mixed pixels - nam june paik
name june paik students. video dreams - ausstellung im kunstmuseum duesseldorf vom 5.4.-5.5.1996

Michael Bielicky

Der Weg ins Immaterielle

Man muß sich beeilen, wenn man noch
etwas sehen will. Alles verschwindet.

Paul Cézanne

Sehr geehrte Damen und Herren,

eigentlich sollte ich diesen Text nicht in einer linearen Schriftform präsentieren, wenn ich eine dieser Zeit adäquate Ausdrucksform gebrauchen sollte. Ein sogenannter "Hypertext" müßte hier vorliegen! Das heißt, der Text sollte von den Zuhörern selbst gelesen werden und zwar als ein nicht lineares, elektronisches Buch, in Form des digitalen Codes, der auf einer Diskette gespeichert ist und vom Leser mit Hilfe einer Computermaus vom Bildschirm des Computers gelesen wird. Dann hätten Sie die Möglichkeit sich individuell, je nach Interesse durch den Text zu bewegen und dazu Bilder zu sehen und Ton zu hören und jeder Leser würde seine ganz eigene Erfahrung machen, und alle diese unterschiedlichen Erfahrungen hätten ihre eigene Qualität und Wahrhaftigkeit. Und eigentlich sollte ich hier gar nicht vor Ihnen in Person stehen, sondern ich müßte irgendwo auf der Welt sein und von dort über den "Data-Highway" aus einer hier im Raum installierten Projektionswand zu Ihnen sprechen. Und es dürfte nicht einmal ein Videobild von mir sein, aufgenommen mit einer Videokamera, sondern ein synthetischer, digitaler, künstlicher Bielicky müßte zu Ihnen sprechen. Wahrscheinlich würde diese Erfahrung Ihnen die Problematik der neuen Medien viel eher deutlich machen, als dieser Text, den ich Ihnen hier vorlese.

Und während ich diese Zeilen schreibe, schließe ich mich via Telefon an das größte internationale Computernetz an, das als Internet bezeichnet wird und ich schaue mir die neuen Bilder an, die von verschiedenen Künstlern dort präsentiert sind. Diese Künstler befinden sich in Sibirien, in New York, in Tokio, in Berlin usw. und sie alle sind Teile eines Organismus, der permanent eine Eigendynamik entwickelt und das wiederum wirkt sich rückwirkend auf ihre eigene kreative Tätigkeit aus. Die Informationstechnik produziert keine materiellen Objekte mehr, sondern es entstehen lauter Immaterialien. So wird die traditionelle Vorstellung von der Kunst in Frage gestellt, denn diese erscheint uns als dauerhaft nur in materieller Form. Und es steht außer Frage, daß die Erfahrung mit elektronischen Medien, und das nicht nur im Kunstkontext, sondern auch im täglichen Umgang (Fax, Fernsehen, Telefon, Computer, Virtuelle Realität, Vernetzung usw.), unsere Wahrnehmung der Realität und unserer Wertsysteme so radikal verändert, daß wir nur andeutungsweise fähig sein, diese Revolution richtig einzuschätzen und einzuordnen. Die eletronischen Medien haben unser Verhältnis zur Zeit und zum Raum so stark verändert, daß wir nur die Wahl haben, uns entweder an diesen höchst lebendigen Organismus anzuschließen und so an einem Abenteuer teilzunehmen, dessen Dimension zum heutigen Zeitpunkt niemand beschreiben und voraussagen mag, oder wir verbleiben in der romantischen Sehnsucht nach der individuellen Verwirklichung, die natürlich wenig mit der heutigen Realität zu tun hat. Das Zeitalter der eletronischen Poesie hat längst begonnen. Die globalen Netze bieten einen unendlich großen Zeit-Raum an, in dem wir die Ubiquität (Immer-Überall-Präsens) ganz neu erfahren. Diese Erfahrung läßt uns nicht mehr nur die eine Realität erleben, sondern wir bekommen eine Auswahl an Realitäten geboten. Wir werden zu Knotenpunkten eines sehr großen Netzes, durch dessen Fäden (seien sie materiell oder energetisch) Informationen fließen. In diesem Zusammenhang sind die verdinglichenden Begriffe wie etwa "Seele", "Geist", "Identität", "Ich" oder "Selbst" neu zu betrachten.

