AMERICA - THE OTHER SIDE

WEST COAST ART IM UMKREIS DER 60ER JAHRE

4. April bis 23. Mai 1993

Ein Gemeinschaftsprojekt
des Clemens-Sels-Museums und des
Kulturamtes der Stadt Neuss

Katalog zur Ausstellung im
CLEMENS-SELS-MUSEUM

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INHALTSVERZEICHNIS

005 Grußwort
Paul A. Smith
Kulturattaché der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika

009 Zur Ausstellung
Gisela Götte

013 Berkeley - love it or leave it
Eve-Marie Kallen

017 Das größte Nein der Welt
Jürgen Seidel

023 How Beat Happened: A San Francisco History
Steve Silberman

037 A New Look at the Summer of Love
Allen Cohen

041 Stimmen aus dem Untergrund
Bay Area-Subkultur im Spiegel ihrer Publizität
Uwe Husslein

055 Wallace Berman oder Die Macht der Buchstaben
Gerda Wendermann

067 Fusion Art
Anmerkungen zu einem "painted poem" von Kenneth Patchen
Eckhard Hammel

071 "The Great Poster Wave"
Gerda Wendermann

077 The Scream of the Butterfly
Feministische Kunst an der Westküste am Beispiel Womanhouse
Ellen Harlizius-Klück

085 Metasex - The Final Impact
Zur Allianz von kommunikationstechnologischer und sexueller Revolution bei Marshall McLuhan
Eckhard Hammel

095 Die deutsche Jugend
und der Traum vom amerikanischen Körper
Johannes Bilstein

105 Umma Gumma - Mit Drogen in den Crash von Sein und Sinn
Gabriele Uerscheln

113 Jenseits der 60er
Differenzen und Paradoxien zwischen Sub- und Popkultur
Eckhard Hammel / Gabriele Uerscheln

119 Zu den Autoren

120 Katalog der ausgestellten Werke

134 Impressum

© Content: Autoren, C-S-Museum Neuss | WWW: Eckhard Hammel, www.CultD.net | Impressum

www.CultD.net

4. April bis 23. Mai 1993

Ein Gemeinschaftsprojekt
des Clemens-Sels-Museums und des
Kulturamtes der Stadt Neuss

Katalog zur Ausstellung im
CLEMENS-SELS-MUSEUM
katalog

Der Katalog enthält zahlreiche Abbildungen teils in Farbe, teils schwarz-weiß von Magazinseiten und Postern und Fotografien von Lisa Law, Gerard Malanga, Alan Ginsburg, William S. Burroughs und Lloyd Hamrol.

Die letzten verfügbaren, neuwertigen Exemplare können zum Sammlerpreis von privat erworben werden.

134 Seiten; Paperback, farbig; 8,5 x 11 Zoll.

Anfragen bitte per Mail an "eh[AT]cultd.eu".


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TEXTAUSZUG
Zur Ausstellung
Gisela Götte
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(...)

Im Interesse des Kulturamtes lag es, die Sub- und Popkultur der jüngsten amerikanischen Vergangenheit aufzuarbeiten und ihren Einfluß auf das Europa der Nachkriegszeit kenntlich zu machen. Es sollte eine Veranstaltungsform gefunden werden, die - spartenübergreifend und interdisziplinär - die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten einer Kultur vorstellt, welche an der Westküste (San Francisco, Berkeley und Oakland) Amerikas, auf der "anderen Seite", nicht in New York angesiedelt war und ist.

(...)

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EXCERPT
A New Look at the Summer of Love
Allen Cohen
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(...)

it is 25 years ago since San Francisco's biggest concern was how many of America's youth, now known as baby boomers, would descend upon the Haight Ashbury in search of the holy grail of sex, drugs and rock and roll. In the spring of '67 one of the members of the Board of Supervisors, upon considering whether to allow the expected hoards to sleep in Golden Gate Park, said, "Would you let thousands of whores waiting on the other side of the Bay Bridge into San Francisco."

