Vittoria Borsò
Moderne der Jahrhundertwende(n)
Internationaler Kongress an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1998

Festvortrag

portrait

Gianni Vattimo

Die Philosophie und der
Untergang des Abendlandes

In seinen Artikeln verbindet Gianni Vattimo Nachrichten zum aktuellen Tagesgeschehen mit Überlegungen zum zeitgenössischen Leben und zur Krise der neuen Generation. Durch Il pensiero debole und La fine della modernità, zwei programmatischen Aufsatzsammlungen zur italienischen Postmoderne, wurde Gianni Vattimo zu einem der führenden Philosophen auf internationalem Niveau. Mit dem Begriff des "schwachen Denkens" kennzeichnet Vattimo ein philosophisches Programm und einen Denkstil, die der heutigen Bewußtseinslage entsprechen. Sie verabschieden jene Seite der Moderne, welche den Entzug des klassischen Totalitätsdenkens durch neue dialektische Hoffnungen auf das Ganze und durch Fortschrittsprojektionen zu überwinden suchte. Vielmehr kommt Vattimo zurück auf Nietzsches und Heideggers Versuch der Überwindung bzw. "Verwindung" der Metaphysik und verlangt die Verabschiedung von "harten" Kategorien, die den Marxismus ebenso wie den Kapitalismus des 20. Jahrhunderts inspirierten, um sich im Gegensatz dazu auf das Werden und das unaufhaltsame Fließen zu besinnen.

Mit der Zeitlichkeit rekurriert Vattimo auf jene Erfahrung der historischen Moderne, die Kunst und Literatur kritisch gegenüber dem utopischen Fortschrittsprogramm der Modernisierung gestimmt hatte. Das Besondere an Vattimos Rettung moderner Formen ist der Versuch, den Entzug prämoderner Totalitäten und metaphysischer Gewißheiten nicht als Mangel zu deuten. Es ist vielmehr die Normierung des "Werdens" durch die traditionellen, harten Kategorien, die er als Verlust wertet; die Pluralität des Seienden, die Vielfalt der Sprachspiele und Wissensformen sowie die Fragmentierung sind für ihn positiv wahrzunehmende Bestände eines "postmetaphysischen" Zeitalters. Gewiß hat die Philosophie Vattimos die Ablehnung des Einheitsgedankens moderner Utopien mit der Postmoderne gemeinsam. Er unterscheidet sich aber von anderen Denkern der Postmoderne dadurch, daß er die Konzepte der historischen Moderne, wie Subjekt, Geschichte und Sprache nicht verabschiedet oder als funktionslos deklariert, sondern metaphysisch nüchtern denkt, d.h. ohne die (auf den Zeitfluß zurückgehende) Instabilität der Begriffe durch (metaphysisch) harte Kategorien zu überwinden.

Das "schwache Denken" ist somit ein "fröhlicher Nihilismus", der aus der Sackgasse jener Postmoderne führt, welche das Ende der Geschichte, des Subjektes und der Ethik proklamiert hat und somit - im Gegenzug - auch neokonservative Positionen heraufbeschwörte. Vattimo sieht die Gründe für das Unbehagen der heutigen Kultur darin, daß sie noch an "prämodernen" und "modernen" Idealen und Utopien festhält. Ein radikaler Nihilismus, der die Endlichkeit hinnimmt, verliert dagegen die nostalgische Komponente, die zu einem nicht geringen Maße an der Gewalt des 20. Jahrhunderts beteiligt war. In einer Epoche des Wertewandels bzw. einer Wertekrise bietet das "schwache Denken" den Horizont für die sinnvolle Gestaltung der Endlichkeit menschlichen Daseins und Zusammenlebens. Das "schwache Denken" ist der Kunst und der Literatur kongenial. Es beansprucht, dem Geschehen des Lebens näher zu stehen als das metaphysische Denken.

Vittioria Borsò

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Gianni Vattimo und Vittoria Borsò

Ausgewählte Daten zu Gianni Vattimo

Biographische Daten

Gianni Vattimo, geb. 1936 in Turin, studierte in Turin bei Luigi Pareyson, wo er 1959 das Studium abschloß, sowie in Heidelberg bei Karl Löwith und Hans Georg Gadamer, dessen Werke er in Italien bekanntmachte. Von 1964-1969 war er professore incaricato für Ästhetik in Turin. Seit 1982 ist er dort als Professor für Theoretische Philosophie tätig. Als Gastprofessor hat er an verschiedenen Universitäten in den USA gelehrt. Er ist Herausgeber der Rivista di estetica, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats zahlreicher Fachzeitschriften sowie der Accademia delle Scienze in Turin.

Ausgewählte Publikationen

Erschienen sind: Il concetto di fare in Aristotele (1961); Essere, storia e linguaggio in Heidegger, "Filosofia" (1963); Ipotesi su Nietzsche, (1967); Poesia e ontologia, (1968); Schleiermacher, filosofo dell'interpretazione (1968); Introduzione ad Heidegger (1971); Il soggetto e la maschera (1974); Le avventure della differenza (1980); Al di là del soggetto (1981) (dt.: Jenseits vom Subjekt: Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, übers. von Sonja Puntscher Riekmann (1986)); Il pensiero debole (1983) (a cura di G. Vattimo e P. A. Rovatti); La fine della modernità (1985) (dt.: Das Ende der Moderne, übers. von R. Capurro (1990)); Introduzione a Nietzsche (1985); La società trasparente (1989); Etica dell' interpretazione (1989); Filosofia al presente (1990); Oltre l'interpretazione (1994); Credere di credere (1996). Überdies ist Gianni Vattimo Herausgeber der Zeitschrift Filosofia.

Verweise

Gianni Vattimo im Internet