Aufgrund der Beschaffenheit der Medienkunst ist diese wegen der Art, wie sie rezipiert wird, vollkommen ungeeignet, in Museen präsentiert zu werden. Trotzdem bemühen sich viele Medienkünstler, diese immaterielle Form der Medienwerke in den Kunstbetrieb (Museen, Galerien usw.) einzupassen. Dieses Paradox wird besonders deutlich dann, wenn auf einer Seite z.B. in einer Galerie ein Medienkunstwerk von 80 Besuchern betrachtet wird, aber gleichzeitig im Computernetz das gleiche Medienkunstwerk von mehreren tausenden Beobachtern über das Computernetz aus allen Ecken der Welt gleichzeitig beobachtet werden kann. Das Museum wird für die Medienkunst überflüssig. Der neue Typ von sogenannten immateriellen Museen, wie das gerade entstehende ICC (Intercommunication Center) in Tokio oder das Ars Eletronica Center, welches gerade in Linz gebaut wird (beide Häuser sollen 1996 geöffnet werden), deuten auf eine neuartige Art hin, Objekte zu präsentieren, nämlich in einer immateriellen Form, als pure Information. Mir scheinen aber auch diese neuen Formen von Museen fragwürdig, denn das Museum der Zukunft wird überall sein können: zu Hause, am Nordpol, in der Wüste, in der Disco, im Gefängnis oder am Sterbebett. Das einzige, was wir brauchen werden, um das Museum der Zukunft zu betreten, wird ein tragbarer Computer sein und ein Anschluß in das Netz via Telefon oder Funktelefon oder Satellitentelefon. Man beobachtet und diskutiert neuerdings die Verschiebung oder die Auswanderung des urbanen Lebens in die Computernetze. Es scheint, als ob die Ferne näher rückt und die Nähe ferner rückt. Diese Vertauschung des Räumlichen läßt den Menschen eine völlig neue Realität erfahren. Genauso wie die räumliche Verschiebung, so ist die Zeit ganz neu erfahrbar geworden, sie schrumpft und sie dehnt sich, sie kann nach vorne laufen, aber auch rückwärts. Vor allem aber die Erfahrung der Gleichzeitigkeit macht uns zu einer neuen Spezies. Die telematische Revolution, die wir in Rumänien erfahren haben, hat unser Bewußtsein verändert. Die Life-Übertragung des Golfkrieges durch den Sender CNN veränderte unsere Wahrnehmung und Rezeption der geschichtlichen Ereignisse. Die Geschwindigkeit, mit welcher die Informationen durch die Welt fließen, ist atemberaubend und wir sind die erste Generation, die mit diesem Phänomen umzugehen lernen muß. In meinem neuesten Projekt "Der Briefträger" versuche ich den Anachronismus aufzuzeigen, in welchem sich der Briefträger befindet: Auf einer Seite überbringt dieser noch immer die Informationen in Form von (materiellen) Briefen und zwar in einer viele Jahrhunderte alten Weise, nämlich von Ort zu Ort per Hand, er ist aber gleichzeitig imstande, mit der Navigationstechnik (GPS) Informationen über seinen Standort und seine Bewegung zu vielen unterschiedlichen Orten dieser Erde gleichzeitig in realer Zeit zu übermitteln und in einer virtuellen Form sichtbar zu machen. Die Präsenz in Abwesenheit wird möglich!

