar kamper

Philosoph · Kulturanthropologe · Soziologe · ...

Dietmar Kamper: Im Dickicht der Zeichen
Probleme der Stadtwahrnehmung heute

Wer sich der Mühe unterzieht, neuere Publikationen zum Zustand der großen Städte miteinander in Beziehung zu setzen, trifft auf eine seltsame Übereinstimmung: Die Stadt selbst scheint in die Bilder einzubrechen, die man von ihr hat, so als wolle sie ad ocolos demonstrieren, daß diese Bilder nicht mehr passen. Seltsam ist diese Übereinstimmung insofem, als weiterhin auch in elaborierten Versuchen Bilder fabriziert werden, die eine zusammenhäingende, einheitliche Darstellung der Stadt und ihrer Probleme erlauben sollen. Doch auch hier taucht irgendwann die Konzession auf, man könne sich irren, möglicherweise sei die Stadt jeglicher Darstellungsform, in welchem Medium auch immer, entgangen, entkommen, entschwunden. Und die Wahmehmung halte sich gewissermaßen nach dem Einbruch einer wie auch immer gearteten Realitat an die Formen ihrer Darstellung nur noch dort, wo Lücken, Risse, Brüche zu verzeichnen sind. Die Zeit einer Vereinheitlichung,überhaupt eines Versuchs der Vereinheitlichung der Wahrnehmung unter einem verbindlichen Muster scheint endgültig vorüber zu sein.

Das legt eine doppelte Spur des Nachdenkens. Einerseits ist es erforderlich, in der traditionellen Richtung einer Rechenschaftslegung fortzufahren, andererseits muß man diese sichtbar gewordene Inkommensurabilitat der alten Sichtbarkeit thematisieren und zu ihrem Recht kommen lassen. Das geschieht gegenwärtig in der Form, daß nicht mehr von einem Dickicht der Materien, von Sumpf, Dschungel, Morast, also von einem Brei der Sinne gesprochen wird, der dann einer zeichenmachenden Rationalität als Herausforderung dient, sondern vielmehr umgekehrt von einem Dickicht der Zeichen, von einem Durcheinander der Muster, von einer tiefen Insuffizienz der Bilder die Rede ist, also von einer irgendwie gearteten Verwirrung der rationalen Kompetenz in Sachen der Signifikation. Man hat gesprochen von einer dritten Revolution im Auge der Abstraktion der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es hat den Eindruck, daß diese dritte Revolution in diversen Sackgassen steckt.

1. Zeichendickicht, selbstgemacht

Wer die Wahrnehmung in Anspruch nimmt, muß auf den Körper rekurrieren. Das ist die eigenartige Wendung, die die Philosophie dieses Jahrhunderts genommen hat. Eine Geistesgegenwart, die jederzeit gefährdet ist, stützt sich auf einen bewegten Körper, der als Horizont in Anspruch genommen wird, als Horizont der Erfahrung, als Horizont auch noch der Erfahrungsunfähigkeit der Menschen. Dieses Einverständnis reicht von Walter Benjamin bis Richard Sennett. Ob es möglich ist oder nicht, gegen die Stufen der Abstraktion wird deren Ausgangspunkt in der körperlichen Realität, bei den Materien der Stadt, bei den Steinen, beim Dreck, beim Abfall gesucht, um von dorther die hauptsächlich wirksamsten Tendenzen beschreiben zu können. Man kann in grober Skizze annehmen, daß im späten Mittelalter eine erste Abstraktion Großkörperschemata für das Verständnis der menschlichen Erfahrung durchgesetzt hat, daß mit der bürgerlichen Weltrevolution die Ware und das Geld als verbindliche Größen eines universalen Tausches genommen worden sind, daß schließlich in der aktuellen medialen Revolution das Zeichen diese exorbitante Rolle spielen soll. Hegel hat in seiner "Phäinomenologie des Geistes" und in den entsprechenden Enzyklopädien, die auf eine Anthropologie hinweisen, der zeichenmachenden Imagination die höchste Funktion zugewiesen, nämlich unabhäingig von der ersten Schöpfung, unabhängig von der Natur, eine Vorschrift ftir die selbstgemachte Welt des Menschen konstruieren zu können. Das ist zunächst an den Materialien geschehen und bleibt schließlich in Reinkultur übrig. Das Zeichen als Zeichen ist der Baustein einer durch und durch menschlichen Welt. Das macht gegenwärtig Probleme. Denn durch diese Zeichenproduktion ist die Welt nicht etwa einfacher geworden, sondern viel komplizierter. Man könnte ihre aktuelle Überkomplexität geradezu auf die nur noch durch Zeichen markierten Unterschiede zurückführen. Der garze Stolz der Anthropologie, wie sie sich in Theorie und Praxis ausgebreitet hat, hat dilemmatische Effekte gehabt. Gerade die der Namengebung direkt folgende Urkraft menschlicher Selbstbestimmung, die Signifikation, hat durch pure Wirksamkeit eine überkomplexe Lage produziert, der sie selbst auf gar keine Weise mehr gewachsen ist. Das mag an der Rückwirkung der Stadtwahrnehmung auf die gängigen Muster, die in ihr zur Anwendung kommen, deutlich werden. Die eine Welt, das eine Bewußtsein, die in einer imaginären Einheit des Imaginären Halt zu finden suchten, driften auseinander, spalten sich in sich selbst und hinterlassen ein selbstproduziertes Chaos, dem kein Erkenntnisverfahren mit Dominanzgebaren noch in irgendeiner Weise gewachsen wäre. Man muß also konzedieren. Der Versuch einer Vereindeutigung der Welt mittels Zeichengabe ist nicht nur gescheitert, sondern so sehr danebengegangen, daß es kaum eine Chance gibt, die Resultate des angerichteten Desasters noch hinlänglich wahrzunehmen.