(...)

in the Haight Ashbury we referred to this holy grail as free love, expanded consciousness and the ecstatic experience. We looked upon that summer as the beginning of a children's crusade that would save America and the world from the ravages of war, and the inner anger that brings it forth, and materialism. We had already identified our lives with the world as a political and social entity, and the planet as a unified environment, an earth household. Love, we believed, would replace fear and small communal groups would replace the patriarchal family and mass alienation.

There was two aspects to the experience of the 60s: the resistance to the war,and the "psychedelic experience", the political activists and the hippies. For the most part these two vectors overlapped in the same individuals, so that many of those who actively resisted the Vietnam war had used LSD and smoked marijuana. As a society we have tried to understand the sixties mostly as political resistance to the war, but have mostly ignored and denied the changes in values and culture brought about by "psychedelic experiences".

(...)

We were becoming world citizens. Peace and love weren't just slogans but states of mind and experiences that we were living and bearing witness to. Living in harmony with the earth was an ideal that, we felt and perceived as real experience. We were bringing forth a second Renaissance that would change human culture.

(...)

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Edierter TEXTAUSZUG
Metasex - The Final Impact
Zur Allianz von kommunikationstechnologischer und sexueller Revolution bei Marshall McLuhan
Eckhard Hammel
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(...)

Zwischen Nichtstun und freier Liebe spiele sich alles ab, das hat man ihnen nachgesagt, den Hippies der 60er/70er Jahre, und das hat man ihnen übel genommen. Es wollte nicht so recht passen zum industriellen Dauer-Boom Nordamerikas, so wie er ungeachtet des berühmten Börsencrashs von den 30er bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Kontinuität hatte. Das Gammeln in Haight Ashbury war genauso unproduktiv wie die neueste Verkehrsform der Geschlechter, die erst mit Entwicklung und Gebrauch der Pille zu einem von jeder produktiven Fortpflanzung abgekoppelten Sex werden konnte.

Es ging damals viel weniger um die moralischen Tabus, deren Brechung und Wahrung, deren Auf- und Ab- und Wiederaufbau; es ging um dieses Verhältnis von Produktivität bzw. Produktion und Unproduktivität. Letztere darf übrigens keineswegs mit Unkreativität verwechselt werden; keiner konnte sagen, dass nicht der eine oder andere kreativ gewesen sei, aber produktiv im ökonomischen Sinn waren sie zunächst nicht. Die Unproduktivität war es, die sich als subkulturelle Bewegung an der Schwelle vom Industrie- zum Kommunikationszeitalter inszenierte. Im Folgenden wird uns das Thema "Sexualität" im Umfeld dieses Epochenwechsels beschäftigen. Wir werden uns fragen, wie es zu der, auf den ersten Blick seltsamen Allianz zwischen der sogenannten "sexuellen Revolution" und der "technologischen Revolution" kommen konnte. Eines, dies vorab, wird man nicht behaupten dürfen, dass nämlich die sexuelle "Revolution" eine bloße Reaktion auf die technologische darstelle, und dass sie etwa die technologische kompensiere.

(...) "Break on through to the other side" sang Jim Morrison damals, und nachträglich will es so scheinen, als sei es ziemlich egal gewesen, wie man dies bewerkstelligte. Es gibt Gemeinsamkeiten, aber - dieser Vorbehalt sei gewärtigt - alles über einen Leisten zu schlagen, was sich auf "der anderen Seite" der US-amerikanischen Kulturszene abspielte, hieße die Vielschichtigkeit der subkulturellen Phänomene, die, wenn nicht Inhalt, so doch avisierte Form selber der Subkultur darstellte, misslich zu reduzieren. Es gab da die intellektuellen Beatnik-Dandies; die unpolitischen Hippies und ihre psychodelic-music; die durch den Vietnamkrieg politisierte Musik und Literatur; der Bezug der Malerei auf die Photographie; andererseits die Rückbesinnung auf die Romantik künstlerischer Innerlichkeit usw., ganz abgesehen davon, dass die schwarze Kultur überwiegend ihre eigenen Wege ging.