Leonardo da Vinci, der Künstler-Ingenieur, war bemüht, die Synthese von Kunst und Technologie zu realisieren. Die Futuristen haben erkannt, daß man unter dem Wesen der Maschine ihre Kräfte, ihren Rhythmus und die unendlich vielen Analogien versteht, die die Maschine suggeriert. Und sie haben auch verstanden, daß die so verstandene Maschine die Inspirationsquelle für die Entfaltung und Entwicklung der Bildenden Künste wird. Als die Gutenbergpresse erfunden wurde, ahnte niemand, daß dies ein Anfang einer völlig neuen Ära für den Menschen bedeuten würde. Diese Erfindung ermöglichte eine effektive Weitergabe des menschlichen Gedankenguts. Die Gesellschaft wurde in die Literaten und die Illiteraten aufgeteilt. Mit dieser Aufteilung hingen unmittelbar die damaligen Machtstrukturen eng zusammen. Durch den Zugang zur Information waren die Literaten im enormen Vorteil. Wir befinden uns heute in einer ähnlichen Situation. Es gibt Menschen, die mit dem digitalen Code umgehen können und so eine Welt erfahren, die wesentlich vielschichtiger ist, als die derer, die nicht mit ihm arbeiten. Das bezieht sich nicht nur auf die Informationsmenge, sondern auch auf die Tatsache, daß man ein Teil der Maschine wird und die Maschine wird wiederum ein Teil von uns, wodurch wir eine bis jetzt nicht gekannte Rezeptionserfahrung erleben können. Der Philosoph Villem Flusser sagt, daß alle Revolutionen technische Revolutionen sind. Das bezieht sich immer natürlich auch auf die Kunst, egal ob es die Erfindung der Bronzetechnik, der Farbentechnik, der Photographie, des Films oder eben des Computers war. Aber der Unterschied von damals und heute liegt eben darin, daß die früheren Erfindungen als ein neues Werkzeug erkannt wurden, mit dem man neuartige Artefakte herstellen kann. Das neue Werkzeug befand sich aber immer außerhalb von uns. Es war eben ein Produktionshilfsmittel. Wir konnten nie ein Teil von ihm werden. Mit der Erfindung des Computers ändert sich aber die Situation radikal. Wir werden zu einem Teil des Werkzeugs, der Maschine, und so befinden wir uns plötzlich innerhalb eines Systems, in dem wir eine völlig neue Rolle spielen. Das Paradebeispiel ist die Erfahrung mit der Virtuellen Realität. Wir betreten künstliche Welten und interagieren in ihnen mit anderen Menschen. Wir verabreden uns mit Freunden in einer "Bar". Alle diese Freunde kommen von anderen Orten zu dieser "Bar". Einer kommt aus Leningrad, eine andere aus San Francisco, die nächste aus Sao Paulo, der eine aus Jerusalem, der nächste aus Kyoto usw. Und wir trinken, tanzen, erzählen uns Witze, diskutieren über den Tod, die Liebe, die Kunst und den Sinn des Lebens. Und nach einer Weile vergessen wir, daß wir tausende von Kilometern voneinander entfernt sind und uns in unterschiedlichen Zeitzonen befinden. Die Vorstellung, daß wir alles, was wir in der realen Welt erfahren, auch als Simulation erfahren könnten, empfinden wir als Herausforderung und Bedrohung gleichzeitig. Die interkulturelle Kommunikation, die den Raum und die Zeit hinter sich gelassen hat, ist real geworden. Und während ich hier diese Gedanken formuliere, bin ich gerade wieder ans Netz angeschlossen und ich werde von meinen Netz-Kollegen gebeten, einen Beitrag für ein neues Hypertextbuch zu schreiben, das sie mir über das Computernetz zur Bearbeitung schicken. Und während ich meinen Beitrag zu ihrem Buch schreibe, wird es in realer Zeit von den übrigen Autoren weltweit gelesen. Und wie ich bei meiner Einführung angedeutet habe, hat der Hypertext, der in Form eines elektronischen Buches verfaßt ist, keine lineare Form, das heißt der Text hat keinen Anfang und kein Ende. Man kann überall einsteigen und überall aussteigen. Es verzweigt sich wie ein Baum und weil es permanent im Netz liegt, kann jeder, der einen Zugang zu dem Buch hat, es durch Text und Bilder erweitern und so wächst dieses Buch von Tag zu Tag und so wird es über Jahre gehen, und es wird immer wieder eine neue Form annehmen.

Seit Leonardos Rationalisierung des Seheindrucks ist in der Bildenden Kunst viel passiert. Die vielen Metamorphosen, die sie durchgemacht hat, haben verschiedene Auswirkungen gehabt. Man befreite sich erstmal von der visuellen Abbildthematik, die wiederum befreite die Farbe, die befreite sich dann von sich selbst, weiter befreite sie das Material und schließlich befreite sie sich von den traditionellen Medien wie dem Tafelbild. Und irgendwann wurde die Bildende Kunst reflexiv. So wurde sie ihre eigene Metadisziplin, indem sie sich selbst zum Thema gemacht hat. Das war ein wichtiger Moment, Künstler wie Cézanne, de Chirico, Albers, Magritte, Escher und andere waren an diesem wichtigen Moment beteiligt. Die Bildende Kunst entdeckte sich selbst als einen sozialen Prozeß und sie thematisierte ihre Materialien und ihre Medien. In einem der ersten Animationsfilme des russischen Regisseurs Starewitch aus dem Jahr 1912, drehen tote Ameisen, die Starewitch animiert hat, selbst einen Film. Es geschah zum ersten Mal in der Filmgeschichte, daß das Medium Film sich selbst reflektierte. Die künstliche Intelligenz der Computer geht einen Schritt weiter. Nicht nur, daß sie den Sehprozeß thematisiert, sondern sie ist im Stande, ihn neu zu konstruieren. Die virtuelle Realität ist eben fähig, nicht nur alle anderen Medien zu modellieren, sondern auch solche, die es noch gar nicht gibt. Und man kann sich beispielsweise in einem virtuellen Museum ein Landschaftsbild anschauen, um anschließend in dieser Landschaft selbst herumlaufen zu können. Und genauso kann ein virtueller Maler in seinem eigenen Bild verschwinden und als etwas anderes wieder auftauchen. Es scheint, daß die Realität immer virtueller wird und die virtuelle Welt immer realer wird. Und warum sollte es auch nicht so sein? Wir nehmen die dreidimensionale Welt als selbstverständlich an, obwohl wir sie vierdimensional wahrnehmen müßten, um sie ganz zu verstehen. Und weil wir keinen Sinn für die vierdimensionale Erfahrung besitzen (wir sind nämlich nicht im Stande, den Raum als gekrümmt wahrzunehmen) müssen wir uns mit der Teilrealität, die wir als real ansehen, begnügen. Es ist durchaus möglich, daß wir in der Zukunft mit Hilfe der virtuellen Realität ein kompletteres Weltbild bekommen und erfahren, als das, welches wir bis jetzt haben.