2. "Der Körper der Stadt"

Man hatte sich an die einfache Konstellation gewöhnt: Ein ganzes Bewußtsein ist mit einer zerstückelten Wahrnehmung begabt und leistet mittels der Signifikation, der Grundkraft der Rationalisierung, eine Vereinheitlichung, die sowohl die Identität der Welt wie die eigene Identität sichert. Ein solches Muster ist von einer hochgradigen Selbstverständlichkeit, hat es aber historisch durchaus schwer gehabt. Nun möchte man es nicht mehr einfach aufgeben. Insofern sind die vielen Widerstäde erklärlich, die sich um den Versuch gebildet haben, den Anspruch eines geschlossenen Ganzen überhaupt loszuwerden. Zerstückelung auf der Körperseite, imaginäre Einheit auf der Seite des Bewußtseins: So sah die Konstellation aus, als durch weitertreibende Entwicklungen eben die Einheit des Imaginären in Frage gestellt wurde. Das Imaginäre, sagt Jacques Lacan, ist die Beziehung der Menschen zu ihren Körpern. Wenn diese Beziehung abgebrochen wird, wenn der menschliche Körper in seiner Maßgeblichkeit für die Wahrnehmung und die Erfahrung der Welt ausgeschaltet oder gar abgehängt wird, dann spielt auch das Imaginäre verrückt und löst sich in seine Bestandteile auf, was, soweit man den Schrecken der Beteiligten hinlänglich interpretieren kann, niemand erwartet hatte. Die einfachen Körperordnungen, rechts/links, vorne/hinten, oben/unten, innen/außen sind garantiert nur unter der Voraussetzung, daß die Menschen in ihren Körpern leben, dß sie [sie] [Ergänzung d. Redaktion] als Orientierungsmittel in der Welt benutzen, und daß sie die symbolischen Ordnungen einhalten, die auf diese Körper gebaut sind. Das aber ist von Anfang an in der Stadt attackiert worden. Die Stadt sollte nach Möglichkeit aus dem Kopf entstehen, aus einem vom Körper gelösten Kopf sollte überhaupt der Kopf werden, daher die Bedeutung der Kapitale, der Haupt-Stadt, die Stadt als Haupt. Diese aber ist losgelöst, absolut, vom Körper und insofern dann einer eigenen Ordnung unterstellt, sofern sie sich halten läßt. Nietzsches Bestimmung der Stadt, daß sie ein Labyrinth sei, in dem sich das Denken wiederfinden kann, wenn es seine Übersichtlichkeit verliert und diesen Verlust akzeptiert, zeichnete einen möglichen Weg vor, der auch hier und da gegangen wurde, der aber offensichtlich nicht zufriedenstellte. Das Labyrinthische ist immer ein Effekt mißlungener Raumordnungen, die aus einer Einheit entworfen wurden. Das Labyrinthische wäre eine Konzession, aber immerhin eine, die gute Dienste bei der fortgesetzten Wahrnehmung der Stadt leisten könnte.