(...) Es sind gleichsam außerkünstlerische Zusammenhänge, die die innere Gemeinsamkeit der Phänomene ausmachen. Diese Zusammenhänge liegen im Schwinden der Bedeutung der Produktivität klassischer Provenienz. Vielleicht war es nicht bedeutungslos, dass ausgerechnet eine Straße mit dem Namen "Telegraph Avenue" in San Francisco zu den beliebtesten Plätzen des Herumlungerns avancierte. Das Zeitalter der Industrie oder der Produktion verschwindet mit dem Aufkommen der neuen Technologie der Informationsverarbeitung. Mit den neuen Medien ereignet sich ein tiefgreifender Wandel. Die "Produktionssphäre" (Marx) der körperlichen Arbeit, die die Gesellschaft im Industriezeitalter bis in die 50er Jahre hin entscheidend prägte, verliert ihre Bedeutung an die "Distributionssphäre" (Marx) der Verteilung von Information. Gewiss gehört die Telegraphie, auf die wir unten noch einmal zu sprechen kommen, ins 19. Jahrhundert, aber sie markiert den Beginn einer Entwicklung der Medientechnologie, die erst zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ihrer vollen Entfaltung kommen sollte.

(...)

Marshall McLuhan, am 11.07.1911 geboren und im Alter von 52 Jahren zum Direktor des Centre for Culture and Technology berufen, dürfte zu den publikumswirksamsten und bekanntesten Medientheoretikern der damaligen Zeit zählen. Wie auch immer, sei es dass man sich affirmativ auf ihn berief, oder ihn gar überschwenglich als Apologeten einer neuen Zeit feierte, sei es, dass man ihn kritisierte, oder ihn als flüchtige Modeerscheinung verächtlich kommentierte, sei es auch, dass man ihn nur sachlich diskutierte - die Bedeutung McLuhans ist kaum zu überschätzen.

McLuhans Kommentare zum medientechnologischen Fortschritt und der damit verbundenen Ausweitung der Kommunikation sind zum wenigsten "skeptisch" zu nennen. Sie ruhen auf der optimistischen Auffassung, dass die vollends medialisierte Welt allen Menschen in der gleichen Weise Zugang zur jeder beliebigen Information verschaffen würde. Die medientechnologische Utopie McLuhans entspricht im Grunde dem alten Programm der Aufklärung seit Immanuel Kant, die Menschen nämlich so zu informieren, dass sie aus dem Stand der Unwissenheit sich zu mündigen Subjekten der Demokratie entwickeln würden. Der Geist der Declaration of Independence weht auch bei McLuhan, aber nicht in einem inhaltlichen, sondern einem formalen Sinn: Nicht die traditionelle Untersuchung der Frage, welche Nachrichten für die Gesellschaft und ihre Bürger brauchbar und welche schädlich seien, ist für McLuhan bestimmend, sondern allein der Tatbestand, dass die Informationsvermittlung in der Menge zunimmt. Nicht der Inhalt, sondern die Struktur der tv und des Computers formen die Zivilisation im besagten, letztlich aufklärenden Sinn um, weil es im medientechnologisch erfüllten Zeitalter kein Wissensmonopol mehr geben könne. Der Satz "The Medium is the Message" skizziert deshalb nicht nur McLuhans Denken, er hat in den Anfängen des Kommunikationszeitalters den Rang einer Schlüsselformel angenommen.

Bei allem Formalismus beharrt McLuhan darauf, dass die formale Netzwerk-Struktur ohne inhaltlichen Hintergrund nicht denkbar sei. Dieser Hintergrund wird nun nicht, wie man vielleicht vermutet hätte, durch die Außenwelt gebildet, sondern durch "den" Menschen. "Der Fernsehteilnehmer ist der Inhalt des Fernsehens. Der Mensch ist der Inhalt und die Botschaft der Medien, die Ausweitungen seiner selbst darstellen." Auf diesem Hintergrund gewinnt das Thema "Sexualität" innerhalb der Medientheorie McLuhans einen entscheidenden Stellenwert. Der späte McLuhan pointiert damit anthropologische Implikationen seines Denkens, die er schon knapp 10 Jahre früher thematisiert hatte. 1967 veröffentlicht er zusammen mit George Leonard einen Artikel in der Zeitschrift "Look". Der Titel lautet "Future of Sex". Dieser Aufsatz sei zunächst kurz in Erinnerung gerufen.