Der materielle Raum der Kunst ist Zug um Zug von der Leinwand des Malers zur Landschaft (land art) und neuerdings vom geographischen Raum zum Raum der Netzwerke erweitert worden. Der Philosoph Jean-François Lyotard sagt, daß die Medienkünste mit dem Zuschauer Verbindungen erzeugen, ohne daß dabei materialisierte Werke in Form von Objekten zustande kommen. Die Werke sind aus "Immaterialien" zusammengesetzt. Und der Philosoph Paul Virilio sagt, daß nach dem Zeitalter der "Repräsentation" das Zeitalter der "Präsentation" kommt.

Die Ästhetik der Kommunikation beschäftigt sich nicht mit der Herstellung von Objekten, sie ist nicht interessiert an konkreten Formen, ihr Thema ist die Raum-Zeit. Das Bild des Malers Kasimir Malewitsch "Der gleichzeitige Tod eines Mannes in einem Aeroplan und in der Eisenbahn" aus dem Jahr 1913 ist eine prophetische Vision, die von Raum und Zeit befreit ist. Das interaktive Teleprojekt "IPI" (International Painting Interactiv) an welchem sich unsere Abteilung für Neue Medien hier in Prag an der Kunstakademie vor zwei Jahren während der "Seagraph" in Chicago beteiligt hat, war ein Versuch, die "Raum-Zeit" neu zu erfahren. Die Künstler konnten aus verschiedenen Ecken der Welt mit Hilfe von leistungsstarken Graphikcomputern (SGI) über das Telefonnetz auf einer großen Projektionswand in realer Zeit ein gemeinsames Kunstwerk kreieren. Die Entmaterialisierung der Kunst findet sich aber auch in Ereignissen, die schon im Mittelalter hier in Prag stattgefunden haben. So hat der berühmte Rabbiner Löw, der unter anderem die Idee der Künstlichen Intelligenz wunderbar in der Golemgeschichte festgehalten hat, eine Situation der Virtuellen Realität kreiert: Während eines Besuches des Kaisers Rudolf im einfachen Haus des Rabbiners vollbrachte er ein Wunder: Er verwandelte sein Haus in ein Schloß, indem er auf die Wände seines Hauses Bilder vom Interieur des Hradschin mit Hilfe seiner Camera Obscura projiziert hat. So entstand für den Kaiser der Eindruck, als befände er sich in einem Schloß. Der virtuelle Raum von damals hat einiges gemeinsam mit den virtuellen Räumen von heute.

Bei einem Besuch des Medien-Künstlers Jeffrey Shaw kürzlich hier in Prag entstand die Überlegung, die absolute Profanisierung des Schriftstellers Franz Kafka zu realisieren. Er schlug vor, in einem der Häuser, in denen Kafka gelebt hat, einen Raum einzurichten, in welchem der Besucher die Möglichkeit hätte, sich mit Hilfe der "Virtuellen Realität-Technologie" in ein Insekt zu verwandeln, so wie es in der Erzählung "Die Verwandlung" beschrieben wird. So würde diese doppelte Metapher eine neue Dimension erreichen. Man könnte tatsächlich die Kafka’sche Idee mit Hilfe des immateriellen Mediums der Virtuellen Realität materialisieren, denn die Erfahrung wäre absolut real. Dieser scheinbare Widerspruch ist ein Umstand, mit dem wir noch umgehen lernen müssen. Sich dem zu verschließen hätte fatale Folgen. Wir befinden uns mitten in einem Abenteuer, um das uns alle früheren Generationen beneiden können. Das amerikanische Magazin Newsweek kündigt in dieser Woche auf seiner Titelseite das Thema der Woche an: Das unterschiedliche Verhältnis von Mann und Frau zum Computer und die daraus resultierenden Folgen. Villem Flusser sagt: "Wir sind nicht mehr Subjekte einer gegebenen objektiven Welt, sondern Projekte von alternativen Welten. Aus der unterwürfigen subjektiven Stellung haben wir uns ins Projizieren aufgerichtet. Wir werden erwachsen. Wir wissen, daß wir träumen.