3. Stadtsoziologie, narrativ

Wer die Muster der gängigen stadtsoziologischen Untersuchungen zusammenstellt und dann seinerseits mustert, stößt auf eine tiefgreifende Ambivalenz der Erfahrungen, die man nach verschiedenen Richtungen akzentuieren kann. Man liest dann von Nähe und Ferne, von Vertrautheit und Fremdheit, von Wärme und Kälte, von Langsamkeit und Beschleunigung, von Solidität und Flüchtigkeit und ähnlichen Begriffspaaren. Durch die Entwicklung der Städte sind diese Muster auf eine spezifische Weise "schiefgedrückt", so daß die Tendenz dahin zu gehen scheint, daß die Ferne der Nähe vorgezogen wird, die Fremdheit der Vertrautheit, die Kälte der Wärme, die Beschleunigung der Langsamkeit, die Flüchtigkeit der Soliditat, wobei aber nicht klar ist, ob es sich hier um Oppositionspaare fundamentaler Art oder um Effekte der historischen Abstraktion handelt. So daß also die Ferne die Nähe erst hervorbringt, die Fremdheit die Vertrautheit, die Kälte die Wärme, die Beschleunigung die Langsamkeit, die Flüchtigkeit die Solidität usw.. Falls letzteres zutrifft, könnte man sich Steigerungen vorstellen, die dann nicht mehr zu einfachen Gegenbewegungen taugen, wie sie in den letzten Jahrzehnten immer wieder propagiert worden sind. Die Allianz von "flesh and stone" (Richard Sennett), die Beschwörung der Geistesgegenwart kann sich nicht einfach auf die Seite einer vorabstraktiven Stadtrealität stützen, so daß man strategisch, sofern die Muster unter zerreißende Spannung geraten, nun die Nähe und die Vertrautheit und die Wärme und die Langsamkeit und die Solidität befürworten könnte. Vielmehr käme es auf eine Balance anderer Art an, die in Berücksichtigung der Abfolge Körper-Ware-Zeichen riskantere Gegenteile verlangen würde. Bestimmte Positionen sind nicht hintergehbar. Das zeigt sich auch immer deutlicher. Urbanität als geregelte Gleichgültigkeit, die große Stadt als Integrationsmaschine anonymer Mechanismen, die Surrealität der "divided city", in der die Ausbeutung überboten ist durch Nichtbeachtung aller Beteiligten - solche Grundmuster lassen sich historisch nicht mehr zurückdrehen, denn in ihnen ist der Spin der Geschichte wirksam geworden d.h. irreversibel mächtig.

4. Selbstfremdheit

Weder die Vogelperspektive, noch die Perspektive des Kellerlochs, weder der pure Regionalismus, noch der leere Universalismus, weder die methodische Regression, die auf historische Progressionen, die ins Leere gingen, zu antworten sucht noch die Verheimlichung des Unheimlichen können der Stadtwahrnehmung heute aufhelfen. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, mittels der akzeptierten Selbstfremdheit weiterzukommen, die Baudelaire schon in Edgar Allan Poes Erzählung "Man of the Crowd" wahrgenommen hat. Im Spiegel der Stadt erscheint ein fremdes Gesicht. Der Stadtbewohner erkennt sich nicht mehr. Er ist nicht mehr in der Lage der Erinnerung des Vergessenen, wie die Philosophie seit den Vorsokratikern bis Hegel bezeichnet worden ist (Jacob Taubes zitiert Franz Rosenzweig). Vielmehr wäre das ganze Arsenal der Zeichen zu verdächtigen, inzwischen eine Art Abwehrzauber gegen die Erfahrung der menschlichen Selbstfremdheit zu leisten. Um die Probe aufs Exempel einer solchen Annahme zu machen, muß man sich an den Grenzen der Theorie aufhalten, an den Grenzen aber auch der Erzählbarkeit der Stadt, an den Grenzen der Abbildbarkeit der Stadt. Man muß gewissermaßen das, was im Schrecken und zum Schrecken der wahmehmenden Menschen geschieht, ausdrücklich provozieren, man muß den Einbruch der Stadt als der fortgeschrittensten Welt des Menschen in die menschliche Wahrnehmung forcieren, man muß die Texte, die Diskurse, die Semantik, die sich gebildet haben unter dem Druck der Bilder der Stadt unterlaufen und unterminieren. Dann könnte es gelingen, das wildgewordene Zeichensystem als Fortschritt in Richtung einer Zerstückelung des Imaginären zu lesen, was zweifellos auch bedeutet, an die Stelle einer symbolischen Lektüre der Manifestationen des menschlichen Geistes eine diabolische Wahrnehmung zu setzen, die den Zusammenhang bestreitet, der nach wie vor als Wirkung einer dritten Abstraktheit angenommen wird. Es mag allerdings sein, daß eine solche Wahrnehmung nicht aus freien Stücken, aber doch mit einiger Zwangsläufigkeit eine Schuld an dem, was es gibt, begreift und damit eintritt in die dritte Rechnung einer bevorstehenden dritten Dialektik der Aufklärung.

Anmerkung B.T.:
Im Dickicht der Zeichen der gehört zu der Gruppe von Texten zu Veröffentlichungen von Symposien und Kongressen, an denen Dietmar Kamper teilgenommen hat.

[zurück zum Verzeichnis Texte\Autor]