McLuhan formuliert in diesem Essay eine theoretische Grundlage der sexuellen Praktiken der 60er Jahre. Da gerade in den technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften die Jugendlichen die Sexualvorstellungen der älteren Generationen ablehnten, stellt er einen Zusammenhang zwischen sexueller Praxis und technologischer Entwicklung fest. Er kann diese Feststellung deshalb treffen, weil er davon ausgeht, dass die technologischen Veränderungen das Wesen "des" Menschen nicht unberührt lassen, sondern dass sie "ihn" und insbesondere seine Sexualität gleichsam "substantiell" transformieren. Wenn man im Zusammenhang der medientheoretischen Überlegungen des Marshall McLuhan über Sexualität handelt, so kann man nicht von einer naturgegebenen Sexualität sprechen; der Sex, über den McLuhan schreibt, ist "metaphysisch", er ist ein "transzendental-technologischer" Metasex.

Bislang sei es nie gut bestellt gewesen um die Kommunikation zwischen Frau und Mann. Deren Dilemma liegt für McLuhan in der Trennung der Geschlechter voneinander. Diese finde ihren prägnantesten Ausdruck im lateinischen Begriff "sexus", den er mit "secare", "trennen" in Verbindung bringt. Nach einer - wenn man so will - epochalen Latenzzeit, komme dieses Dilemma, diese Entfremdung "des" Menschen von sich selbst, vermittelt über die Erfindung des Buchdrucks 1460, erst im Industriezeitalter zu ihrer eigentlichen Entfaltung. Damals habe sich diese entfremdende Trennung "unter dem Einfluss von Freud, den Fabriken, dem Automobil und den Weltkriegen" zum Sex entwickelt. Damit habe sich aber nichts Umwälzendes ereignet, im Gegenteil, die Sachlage habe sich zugespitzt und verschärft.

Erst mit der technologischen Entwicklung des Kommunikationszeitalters, das für McLuhan mit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzt, zeichne sich innerhalb der Sexualgewohnheit ein Umbruch ab, der das alte Dilemma aufheben und zum Besseren wenden würde. McLuhan zufolge vollzieht sich nunmehr eine Annäherung der Geschlechter und eine Aufhebung ihrer Trennung. Bei dieser Annäherung kommen den Geschlechtern differierende Funktionen zu. Die wesentlichen Parameter der Veränderung setze (...) nicht die sich emanzipierende Frau. Diese suche ja gerade die üblen, alten Mannstugenden des "hombre" zu imitieren. Die eigentliche Veränderung gehe vom Hippie-Mann aus, den man mittlerweile nicht mehr von der Frau unterscheiden könne. In diesem Verzicht des Mannes auf seine narzisstischen Standards sieht McLuhan die entscheidende Chance zur Veränderung.

(...)

McLuhan zitiert den viktorianischen Schriftsteller George Meredith, die Frau gehöre zu den letzten Dingen, die der Mann zu disziplinieren vermöge, und kommentiert, Meredith weise damit indirekt auf die "Tauglichkeit" der Frau für das post-industrielle Zeitalter hin: der Mann habe nur Zukunft, wenn er sich an die Methoden der Frauen anpasse. Diese Mimesis würde dann zu einem neuen Selbstverständnis und einer neuen Praxis des Männlichen führen. Dazu gehöre grundsätzlich die Fähigkeit des intuitiven Erfassens gegebener Informationen, eine also eher perzeptive als kognitive Methode. Gleichzeitig solle der zukünftige Mann lernen, Emotionen zu zeigen. Intuition und Emotion, "psychische Flexibilität", wie McLuhan es zusammenfasst, führen zu der gewünschten Feminisierung, die ihrerseits rückwirkend eine höhere Anerkennung seitens der Frauen erfahren würde als das überholte Macho-Gehabe.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema "Sexualität" hat einen enormen Einfluss auf die Literatur der 60er Jahre gehabt. Tatsächlich haben viele Zeitgenossen hier kein Blatt vor den Mund genommen. Anders McLuhan: in der Exposition seiner Sexualutopie kommen keine Begriffe vor, die man bei der Diskussion des Themas erwarten würde. Tatsächlich liegt nach McLuhan die Pointe dieser Utopie in der Dialogbereitschaft und einer Art "Kommunikationsbereitschaft". McLuhan führt diese Bereitschaft gegen das klassische männliche Einzelkämpferwesen ins Feld. Und um der Idee größeren Nachdruck zu verleihen, mahnt die steigende Erkrankungs- und Sterberate der Männer in der industriellen Welt an; mehr weibliche Eigenschaften an den Mann gebracht, und alles würde besser...

(...)

McLuhan wohnt in Toronto und - wenn man einem Artikel Richard Kostelanetz` in der New York Times Glauben schenkt - führt seine Familie, sechs Kinder zuzüglich Gattin, jeden Sonntag zur Messe. Bei genauerer Betrachtung ist es just diese Christlichkeit, die McLuhan in die abendländische Tradition einreiht. Dies aber nicht nur deshalb, weil er ein Apostel des Kommunikationszeitalters ist; er ist Evangelist in einer übergreifenden Bedeutung. Die Vermittlung eines Evangeliums (...) kommt von der biblischen Überlieferung her dem "aggelos", dem göttlichen Boten zu, mithin den Engeln. McLuhans Message ist nun fraglos keine düstere Prophetie, sie ist eine "frohe Botschaft", ein "euaggelion". (...)

McLuhans "frohe Botschaft" kündigt vom Ende des alten Sytems der Dinge der Gutenberg-Ära, und frohlockt von der Heraufkunft sozialer Erlösung durch die neuen Medien. Die biblische "frohe Botschaft" besteht in der Ankündigung des Messias. Dieser Erlöser der Welt, Urahn der Hippies und deren Species "Jesus-People", steht nicht im Verdacht sich viriler Untugenden bedient zu haben. Jesus ist bereits der Prototyp der Indifferenzierung von Mann und Frau - freilich aus der Perspektive des Mannes. McLuhan verkündet die Heraufkunft des Metasexes, die Geburt der sexuellen Indifferenz genau auf dieser Linie. Die historisch relevante Differenz, und darin mag man McLuhans Genialität im Erfassen seiner Gegenwart sehen, liegt nicht mehr dergestalt zwischen den Geschlechtern von Mann und Frau, wie dies im Industriezeitalter und der entsprechenden Bedeutung der körperlichen Arbeit für die Produktion der Fall war. Muskelkraft ist nunmehr entbehrlich und kann sogar hinderlich sein. Die zeitgenössische Differenz, auf die hin sich McLuhan tatsächlich orientiert, ist die zwischen dem Geschlecht "des" Menschen und dem, um es mit den Worten des Karl Marx zu sagen: "unmenschlichen Geschlecht", der Maschine, und zwar der Art von Maschine, wie sie im Kontext der Informations- und Kommunikationstechnologie relevant wird. Die These, dass das Medium die Botschaft sei, findet sich auch unter diesen Aspekten verifiziert: es bedeutet nichts anderes als dass das klassische Gottesmedium, der Engel, selbst zur Botschaft wird. Exakt diese Figur repräsentiert Jesus.

(...)

Die Eigenschaften der Frau, "Intuition", "Emotion", "psychische Flexibilität" usw. gehören auf den ersten Blick zum sozialen Themenkreis "Gender" und nicht zum biologischen Themenkreis "Sex". (...) Tatsächlich aber steht der Themenkreis "Gender" wie eine verbindende Schnittstelle zwischen den sexuellen Körpern und den gesellschaftlichen Strukturen. Deshalb sind die Tugenden, von denen McLuhan spricht, Tugenden der Kommunikation, die innerhalb der zukünftigen Technologie "verlangt" und erfordert und keinesfalls nur ermöglicht werden! McLuhan schreibt: "Die neue Sensibilität lohnt sich, die neue Technologie macht sie unentbehrlich." Dies allein ist der Grund für die Kritik am klassischen "hombre-" oder "John Wayne-Typ", der eben Einzelgänger und Individualist ist und dem nichts so wesensfremd ist wie sinnloses Gequatsche. Deshalb lässt er sich nicht ins generalisierende Vernetzungswesen der Kommunikation einpassen.

Die nach McLuhan folgende Intensivierung des Gefühlsbestandes, geht den Gesetzen seines Evangeliums zufolge absonderliche Wege. McLuhan gibt ein Beispiel für den Intensitätszuwachs. Dieses Beispiel handelt über die neue Art eine Frau wahrzunehmen im Gegensatz zur alten Art, es beschreibt die Differenz zwischen Twiggy im Gegensatz zur antiquierten Sophia Loren. Diese werde nicht anders als ein Rubens-Gemälde wahrgenommen, Twiggy jedoch nehme man wahr wie mit einem Röntgenstrahl. "Und was enthüllt ein Röntgenstrahl von einer Frau? Nicht ein realistisches Bild sondern eine intensivere Vorstellung mit stärkerer Ausstrahlung. Nicht eine besonders spezialisierte Frau, sondern ein menschliches Wesen. Beide Geschlechter tendieren heute zu einer gemeinsamen Menschlichkeit. In dem Maße, in dem die künstlichen, von der Gesellschaft auferlegten Barrieren verschwinden, wird zunehmend das unveränderbare Wesen von Mann und Frau seinen natürlichen Zauber wieder ausstrahlen". Mit der Inanspruchnahme der vermeintlichen Tugenden der Frau seitens des Mannes gerät diese selber an eine neue Position: Radiologisch sieht man eine bis aufs Skelett und vereinzelte Organe durchsichtige, maximal ungeschlechtliche "Frau" - wenn man sie denn als eine solche bezeichnen will - mineralische Hardware, das Komplement zur vegetabilen Flower-Power-Kultur.

(...)

Ein Axiom McLuhans ist bereits rund hundert Jahre vor ihm formuliert worden. Die damalige theoretische Konzeption verdankte sich einer bedeutungsvollen technologischen Neuerung. 1837 entdeckt Samuel Morse die Telegraphie. Wie eine philosopische Replik auf diese technologische Neuerung erschien mit exakt vierzigjähriger Verspätung Ernst Kapps Werk "Grundlinien einer Philosophie der Technik", das die nunmehr etablierte Telegraphie als Projektion des menschlichen Nervensystems deutete. Kapps Technikphilosophie kann als eine theoretische Antezipation zumindest der genealogischen Momente der Medienphilosophie McLuhans angesehen werden. Vielleicht sogar hat McLuhan Mitte des 20. Jahrhunderts die Kappschen Theoreme nur ausgeweitet, indem er die gesamte Technologie der neuen Kommunikationsmedien als eine solche Projektion des menschlichen Nervensystems deutete. Bei McLuhan heißt es: "In dem Maße, wie das elektronische Zeitalter mit seinen Kommunikationsmitteln das menschliche Nervensystem außerhalb des Körpers ausdehnt, bringt es auch eine neue Sehnsucht nach Selbsterforschung hervor."

McLuhan ermuntert zu nichts anderem, als zu dem Versuch, in der Umkehrung mit Hilfe der neuesten technischen Errungenschaften rückwirkend "den" menschlichen Körper zu erforschen. Im beschriebenen Fall des 19. Jhds. würde dies heißen, von der Telegraphie als Projektion auf "den" menschlichen Körper rückzuschließen.

Wie eine Parade auf die frühe Theorie der Projektion wirkt bekanntlich Daniel Paul Schrebers konsequent realisierte Sehnsucht nach Selbsterforschung. Schrebers Paranoia begreift seine gesamte Innerlichkeit als ein nach dem Muster der Telegraphie vernetztes Neuronensystem, das über den technologischen Stand der Zeit hinaus ein Receiversystem nach dem Muster des Funktelefons und gar Halluzinations-spezifisch des Satellitenempfangs antizipiert: Das neuronale Supernetzwerk Gott sei über Strahlen mit der neuronalen Natur des Menschen verbunden. Darin nun aber, und dies ist die Pointe der Schreberschen Paranoia, wird er selbst zur Frau und zum demütigen Empfänger der göttlich gesendeten Programme.

Was bei Schreber noch als pathologisches Phänomen der Psychose imponiert, ist indes zum integralen Bestandteil wissenschaftlicher Operationalisierung aufgestiegen. Von der zeitgenössischen Neurophysiologie und der Biologie der Autopoiesis über Fragen der Immunologie und der Endokrinologie bis hin zur Dominanz der Genetik geschieht nichts anderes als eine Interpretation des Menschen auf dem Hintergrund der Technologie digitaler Kommunikationsmaschinen. Unterdessen wäre das über Technik vermittelte Frau-Werden, so wie es Schreber inszeniert, heute kaum mehr der Rede wert. Nach der sexuellen Revolution der 60er und 70er Jahre, bedarf diese sexuelle Indifferenzierung keiner pathologischen Abbildung von Technologie mehr. Der pathologische Fall ist zum wissenschaftlich abgesicherten Normalfall geworden.

Nicht nur der Gender-Problematik, vor allem dem Sex kommt nach der sexuellen Befreiung die Funktion eines Interface zu. Er vermittelt zwischen dem "unmenschlichen Geschlecht" der Dinge, den physikalischen Körpern und andererseits den physischen Menschenkörpern. Der Sex ist im radikalen Sinn unproduktiv. Deshalb kann er die Technik der Kommunikation repräsentieren und diese sogar selbst sein. Tatsächlich ist er im Gegensatz zum produktiv-reproduktiven Fortpflanzungsverhalten Technik pur. Auf der anderen Seite partizipiert er an den physischen und biologischen Körpern. Deshalb kann er diese beiden Mengen vereinigen. Der durch die Feminisierung geläuterte Hombre mutiert dergestalt zum Single, der alle Methoden der Kommunikation spielerisch beherrscht. Mit der sexuellen Indifferenzierung realisiert der Sex die Beziehung "des" Menschen zur Maschine und der Maschine zum Menschen. Er ist die oszillierende Kopulation zwischen der Simulation "des" menschlichen Körpers in der Technologie und der Animation "des" physischen Menschkörpers durch die Technologie. Dieses Verhältnis erst ermöglicht die Allianz zwischen der kommunikationstechnologischen und der sexuellen Revolution.

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TEXTAUSZUG
Fusion Art
Anmerkungen zu einem "painted poem" von Kenneth Patchen
Eckhard Hammel
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"In den jugendlichen Vereinigten Staaten blüht ein neues Bewußtsein, das Whitman, Cendrars und Patchen hervorzubringen halfen."
Allen Ginsberg

(...)

In den 50er Jahren, der Zeit in Frisco, hat er Kontakte zu zeitgenössischen Künstlern aller Genres, einige dieser Künstler werden später seinen Bekanntheitsgrad weit übertreffen. Patchen, der nur wenige Jahre nach dem Oktober 1967, dem "Tod der Hippies" verstarb, hat diesen Ruhm nie erlangen können - insbesondere nicht in Europa. Er ist Zeit seines Lebens ein introvertierter Mensch gewesen, der letztlich das Dichten in der Stille jeder Art von Öffentlichkeitsarbeit vorzog. Die letzten 12 Jahre seines Lebens ist er - gemeinsam mit seiner ebenfalls schwer erkrankten Frau - unter starken Schmerzen ans Haus gebunden.

(...)

Durch die Einfärbung des Blattes entsteht eine Hintergrundfarbe, die zwar die Zeichnung dominiert, aber in ihrer Pastelltönung keinesfalls bindend wirkt, sondern die Leichtigkeit der Zeichnungen eher unterstützt. Gleichwohl läßt die Beziehung von Hintergrundfarbe und Zeichnung/Schrift eine volle Raumentwicklung nicht zu, sie bleibt zweidimensional, flächig. Es gibt keine Tiefe, in die der Blick sich hineinbewegen könnte, und die lineare Blickintervalle ermöglichen würde. Damit aber wird den Exponaten jede Zeitdimension genommen. Sie sind gleichsam zeitlose "idola", Abbildungen einer idealen Welt, für Patchen der Welt der Ideen von "love and peace".

(...)

"Someone has left a wave
In front of the barn.
It grabs hold of the cow.
Poor Grandma has to dismount.
Her skirt gets caught.
The sky catches on fire.
The wave goes to work
And soon puts it out.
Someone sure used his bean!"

(...)

Noch vor der Armory Show, 1913 in New York, hatten fünf Maler der Ash Can School (Glackens, Henri, Luks, Shinn und Sloan) zusammen mit drei impressionistisch orientierten Malern (Davies, Lawson und Prendergast) aus Protest gegen die kommerzielle Galeriepolitik eine Ausstellung veranstaltet, die sie als die Gruppe The Eight berühmt machte. Im Rückblick wird man die Präsentation der Eight auch als eine Suche der amerikanischen Künstler nach einer eigenständigen Ausdrucksform in Auseinandersetzung mit der europäisierten offiziellen Kunstszene der USA ansehen müssen. Patchens, an der Utopie einer "love-and-peace"-Gesellschaft orientierte Sozialkritik, hat durch die neoimpressionistische Utopie der idyllischen Welt entscheidendere Impulse erhalten als durch die Sachlichkeit der "Ash-Cans".

(...)

Wie bereits angedeutet waren sowohl der US-amerikanische Realismus wie auch der über Frankreich vermittelte Neoimpressionismus durchaus politisch orientiert. Was die einen auf der kritischen Ebene von Dokumentation und Beschreibung avisierten, das verbanden die anderen mit einer imaginären Utopie. Die utopische Vision einer künftigen besseren Welt leitet auch Patchens "love-and-peace-poems".

(...)

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TEXTAUSZUG
Jenseits der 60er
Differenzen und Paradoxien zwischen Sub- und Popkultur
Eckhard Hammel / Gabriele Uerscheln
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(...)

Ein beliebtes Modell in der Auseinandersetzung der 60er mit überkommenen Traditionslinien war das des Generationenkonflikts. Sieht es heute nicht so aus, als wären das die guten alten Zeiten gewesen, in denen man noch über die Generationen innerhalb der Familienstruktur schimpfen konnte? Und man hat dies ausgiebig getan: Die Alten kritisierten die Jungen und die Jungen die Alten. Rückblickend versteht es sich fast von selbst, daß die Generationen damit klammheimlich einen Pakt geschlossen hatten, der darin bestand sich gegenseitig Bedeutung zuzumessen. Die heutige Differenzierung in Alter und Jugend hat nichts mehr damit gemein. Konnten sich damals die Generationen noch bei aller Kritik versichern, daß auch die Gegenseite etwas wissen und tun würde, nur eben das Falsche, so versicherten sie sich damit der Vorstellung, die sozialen Verhältnisse tatsächlich in der Hand zu haben und sie verändern zu können. Heute hat das Alter als Gedächtnis und Archiv von Berufs- und Lebenserfahrung seine Bedeutung an die elektronischen Speichermedien abgegeben, und die Jugend fasziniert heute nicht deshalb, weil sie einen klareren Blick für die Verhältnisse hat, sondern weil sie dem Spiel des technologischen Fortschritts besser zu folgen, also in einem präziseren Maß Dienstleistung (dazu gehört trainierend bereits das Computerspiel) zu tätigen im Stande ist.

(...)

Es sollte eine weltumspannende und -umarmende Bewegung werden, ohne daß man allerdings die Leute hätte fragen können, ob sie umarmt werden wollen. Gut, man schickte keine Missionare mehr ins Land, aber zu keiner Zeit sind so viele Ethnologen der Feldforschung unterwegs gewesen wie zu den Zeiten der 60er. Die "weltumarmende Kultur der Liebe" ist, indem sie dergestalt auf Kommuniktion setzt, zu einem Instrument der Vernetzung geworden. Der Weg Woodstock zur Multi-Media-Show des Bob Geldorf gibt einen pointierenden Ausdruck dieser Verhältnisse ab, die aber tatsächlich viel weitreichender sind. Die weltumspannende Bewegung der 60er/70er Jahre stellt nur die subjektive, psychologische Ergänzung zu der heutigen Kommunikationstechnologie dar. Sie sorgte für den substanziellen Bodensatz der Bedingungen des Datentransfers auf der Ebene der totalen Vernetzung.

(...)

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